Film
Ray und Liz

Mit „Ray & Liz” re-kreiert der britische Regisseur und Fotograf Richard Billingham den Mikrokosmos seiner Kindheit im sozialen Abseits Birminghams: Erinnerungen zwischen Zorn und Zärtlichkeit, Abscheu, widerwilligem Mitleid und widerspenstigem Stolz. Er inszeniert dieses fragmentarische Familien-Porträt mit verstörender Akribie als Tryptichon äußerer und innerer Zerstörung.
Der Film ist Bestandsaufnahme, ästhetische Spurensuche ohne jede Schuldzuweisung. Wie verändert Armut den Menschen? Lassen die Bilder der eigenen Vergangenheit ihn jemals wieder los, unabhängig davon, ob irgendwann die Flucht gelingt? Der Künstler eröffnet uns einen völlig neuen visuellen Zugang in jene schäbig groteske Welt unerträglicher Gefühlskälte, Einsamkeit und Stumpfsinns.

Ray und Liz sind Billinghams Eltern und dessen bevorzugtes Sujet: er ein schmaler ausgezehrter Alkoholiker, der seine Arbeit verlor, hilflos jeglicher Bürokratie gegenüber, sie eine adipöse gewalttätige Frau mit vielen Tattoos, die ständig stickt oder Puzzles legt. Richard und sein jüngerer Brüder Jason blieben meist sich selbst überlassen. Die grobkörnigen klaustrophobisch surrealen Porträts britischer Unterschicht während der Post-Thatcher Ära machten den jungen Fotographen berühmt, sie waren 1997 Teil von Charles Saachtis YBA Ausstellung ‘Sensation’ in der Royal Academy neben Damien Hirsts in Formaldehyd eingelegten Tigerhai und Tracy Emins Zelt mit den Namen ihrer sämtlichen Liebhaber. Billinghams schonungslose Selbstdarstellung war eine völlig andere, seine Werke wurden für den Turner Preis nominiert, sind heute Teil der ständigen Kollektion in der Tate Gallery London und dem Victoria and Albert Museum.

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Die Aufnahmen in dem Fotoband „Ray’s a Laugh” vermitteln bewusst den Eindrucks zufälliger Schnappschüsse, von rauer Authentizität, Ray sitzt marionettengleich auf dem Boden neben der Toilette, die Beine von sich gestreckt,- draußen im Park, eine Ente paddelt entlang des sonnendurchfluteten Schilfs,- zurück im Wohnzimmer, Ray stolpert, verliert die Balance,- Liz im geblümten Kleid starrt ausdruckslos in die Kamera,- eine schwarzweiß gescheckte Katze fliegt durch die Luft, Ray zuckt zurück. Konträr Stil und Perspektive des Films, was eben uns noch abstieß, entwickelt eigene Magie, fast etwas wie Schönheit. Die erste Sequenz zeigt einen gebrechlichen alten Ray (Patrick Romer), der allein lebt in dem schmuddeligen winzigen Zimmer eines Plattenbaus, kaum noch das Bett verlässt, und wenn, dann meist nur, um aus dem schmalen, schwer zu öffnenden Fenster auf die menschleere Straße zu starren, sie scheint unendlich fern. Einzig verlässliche Verbindung zur Außenwelt: ein klappriges Radio und Sid (Richard Ashton), ein jüngerer Nachbar, der ihn mit billig gebrautem Bier versorgt, die karge Kommunikation zwischen den beiden ist nicht ohne Humor. Gelegentlich schaut Ehefrau Liz (Deirdre Kelly) vorbei, man hat sich getrennt, aber Armut verbindet. Das mit dem Trinken sei eigentlich ihre Schuld, erklärt Ray, zumindest, dass er so viel trinke. Zum Streiten reicht schon längst die Kraft nicht mehr

Die Kamera (Daniel Landin, „Under the Skin”) durchstreift Wohnräume misstrauisch wie fremdes Territorium, konzentriert sich im Close-up auf Gegenstände, Strukturen, Oberflächen wie die vergilbte durchsichtige Spitzengardine oder jene alte Glühbirne, auf der nun eine Fliege landet. Ganz langsam und vorsichtig füllt Ray sein riesiges Glas bis zum Rand mit jener suspekten braunen Flüssigkeit, ähnlich sorgsam hat er früher Liz ihren Becher Tee zubereitet. Flashback zu seinem jüngeren Ich (Justin Smith). Damals bewohnte die Familie noch ein kleines heruntergekommenes Reihenhaus zusammen mit ihren beiden Söhnen, dem 10jährigen Richard (Jacob Tuton) und dem zweijährigen Jason (Callum Slater). Wie üblich sitzt Liz (Ella Smith) am Fenster über ihrer Handarbeit, raucht eine Zigarette nach der anderen, der drahtige Ray werkelt in der Küche. An diesem Tag überlässt man den Jüngsten der Obhut des einfältigen Onkel Lol (Tony Way), die Schwester schärft ihm unter Androhung von Gewalt ein, auf keinen Fall nach den Alkoholvorräten zu suchen, zur Bekräftigung ballt sie die Faust. Kaum aus dem Haus taucht Untermieter Will auf, beschwatzt den übergewichtigen kindlichen Alten, sich volllaufen zu lassen, arrangiert aus purer Boshaftigkeit eine kläglich bizarre Scharade. Lol liegt am Ende betrunken im Erbrochenen, das Gesicht des Kleinen ist schwarz mit Schuhcreme und in die Hand hat Will ihm ein riesiges Brotmesser gedrückt. Verwahrlosung hat viele Formen.

