Film
Augenblicke Gesichter einer Reise

Sie sind gewiss das ungewöhnlichste Regie-Duo des französischen Kinos: die 90jährige Filmemacherin Agnès Varda, Ikone der Novelle Vague, deren kreative Energie ungebrochen scheint und der 34jährige Street Artist und Fotograf JR.
Ihr gemeinsamer Dokumentarfilm fühlt sich an wie ein Roadmovie und schildert auch die Entstehung ihrer Freundschaft. In JRs Truck, der einer Kamera mit Rädern ähnelt, begeben die beiden sich auf eine Fahrt quer durch Frankreich, von der Provence bis zur Normandie, um Geschichten und Gesichter zu entdecken und in gigantische Schwarz-Weiß-Porträts an Fassaden, Zügen oder Schiffscontainern zu verwandeln. Sie widmen ihre Kunst Fabrikarbeiten, Briefträger und Kellnerin, den Menschen ohne Macht. Aus Landschaften werden so Bühnen, aus Blicken unvergessliche Begegnungen. Varda und JR verbindet als Grenzgänger zwischen den Genres nicht nur die Leidenschaft für Bilder sondern auch ein Gespür für die Poesie des Moments.

„Wir werden Spaß haben” versichert Varda ihrem Co-Regisseur. „Augenblicke: Gesichter einer Reise” hat die Leichtigkeit der Nouvelle Vague, entwickelt sich für den Zuschauer zum unvergleichlichen Erlebnis wie das spielerische Aufbäumen gegen einen Kapitalismus, der unerbittlich alles verschlingt. Die legendäre Regisseurin begegnet Alter und Untergang gelassen, unterläuft das System mit einem Lächeln. Sie hat von sich selbst einmal gesagt, sie sei keine radikale Rebellin wie ihre Protagonistin in „Vogelfrei“ („Sans toit ni loi“), die sich chronisch verweigert. Für den Film über die rätselhafte Vagabundin Mona (Sandrine Bonnaire) erhielt Varda in Venedig 1985 den Goldenen Löwen. Ähnlich Orson Welles’ Erzählstruktur in seinem Klassiker „Citizen Cane“, lenkte sie den Blick auf das, was andere über die Aussteigerin am Rande der Gesellschaft denken. Wo beginnt das soziale Abseits heute?

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Es geht hinaus aufs Land, in die Provinz. JRs während vieler Projekte erprobter Camion ist Fotostudio und Vergrößerungsapparat zugleich, wie ein Schauspieler weiß der Truck sich in Szene zu setzen, das behauptet zumindest die Regisseurin. Im Norden trifft das Autoren-Tandem auf die letzte Bewohnerin eines Straßenzugs im ehemaligen Bergbaugebiet. Ihr Haus soll abgerissen werden, trotz Räumungsaufforderungen weigert sie sich standhaft, es zu verlassen. Das zerfurchte Gesicht von Jeannine bedeckt bald schon die zweistöckige Gebäudefassade, vermischt sich mit den Strukturen des bröckelnden Steins, in seiner immensen Größe wirkt es mutig, weniger sorgenvoll. Die Bewohner des Dorfes applaudieren, der alten Frau selbst fehlen in diesem Augenblick die Worte. „Wir sind jetzt Freundinnen“, erklärt die Regisseurin. JR und sein Team drucken historische Fotos der Minenarbeiter aus, kleben sie als temporäres Denkmal an verlassene Gebäude. Den Zufall nennt Varda ihren wichtigsten Assistenten, Ideen, Erinnerungen, Biographisches formieren sich zu einer essayistischen Collage über den Wandel der Zeit, eine persönlichen Bilanz ähnlich wie schon „Les Plages d’Agnès” (2008). Die kurzen Interviews gleichen Gesprächen unter Freunden, von berührender Offenheit, sehr einfach, bewusst unspektakulär. Das einander Begreifen läuft über die Ästhetik der Porträts.

