Film
Capernaum – Stadt der Hoffnung

Beirut. Das Alter von Zain (Zain al Rafeea) wird auf zwölf Jahre geschätzt, genau weiß es keiner. Der schmächtige magere Junge sieht viel jünger aus, aber der Zorn, sein Zynismus ist der eines Erwachsenen. Das Kind illegaler syrischer Immigranten verbüßt eine fünfjährige Haftstrafe, doch in diesem Prozess steht Zain als Kläger vor Gericht, er verklagt seine Eltern, weil sie ihn auf die Welt gebracht haben.
Drei Jahre hat Nadine Labaki für „Capernaum – Stadt der Hoffnung” recherchiert. Die Dreharbeiten begannen kurz nach der Geburt ihrer Tochter Myroon und dauerten sechs Monate. Die libanesische Regisseurin löst meisterhaft die Grenze zwischen Fiktion und Realität auf, dahinter verbirgt sich eine ästhetisch virtuos inszenierte „Mad Max”- Allegorie voll rauer Poesie und fordernder Systemkritik. Erschütternd, herzzerreißend, fern jeder Sentimentalität.

In Rückblenden erzählt der Film Zains Geschichte. Der Junge haust mit seiner Familie in einem der Elendsviertel Beiruts. Die Wohnung ist eng, feucht, dreckig. Die Eltern versuchen mit dem Schmuggel von Drogen ins örtliche Gefängnis etwas Geld zu verdienen. Der Zwölfjährige wird losgeschickt, um in den Apotheken, Tramadol mit gefälschten Rezepten zu erschwindeln. Er beweist erstaunliches Geschick beim Flunkern, bleibt keine Antwort schuldig, ist fast erschreckend überzeugend. Daheim zerstampft die Mutter (Kawthar Al Haddad) die Tabletten, löst sie in Wasser auf. Damit ihr das Jüngste nicht in die Quere kommt, ist es mit einer Kette am Fußgelenk angebunden. Kleidungsstücke werden mit dem drogenhaltigen Sud getränkt und dann getrocknet, beim nächsten Besuchstag im Knast, nimmt der älteste Sohn sie dort in Empfang.

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Neidvoll blickt Zain auf der Straße den Kindern nach, die zur Schule gehen dürfen, er muss in dem Lebensmittelladen von Assad arbeiten, dem das verwahrloste Mietshaus gehört, wo die Familie umsonst Unterschlupf gefunden hat. Der magere mürrische Junge schleppt riesige Kisten, schwere Gasflaschen, liefert Waren aus. Nebenbei verscherbelt er dubiose Drinks an Passanten. Glücklich ist Zain nur in den wenigen Momenten allein mit seiner jüngeren Schwester Sahar (Haita Izam), er fühlt sich als ihr Beschützer. Als die erste Menstruation des Mädchens einsetzt, ist er verzweifelt, er kennt die Konsequenzen, will es um jeden Preis den Eltern verschweigen, wäscht heimlich irgendwo die Shorts der Schwester aus, stopft sein T-Shirt als provisorische Binde in das Höschen. Während all das passiert, starrt der Zuschauer gebannt auf die Leinwand, die Tränen kommen später, Stunden oder Tage danach.

Die Kompromisslosigkeit mit der Nadine Labaki („Caramel”, „Where Do We Go Now?”) das Dasein ihrer Protagonisten schildert, ist in dieser Form ein Novum. Vergessen der italienische Neo-Realismus, wir werden eingeschleust in das düstere mörderische Chaos von Abhängigkeiten, Gewalt und Gleichgültigkeit, dem Gestank der Abflussleitungen, Kreischen, Flüche, Verwünschungen. Die Kamera (grandios Christopher Aoun) verharrt auf Augenhöhe mit den Kindern, nimmt ihre Perspektive ein. Der betrunkene Vater verhökert die Elfjährige für drei Hühner an den um Jahrzehnte älteren Assad. Zain rebelliert, tobt, rastet aus, doch er kann die Heirat nicht verhindern. Auch als Sahar noch oben auf dem Dach des Hauses neben dem Bruder stand und lachte, steckte darin schon unendlich viel Bitterkeit, Strenge, das Wissen um die Ausweglosigkeit ihres Schicksals. Wutentbrannt läuft der Junge von daheim fort, nimmt den Bus, mit dem er und seine Schwester fliehen wollten. Neben ihm sitzt ein kauziger Greis in einem seltsam kläglichen Spider-Man-Kostüm, er nennt sich der Kakerlaken-Mann und steigt bei einem Jahrmarkt aus. Zain folgt ihm.

