Film

Der Ornithologe


Sinnsuche als geheimnisvolles Survival-Epos: Regisseur João Pedro Rodrigues ist ein genialer Bilderstürmer in der Tradition Pasolinis. Was als wissenschaftliche Exkursion beginnt, wird bald zur skurril subversiven Odyssee des Magischen Realismus. Es geht um Tod, Auferstehung, Märtyrertum, Erlösung und um Liebe.
Der Autorenfilmer mischt christliche und heidnische Motive, re-kreiert die historische Gestalt des Antonius von Padua mit all deren Widersprüchen, wie es schon Hieronymus Bosch oder Salvatore Dali taten. Rodrigues verhöhnt nicht das Göttliche, glorifiziert nicht den Tabu-Bruch, sondern will nur wissen, wie viel in ihm, dem Künstler, steckt von jenem portugiesischen Heiligen aus dem 13. Jahrhundert, der zu den Fischen predigte. Ästhetisch virtuos legt er den erotischen Subtext frei.

Durch sein Fernglas beobachtet Fernando (Paul Hamy) den Flug der Schwarzstörche und auch die Vögel lassen den Ornithologen nicht aus den Augen. Bereits dieser eher ungewohnte Wechsel von Perspektiven stimmt den Zuschauer auf die bizarr blasphemischen Abenteuer ein, die ihn erwarten. Langsam gleitet der Kajak den Fluss hinab zwischen hohen zerklüfteten Felsschluchten. Die entlegene Gegend Nordportugals ist von überwältigender Schönheit (Kamera: Rui Poças), doch der Friede trügt. Das Boot gerät in eine Stromschnelle, kentert, zerschellt an den Klippen. Fernando verliert das Bewusstsein. Zwei junge chinesische Pilgerinnen ziehen ihn aus dem Wasser. Rührend kümmern sich die fragilen Katholikinnen um den fremden Hünen, gestehen ihm, dass sie sich vor den Geistern des Waldes fürchten. Den nächsten Morgen erwacht der Protagonist halbnackt an einen Baum gefesselt, soll er kastriert werden? In letzter Minuten kann er sich befreien und flieht.  

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Fernando kraxelt durchs Gebirge, schaut im Dickicht verborgen, seltsame Ritualen zu, ein buntes Bacchanal dämonischer Kreaturen. Die Schwarzstörche sind vergessen, er richtet einer weißen Taube den gebrochenen Flügel. Mit der Vergangenheit verbindet ihn nur noch das Handy, wenn es denn funktioniert, die Beziehung mit dem Freund tat es nicht mehr. Aber jener Sergio sorgt sich, will wissen, ob er seine Medikamente regelmäßig nimmt. Wir dagegen erfahren nie, was unserem Helden fehlt, ist es eine psychische oder physische Erkrankung? Vieles bleibt ein Geheimnis, der Ornithologe macht uns irgendwann unmissverständlich klar, dass Dinge existieren, die wir nicht versuchen sollten zu verstehen. Jedenfalls lässt sich so die wundervoll wahnwitzige Logik dieses visuell atemberaubenden Trips unbeschwerter genießen, ein höchst amüsanter Film, der in Locarno Kritiker wie Publikum gleichermaßen begeisterte, er wurde für den Golden Leoparden nominiert und Rodrigues als bester Regisseur ausgezeichnet.  
   
Am Ufer trifft unser Protagonist auf einen gehörlosen Ziegenhirten namens Jesus (Xelo Cagiao), sie haben Sex. Jede Begegnung hat bei Rodrigues etwas revolutionär Absurdes. Eros und Gewalt sind eng miteinander verstrickt, hier nimmt die surreale Abenteuergeschichte ihre entscheidende Wendung, sie hat die Suspense eines Thrillers, doch jede Spur führt in die Irre. Gefahren lauern überall, selbst in jener Umarmung voller Sehnsucht. Zeit und Wirklichkeit lösen sich auf, der Wald wird zum Ort der Offenbarung, oder vielleicht ist er auch nur kollektives Unterbewusstsein verborgener Gelüste und Ängste. Halbnackte Amazonen mit Gewehren preschen auf ihren Pferden heran, sie kommunizieren untereinander auf Latein, sprechen den Ornithologen als Antonius an. Aus dem Beobachter wird ein Handelnder, er verwandelt sich zu dem katholischen Heiligen, seine Rolle übernimmt der Regisseur selber, am Ende begegnet er dem Doppelgänger/Zwillingsbruder von Jesus. Wie die beiden Chinesinnen vorhersagten: „Eines Tages wird er seinen Weg finden.”    