Schon der hinreißend gezeichnete Vorspann jongliert mit der Gegensätzlichkeit der beiden Künstler, die so viel verbindet. Im Off erklären sie abwechselnd: „Nein, wir sind uns nicht an der Bushaltestelle begegnet...“ –„Nein, wir sind uns nicht in einer Bäckerei begegnet...”- „Nein, wir sind uns nicht in einer Disco begegnet...”. Dabei ist ganz offensichtlich, dass sie sich jedes Mal nur um Haaresbreite verfehlt haben. Ungeklärt bleibt im Film, unter welchen Umständen sie sich wirklich trafen, im Presseheft heißt es lapidar, die erste Begegnung 2015 habe Vardas Tochter und Produzentin Rosalie arrangiert. Das Duo inszeniert sich als respektvolle Seelenverwandte zwischen Realität und Phantasie, Melancholie und Heiterkeit, gemeinsam ist ihnen die Neugier auf Menschen, das elementare Bedürfnis nach Freiheit, sie möchten die Arbeitsweise des Anderen kennenlernen. Ihre Perspektiven, die Wahrnehmungen von Gegenwart und Vergangenheit ergänzen oder widersprechen sich, zwingen unbemerkt den Zuschauer, selber Position zu beziehen. Völlig ohne Auseinandersetzung oder Reibereien darf keine künstlerische Expedition ihr Ziel erreichen, aber enttäuschen werden die beiden einander nie. Das tut am Ende nur Jean-Luc Godard. „Schmutzige Ratte,” flucht Agnès Varda unter Tränen, als der Weggefährte von einst sie schnöde versetzt. Die dunkle Sonnenbrille des erfolgreichen Hipsters an ihrer Seite, der trotz wiederholter Bitten einen Blick in seine Augen verweigert, hatte sie an Godard erinnert, dessen Brille die Regisseurin 1961 in ihrem Kurzfilm „Les fiancés du pont Mac Donald ou (Méfiez-vous des lunettes noires)” verewigte.

Die Bergarbeitersiedlung ist verlassen, Technik hat in der Landwirtschaft den Menschen ersetzt, der Bauer bewirtschaftet mit einem Hightech-Traktor und Maschinen ganz allein riesige Flächen, er erzählt, wie Kollegen und Hilfskräfte immer weniger wurden, heute ist das Tablet in der Kabine der einzige Kontakt. JR und Varda porträtieren ihn, nun klebt das riesige Abbild des einsamen Helden auf der alten Scheune, die Größe gibt den Menschen ihr Würde zurück, das Gefühl der Selbstbestimmung. Nur Anerkennung kann die gesellschaftliche Isolation durchbrechen. In Le Havre streiken Dockarbeiter gegen die Rationalisierung, ein selten gewordener Akt des Widerstands. Hier im Hafen sind die Ehefrauen wie nicht existent, obwohl sie ihre Männer unterstützen grade in harten Zeiten wie dieser, ein untragbarer Zustand findet Varda, JR fotografiert drei Frauen, die Arbeiter halfen, rote und grüne Container wurden wie Legosteine aufeinander gestapelt und nun prangen dort die überdimensionale Ebenbilder. Beide Künstler lieben Industriegelände genau wie den Strand, in einer abgelegenen Chemiefabrik posiert die gesamte Belegschaft für ein Gruppenfoto. Die Mitarbeiter aus Tag- und Nachtschicht treffen selten aufeinander, hier sind sie vereint, alle Abteilungen und Schichten, selbst Vertreter der Chefetage. Besonders am Herzen liegen der Regisseurin die Ziegen, denen man ihrer Hörner weggebrannt hat. Glücklich entdeckt sie am Ende noch eine Bäuerin, die ihre Ziegen die Hörner lässt und die Melkmaschinen verbannt hat.

An einem Strand in der Normandie kippte vor vielen Jahren ein Weltkriegsbunker von den Klippen, heute eine Art Wahrzeichen. Ganz in der Nähe lebte Vardas Jugendfreund, der provokante Modefotograf Guy Bourdin. 1954 hat sie ihn fotografiert, lange bevor er weltberühmt wurde, sein Porträt passt genau auf den unförmigen grauen Klotz. Trauer überwältigt die Regisseurin, als sein Bild am nächsten Tag schon verschwunden ist, weggewaschen von den Fluten des Atlantiks. „Augenblicke: Gesichter einer Reise” ist ein Film gegen das Vergessen, Agnès Varda will die Erinnerungen nicht unwiderruflich verlieren, JR begleitet sie zum Grab von Henri Cartier-Bresson und zum Termin beim Augenarzt, der Ikone der Nouvelle Vague droht der Verlust der Sehkraft, die Aufnahmen der Untersuchung und Injektion sind schmerzhaft, der Titel des Films bekommt eine ungeahnt tragische Bedeutung. Von unzerstörbarer Lebensfreude aber ist jene Szene, in der JR mit der Neunzigjährigen im Rollstuhl durchs Museum rast, eine Anspielung auf Godards „Bande à part“ (1964).

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Originaltitel: Visages Villages

Regie / Drehbuch: Agnès Varda, JR
Mit JR, Agnès Varda, Jean-Luc Godard
Produktionsland: Frankreich, 2018
Länge: 94 Minuten
Gestartet: 31. Mai 2018
Verleih: Weltkino Filmverleih GmbH

Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright Weltkino Filmverleih GmbH