Die Karussells in den ausgeblichenen Pastelltönen haben etwas Morbid-Verwunschenes wie eine Karikatur von Disneyland, nachts verkriecht sich Zain dort. Selbst wenn er irgendeinen vorpubertären Unsinn anstellt, bleibt sein Gesicht ernst. Vergeblich sucht der Junge in dem Küstenstädtchen nach Arbeit. Hungrig starrt er auf die verlockenden Auslagen der Buden, sein Stolz aber verbietet ihm, die von Fremden unerwartet dargebotene Leckerei zu akzeptieren. Kinder wie er gleichen ziellos umherirrenden Gespenstern, die Eltern haben sich nicht einmal die Mühe gemacht. oder es fehlte oft auch das Geld, ihre Geburt eintragen zu lassen. Und so existieren sie für Gesetz und Gesellschaft nicht, besitzen keinerlei Rechte, auch wenn der Staat sie ihnen bieten könnte wie Schulbesuch, medizinische Versorgung. Stattdessen werden die Kids als billige Hilfskräfte ausgebeutet oder skrupellos verschachert als obskures Objekt der Begierde, viele sterben unbemerkt. Die Mutter ignoriert zwar den Wert von Bildung, von den Extra-Mahlzeiten für Schüler würde auch die Familie profitieren, argumentiert sie, doch der Vater weigert sich strikt. So übernimmt Zain von daheim nur den Kodex des Patriarchats, dessen zwielichtige Ehrbegriffe, aber etwas hat dieser Junge, was den Erwachsenen um ihn herum fehlt, Verantwortungsgefühl.

Bei der Jobsuche lernt Zain die junge Äthiopierin Rahil (Yordanos Shifera ) kennen. Sie arbeitet als Reinigungskraft in Restaurants, illegal, hat keine gültigen Papiere, ihr Baby Yonas (Boluwatife Treasure Bankole) versteckt sie im Einkaufstrolley auf der Toilette. Rahil nimmt den desperaten Zwölfjährigen in ihrer winzigen Wellblechbaracke auf, gibt im zu essen, im Gegenzug passt der Junge tagsüber auf den kleinen Yonas auf. Hier erlebt er zum ersten Mal mütterliche Fürsorge, Zuneigung und Wärme, Herzlichkeit, die Highlights der Kindheit, ein Stück Torte mit einer Kerze darauf, die ausgepustet werden muss, er begreift erst jetzt das volle Ausmaß der Brutalität seiner Eltern. Verzweifelt versucht die junge Mutter Geld zu sparen für einen gefälschten Ausweis, sie will mit ihrem Kind nach Europa. Aspro (Alaa Chouchnieh), der einen Stand auf dem Markt hat, hat ihr Papiere versprochen, aber in Wirklichkeit hat er es auf den kleinen Yonas abgesehen, den er an eine Familie verkaufen will. Immer wieder versucht er die junge Äthiopierin zu überzeugen, dass ihr Sohn bei anderen Eltern ein besseres Leben hätte.

So verzweifelt Rahil auch ist, den Sohn würde sie nie hergeben. Während einer Razzia wird sie verhaftet. Vergeblich wartet Zain auf ihre Heimkehr. Bald ist die Milch fürs Baby aufgebraucht, Yonas schreit, hat Hunger, eine qualvolle Odyssee beginnt. Die libanesische Regisseurin charakterisiert ihren Stil als „der Wahrheit verpflichtet”. Im Film spielt sie die Anwältin des Jungen, alle anderen Darsteller sind Menschen, deren Leben ihrer Filmfigur ähnlich ist, selbst der Richter, somit war Nadine Labaki, wie es sie bezeichnet, die einzige „falsche Note”, hielt deshalb ihren Auftritt so klein wie möglich. Das Wort „play” im Sinne von vor der Kamera spielen, war immer ein Problem für sie, ganz besonders in „Capernaum”, wo absolute Aufrichtigkeit der Schlüssel ist: „Das schulde ich all denen, für die dieser Film als Sprachrohr ihrer Belange dient”, sagt sie im Interview. Es war entscheidend, dass die Akteure die Hölle kennen, die hier geschildert wird, es gibt ihnen die Kraft, die Legitimation, über ihre Anliegen zu sprechen. Der Film soll unter die Haut gehen, ein gängiger Begriff in Filmkritiken, hier aber soll er unter die Haut der Figuren gehen, so Labaki. Realität und Fiktion überschnitten dabei sich immer wieder. Es kam auch während der Dreharbeiten zu Verhaftungen und Abschiebungen.