„Der Heilige Antonius ist als Figur in der portugiesischen Kultur und Gesellschaft allgegenwärtig”, schreibt Rodrigues („To Die Like a Man”) in seinen ‚Director’s Notes’: “Während er auf der ganzen Welt zu den bedeutendsten christlichen Heiligen gehört, hat die Aura des Franziskaners und Theologen in Portugal einen besonderen Einfluss. Dies liegt sicher zum einen daran, dass er aus Lissabon stammt, wo er zwischen 1191 und 1195 geboren und auf den Namen Fernando getauft wurde. Aber vielleicht liegt es auch daran, dass sein Leben eines der Reise zu Wasser und zu Lande war- wie das vieler berühmter Landsleute. Wie viele Portugiesen weiß ich, dass Fernandos Boot bei seiner Rückkehr von einer Mission in Marokko von der stürmischen See erfasst und an die Küste von Sizilien getrieben wurde. Von dort machte er sich auf zu seiner legendären Reise bis nach Padua, wo er im Jahre 1231 starb- der Name der Stadt wurde später seinem Heiligennamen beigefügt. Wie jeder andere Portugiese weiß ich genau, zu welchen Anlässen wir ihn feiern, warum wir ihn anbeten, wofür er steht. Ich erkenne ihn in Kirchen und Kunstwerken. Ja, ich spüre seine Präsenz in mir selbst. 

Für uns Portugiesen ist der Heilige Antonius jemand, mit dem wir uns austauschen, mit dem wir über uns selbst nachdenken, dessen Leben und Geschichte wir uns immer wieder zuwenden- aus reiner Neugier, aus großer Sympathie, mitunter auch aus Gräuel. Ich wollte herausfinden, wie der Heilige Antonius in mir existiert. Und ich begann diese Suche sehr offen, ohne großen Sinn für Genauigkeit. Ich wusste, dass der Heilige Antonius die Fähigkeit hatte, alle Sprachen der Welt zu verstehen; dass er einmal einen toten junge Mann mit einem einzigen magischen Atemzug neues Leben eingehaucht hat; dass er das Jesuskind in seinen Armen hielt- eine Umarmung, die er gern geheim gehalten hätte. Ich wusste um seine Begeisterung für Natur und Tier; dass er seine aristokratischen Wurzeln und seinen Reichtum hinter sich gelassen hatte für nichts als die einfachsten, zum Überleben notwendigen Dinge, sein Wissen, seine Weisheit. Ich wusste, dass die Franziskaner sich seiner annahmen, als sein Schiff in Süditalien strandete. Dieses Bild vom verlorenen Schiff, dass das Schicksal seines Passagiers bestimmt, sollte der Ausgangspunkt für meine eigene Geschichte sein.

Auch meine Hauptfigur heißt Fernando, ehe sie zu Antonius getauft wird; das Boot, das von seinem eigentlichen Kurs abweicht; die Fähigkeit, verschiedene Sprachen zu beherrschen. Abgesehen von diesen von Beginn an feststehenden Gemeinsamkeiten, ließ ich meiner Fantasie im Prozess des Drehbuchschreibens freien Lauf. Die Franziskaner aus der Legende wurden zu chinesischen Mädchen, die sich auf ihrer Pilgerreise nach Santiago de Compostela verlaufen haben und Fernando als eine beruhigende, ja heilsame Präsenz erleben. Aus der Umarmung des Jesuskindes wird bei mir eine lustvolle, blasphemische Geste. Auch mein Fernando erweckt einen bereits Totgeglaubten mit einem einzigen Atemzug zu neuem Leben, den junge Tomé. In der Legende spricht der Heilige Antonius mit den Fischen, in meiner Adaption hat Fernando ein sehr spezielles Verhältnis zu den Vögeln. Ich muss gestehen, dass Fernando (...) im Laufe der Geschichte mehr und mehr auch mit meiner persönlichen Geschichte verschmolz. Immerhin lebt er seit langer Zeit in mir – also erwiderte ich den Gefallen und verpflanzte mich ihm bez seinem filmischen Wiedergänger ein. Fernando befindet sich in einem Zustand des Übergangs, seine Identität ist im Wandel begriffen (wie die meisten meiner Figuren). Vielleicht bekommt das Thema eine neue Bedeutung, wenn wir kurz davor sind, 50 zu werden- und über die Leben nachdenken, die wir nicht gelebt haben.