Die letzte Rückblende spielt sieben Jahre später. Bisher war der Handlungsverlauf weniger entscheidend, es sind die Räumlichkeiten, die es zu begreifen und verkraften galt. Richard Billingham lässt die Bilder aufbrechen, zerfallen in viele Einzelteile wie jene Puzzle von Liz. Die Kindern zu jedem Unfug bereit, erleben die engen von Nippes und Müll überfrachteten Zimmer als abenteuerliche finstre Galaxien, hier zwischen mysteriösem Unrat, geheimnisvollen Pullovermustern und abgerissen Tapeten, den Überresten bürgerlicher Existenz, entscheidet sich ihr Schicksal, aufgeben oder kämpfen. Phantasie ist der einziger Fluchtweg aus den Ruin, jeder Tag eine neue verzweifelte Schatzsuche zwischen Schichten von Kartons und einem leeren Kühlschrank. Vor Schmutz starrende Wolldecken erinnern da tröstlich an sanfte Hügellandschaften, überall toben Haustiere herum, machen Dreck und Krach als wären sie in der freien Natur, der Wellensittich schaukelt wild hinter den Gitterstäben, ihn erwartet Schreckliches. Richard nimmt die Familienstreits auf seinem Kassettenrekorder auf, der neunjährige Jason (Joshua Millard-Lloyd) versteckt unterm Bett in einem Glas Schnecken. Aus der Ferne sehen wir Ray und Liz einen Kinderwagen durch den Park schieben, drinnen sitzt ihr Kaninchen. Der Regisseur bringt dem kitschigen Nippes, scheußlichen Kunstblumen und unförmigen Blumenkleidern eine verblüffende Ernsthaftigkeit entgegen, sich wohl bewusst der kritischen Betrachtungsweise des Bildungsbürgertums, geschmacklos lautet deren vernichtendes Urteil, ein weiteres Stigma der Unterschicht. Billingham setzt Zerfall und Hässlichkeit die eigene Kreativität entgegen, als wäre er ein französischer Maler des Impressionismus.

Die Familie musste umziehen in einen anonymes Hochhausblock, die Isolation wächst, man spürt die Bedrohung von außen. Tagsüber schlafen Ray und Liz ihren Rausch aus, es ist als wäre ihr Leben eingefroren. Das Format 4:3 verstärkt das Gefühl von Gefangenschaft, während der Betrachter sich zuweilen als Voyeur fühlt. Jason (grandios Joshua Millard-Lloyd) schwänzt die Schule, stromert durch den Zoo, es ist als könnten die exotischen Tiere ihn besser verstehen, wissen sie doch, was es heißt Tag für Tag eingesperrt zu sein, dem Stumpfsinn ausgeliefert. Die Kamera fährt langsam den Hals der Giraffe hoch, es eine fast zärtliche Bewegung. Nach einem Ausflugs anlässlich des Feuerwerks zur Guy Fawkes Night, kehrt Jason nicht heim. Die ausgelassene Atmosphäre am Lagerfeuer, die Freundlichkeit einer Mitschülerin, etwas bricht in ihm auf, für einen Moment hat er, der Außenseiter, dazu gehört. Er verkriecht sich im nahe gelegenen Holzschuppen, es ist November. Die Mutter des Mädchen findet ihn am nächsten Morgen, er wird gewärmt, getröstet, in den Arm genommen, aufgepäppelt. Es ist das erste Mal in seinem Leben, dass er wirkliche mütterliche Fürsorge erfährt. Wenige Tage später nickt er zustimmend, als ihm der Schuldirektor fast beiläufig eröffnet, dass er in eine Pflegefamilie kommt, die sich besser um ihn kümmern kann. Ray und Liz war die dreitägige Abwesenheit ihres Neunjährigen nicht aufgefallen. Richard (Sam Plant) fragt den Sozialarbeiter, der die elterliche Wohnung kontrolliert, ob er nicht auch eine neue Familie haben könne. Nein, er sei zu alt, wird ihm erklärt, da müsse er nun durch, bald wäre er ja volljährig.

In Interviews sagt Richard Billingham oft, statistisch gesehen müsste er im Gefängnis, tot oder obdachlos sein.

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Originaltitel Film: Ray & Liz

Regie und Drehbuch: Richard Billingham
Darsteller: Ella Smith, Justin Salinger, Patrick Romer, Deirdre Kelly, Tony Way, Sam Gittins
Produktionsland: Großbritannien, 2018
Länge:108 Minuten
Kinostart: 9. Mai 2019
Verleih: Rapid Eye Movies

Fotos, Pressematerial & Trailer: Rapid Eye Movies

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