Capernaum (Capharnaüm), ein Fischerdorf am Nordufer des Sees Genezareth, war nach neutestamentarischer Überlieferung Wohn- und Wirkungsort Jesu. Aus dem Hebräischen übersetzt, bedeutet es auch ungeordnete Ansammlung von Objekten oder Chaos. In diesem Sinne diente es Nadine Labaki als Inspiration. Auf dem Heimweg von einer Party gegen 1 Uhr morgens hielt sie an einer Ampel und sah genau unter ihrem Fenster ein Kind, halb schlafend in den Armen der Mutter, die am Straßenrand saß und bettelte: „Was mich am härtesten traf, war, das dieser Zweijährige nicht weinte. Es schien, dass er nichts weiter wollte, als schlafen. Das Bild seiner sich schließenden Augen hat mich nicht mehr losgelassen... Ich zeichnete ein Kindergesicht, das in die Gesichter der Erwachsenen schrie, als würde es sie dafür verantwortlich machen, es in eine Welt gesetzt zu haben, die es all seiner Recht beraubt.” Das war die Grundlage, von da aus entwickelte sich die Idee für den Film Die Tatsache, dass Zain seine Eltern verklagt, ist, eine symbolische Geste im Namen all der Kinder, die sich nicht ausgesucht haben, geboren zu werden, aufzuwachsen ohne jede Liebe, Fürsorge, nur mit Gewalt, Flüchen, Armut, Elend. Im Gerichtssaal treffen alle Beteiligten auf einander.

Der Zuschauer wird nicht gezwungen über die Menschen zu urteilen. „Im Gegenteil”, so Labaki „Das Gericht dient dazu, die verschiedenen Meinungen zu sehen, zu hören. Wir verurteilen die Eltern, dann verzeihen wir ihnen. Das spiegelt meine eigenen Erfahrungen wider. Konfrontiert mit Müttern, die die Rechte ihrer Kinder vernachlässigen, habe ich mich dabei ertappt, dass ich sie verurteilte. Aber je mehr ich über sie erfuhr, über die Hölle, die sie durchmachen, die Unbeholfenheit und das Nichtwissen, das oft dazu führt, dass sie ihrem eigenen Fleisch und Blut Unrecht tun, war für mich ein Schlag ins Gesicht. Die Idee ist, dass man sich fragt: Wie komme ich dazu, diese Leute zu hassen oder zu verurteilen, über deren Erfahrungen und Alltagsrealität ich nichts weiß.” Das Tribunal hat auch den Zweck, uns mit unserem eigenen Versagen zu konfrontieren, der Unfähigkeit zu handeln im Angesicht solchen Elends. Doch das mit Verzeihen fällt einem schwer, grade weil Zain ebenso wie Rahil Menschen verkörpern, deren Integrität sich nicht zerstören lässt. Sie kämpfen. Der aggressive, wilde Zwölfjährige, setzt alles daran, den ihm anvertrauten Yonas zu beschützen, so wie einst die jüngere Schwester. Diese mitreißende glücklose Odyssee zweier Kinder trifft uns mit ungeheure Wucht, sie hat die Unerbittlichkeit eines Shakespeare Dramas, erinnert zuweilen aber auch an Charlie Chaplins Tragikkomödie „Der Vagabund und das Kind”.

Zain al Rafeea ist atemberaubend als trotziger Held wider Willen, verbittert über eine Kindheit ohne Fürsorge, Zuwendung, nur Tritte, Schläge, Flüche, Verachtung, Ausbeutung. Der Junge ohne Geburtsurkunde fühlt sich ob seiner Ohnmacht als Versager, ihm bleibt am Ende nur die Rolle des Rächers für den Tod seiner Schwester. Noch nie hat ein Film auf so erschütternde Weise, so präzise und intim die verzweifelte Solidarität von Kindern untereinander geschildert. Nadine Labaki benutzt nach eigenen Worten ihren Beruf als Waffe, sie wolle nicht das Schicksal jenes Kindes unter ihrem Fenster beklagen, und sich noch hilfloser fühlen, als sie es ohnehin schon tue. Sie ist zutiefst idealistisch in ihrem Glauben an die Kraft die Kinos. In Cannes erhielt „Capernaum- Stadt der Hoffnung” den Großen Preis der Jury und fünfzehn Minuten anhaltende Standing Ovation, ist nun auf der Shortlist für den Oscar und nominiert für die Golden Globes 2019.

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Originaltitel: Capharnaüm, Cafarnaúm (كفرناحوم)

Regie: Nadine Labaki
Drehbuch: Nadine Labaki, Jihad Hojeily, Michelle Kesrouani, unter Mitwirkung von Khaled Mouzanar
Darsteller: Zain Al Rafeea, Yordanos Shiferaw, Boluwatife Treasure Bankole, Kawthar Al Haddad
Produktionsländer: Libanon, Frankreich, 2018
Länge: 121 Minuten
Kinostart: 17. Januar 2019
Verleih: Alamode Film und Wildbunch Germany

Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright Alamode Film

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