Ich habe Fernando zum Ornithologen gemacht, weil mir selbst Beobachtungen in der Natur und Wanderungen sehr vertraut sind. Lange bevor ich anfing, Film zu studieren, habe ich Biologie studiert und mich auf Tiere spezialisiert. Und natürlich gibt es zwischen Vogelkunde und Film gewisse Gemeinsamkeiten: um Vögel zu beobachten, muss man durch Ferngläser schauen- um Filme zu drehen, durch den Sucher der Kamera. Das Wunder eines Uhus, der über den Nachhimmel fliegt, die Anmut eines emporsteigenden Schwarzstorchs, das plötzliche Auftauchen der Greifvögel: Der Blick durch ein Fernglas verwandelt die Vögel in den Momenten der Beobachtung zu übernatürlichen Erscheinungen, so als wären es kinematographische Vignetten mit dem Zauber von Stummfilmen- faszinierende, aber auch beunruhigende Kreaturen aus einer anderen Welt. Sie sind die Zeugen von Fernandos Geschichte, ähnlich wie die Tiere am Ufer des Flusses in „Die Nacht des Jägers” (1955, einzige Regiearbeit von Charles Laughton Anm. d. Red.). Sie sind real, aber nehmen nach und nach eine magische Bedeutung an. Während sich die Geschichte allmählich entwickelt, wird der Wald immer mehr von verschiedenen Wesen bevölkert. Jedes davon repräsentiert eine andere Episode in der Reise von Fernando/Antonius. (...)

Ich wollte mit dieser Figur spielen, an seinem Furnier kratzen und seine spezielle Schönheit zurückbringen. Während der Diktatur von Salazar wurde er als Symbol für Ehe und Familie etabliert, und diese vollkommen erfundene Repräsentation wirkt noch bis heute nach. (...) In einigen christliche Überlieferungen gilt der Apostel Thomas als Zwillingsbruder von Jesus. Die körperliche Beziehung von Fernando und Jesus ist so unerwartet wie der darauffolgende Mord des einen am anderen. Fernando tötet sein Begehren, um es in der Inkarnation Tomés wiederzufinden. Beide Figuren sind im Wandel begriffen. Sie lösen sich von ihren ersten Identitäten um in eine zweite zu schlüpfen. Vielleicht sind sie noch die gleichen, vielleicht auch Zwillinge voneinander. Am Ende ist da jedenfalls ein Paar, eine Liebe, eine Verbindung zwischen Herr und Schüler, zwischen Liebhaber und Reisegefährten. (...) Homosexueller Sex spiegelt das Heilige, spiegelt das Glück: eine amüsante und notwendige Blasphemie im Angesicht der tragischen und unwahrscheinlichen Existenz, die mich gerührt und inspiriert hat.” 

Die Zeitung ‚Le Monde’ bezeichnet den Schauspieler Paul Amy kürzlich als „ein Instrument des Begehrens”. Er wurde von Emmanuelle Bercot für das Kino entdeckt, als diese den damals bereits 31jährigen als Marco besetzte, jenen Verführer von Catherine Deneuve in „Madame empfiehlt sich”. Im gleichen Jahr spielte Hamy in Katell Quillévérés Film „Die unerschütterliche Liebe der Suzanne”, der die Semaine de la Critique eröffnete, und wofür er als bester Nachwuchsdarsteller nominiert wurde. Er ist unglaublich verwandelbar, jede Facette der Emotion kann er verkörpern von vermeintlicher Unschuld bis zum zutiefst Abgründigen. Sein Gesicht bleibt oft undurchdringlich wie das eines altmodischen Westernhelden. Die körperliche Überlegenheit täuscht, er ist verletzbar, sanft oder bösartig, ihm zu widerstehen scheint unmöglich.  

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Originaltitel: O Ornitólogo
Regie / Drehbuch: João Pedro Rodrigues
Darsteller: Paul Hamy, Xelo Cagiao, Juliane Elting
Produktionsländer: Portugal, Frankreich, Brasilien, 2016
Länge: 118 Minuten
Verleih: Salzgeber & Company Medien
Kinostart: 13. Juli 2017

Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright Salzgeber & Company Medien

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