Film
Axolotl Overkill

Verweigerung als Selbststimmung: „Axolotl Overkill” ist das hinreißend provokante Porträt einer 16-Jährigen zwischen Realität und Rausch: subversiv, surreal, lobenswert unmoralisch, klug, sinnlich, explosiv, mit einer hohen Frequenz von „fuck you all’. Und vor allem ästhetisch atemberaubend.
Regisseurin Helene Hegemann möchte die Verfilmung ihres vor sieben Jahren erschienenen Romans „Axolotl Roadkill” keinesfalls als Coming-of-Age-Story verstanden wissen, ist es doch genau das Gegenteil. Unwiderstehlich: Jasna Fritzi Bauer in der Rolle der tragisch-komischen Rebellin Mifti.

Manche Kritiker macht der Film übrigens höchst aggressiv, zumindest ärgerlich. Dies als Warnung vorausgeschickt. Mifti ist 16, sieht aus wie 12 und verhält sich mit wenigen Ausnahmen wie Mitte 30. Seit dem Tod der Mutter lebt sie mit ihren Halbgeschwistern Anika (Laura Tonke) und Edmond (Julius Feldmeier) in einer Berliner WG. Die ältere Anika neigt zur Hysterie, fühlt sich als Ersatzmutter überfordert, bricht in Tränen aus, als es ihr nicht gelingt, den Teenager zum Aufstehen zu bewegen zwecks anschließendem Schulbesuch: „Ich weiß, dass Dein Leben kacke ist, mein Leben ist auch kacke, das Leben von Justin Bieber war auch kacke, aber der hat sich zusammengerissen und seine Haare gefönt und Millionen verdient.” Sie zerrt die kleine Schwester an einem Bein über den Boden. Die Protagonistin klammert sich an ihr Bett, keift: „Du dumme Schlampe”. Zusammenreißen gehört wahrlich nicht zu Miftis Prioritäten, sie will um keinen Preis erwachsen werden. Unglücklicherweise hat sie an diesem Tag auch noch Geburtstag.

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Egmont bügelt immer irgendwas (wohlgemerkt keine Kleidungsstücke) und bleibt eher im Hintergrund. Der Vater interessiert sich mehr für Kunst als für Menschen, mit seiner attraktiven Freundin hat er sich in eine ‚brutalistische’ Beton-Festung zurückgezogen und hält dort Hof. Terrorismus propagiert er mit leicht affektierter Stimme als zeitgemäßen Karrierezweig, dieser Mann ist zwanghaft um Originalität bemüht wie viele in der Berliner Kultur-Schickeria. Von so einem ist keine Hilfe zu erwarten, wenn man wie Mifti langsam den Halt zu verlieren droht. Der Roman begann scheinbar düsterer. „O.K., die Nacht, wieder mal so ein Ringen mit dem Tod, die Fetzen angstgequälten Schlafes, mein von schicksalsmächtigen Orchestern erbebendes Kinderzimmer und all diese Einbrecherstimmen aus dem Hinterhof, die unausgesetzt meinen Namen schreien.” Im Gegensatz dazu hat “Axolotl Overkill” eine unerwartet klassische Form angenommen, also weniger ‘Stream of Consciousness’ oder Collage, sondern eher eine kontinuierlich erzählte Geschichte mit Rückblendungen, Erinnerungen, Halluzinationen. Unvermittelt tauchen exotische Tiere auf. Alle schwärmen von dem kleinen Pinguin, der nachdenklich über die Holzdielen watschelt. Und selbst Miftis skurrile Lügen nehmen manchmal Gestalt an, auf den Bürgersteigen liegen rechts und links nur Tote. Apokalypse ist angesagt, Hauptsache keine Schule. 

„Vielleicht sollte ich wirklich mal vergewaltigt werden”, sinniert die Protagonistin. Dazu kommt es nicht, stattdessen anonymer Sex mit einem Taxifahrer im Industriegebiet. Dergleichen vollzieht sich mit beängstigender Nonchalance. Grandios Jasna Fritzi Bauer als eine Mifti, die eigentlich grundsätzlich niemanden an sich heranlässt, ängstlich besorgt um ihren Außenseiterstatus. Sie muss immer wieder an Alice (Arly Jover) denken, die souveräne, elegante und schöne Mittvierzigerin, die sie vor ein paar Jahren im Supermarkt kennengelernt hat, an der Tiefkühltruhe mit dem Geflügel. Alice, die unwiderstehliche Femme Fatale, was sie heimlich vertickte, legal war es nicht. Sie scheint unberührbar, überlegen, immer eine coole Reaktion parat. Mifti versucht es zu toppen. Schon herzzerreißend, wie die Kleine sich tapfer schlägt. Vergeblich. Durchliebte Nächte in edlen Hotelsuiten, nur der Moment zählt, nicht der Kater am Morgen danach. Das ist Vergangenheit, Alice verschwunden und Mifti will nur irgendwie ihre Gefühle betäuben. An der Essensausgabe der Schulkantine trifft sie auf Ophelia (Mavie Hörbiger), die verweigert ihr den Nachtisch, weil sie schon einen hatte. Mifti empört: „Sind sie irgendwie gestört oder so?” – „Ach komm halt die Fresse!” – „Steh auf Fotze und verbeug Dich!” – „Bitte?” – „Steh auf Fotze und verbeug Dich. Los.” – Als Antwort fliegen die Spaghetti, beste Voraussetzungen für eine Freundschaft.

Ophelia ist eigentlich Schauspielerin, aber nach einer chaotischen Autofahrt in volltrunkenem Zustand und ohne Führerschein zu Sozialstunden verurteilt worden. Mit einer Rolle als Zwangsprostituierte im “Tatort” hat sie Furore gemacht. Begeistert tauschen sie und Mifti ihre Diagnosen aus: Traumatische Belastungsstörung, Bipolar, Borderline, für die beiden ist das ein Riesenspaß, sie lachen, albern rum, zusammen stürzen sie sich in Partys, Affären, Drogen, eine Halbwelt aus Neonlicht, Stroboskopblitzen und Morgendämmerung. Mifti ist wild, traurig, kokett, schlagfertig, vernünftig, unvernünftig, sie brüllt, kratzt, beißt und lässt sich treiben. Sie lässt sich benutzen und benutzt die Anderen. Mit Verwunderung beobachtet sie die Erwachsenen um sich herum. In ihren Augen sind die nur eines: verzweifelt. Verzweifelt, weil sie fürchten die Welt könnte untergehen, oder grade nicht wissen, was sie anziehen sollen. Wohlstandsverwahrlosung wird zur Endlos-Warteschleife. Mifti kann ein echter Kotzbrocken sein, beinah wörtlich zu nehmen, denn irgendwer hängt hier immer über der Kloschüssel oder ähnlichem. Anmerkung: weniger zu empfehlen die Tragetüten von Chanel aus Papier. ‚Fuck you’ avanciert zur sprachlichen Pflichtkür, hat hunderte verschiedener Bedeutungen, auch der Vater greift es auf, variiert es wieder und wieder mit wechselnder Betonung. Das klingt vielleicht abstoßend, höchst oberflächlich, fast als wäre es Vulgär-Komik im Stil von Jude Apatow, aber es ist genau das Gegenteil. Helene Hegemann und der belgischen Kameramann Manuel Dacosse haben eine wundervolle halluzinatorische Bildsprache mit einem ganz eigenwilligen Rhythmus entwickelt, fragmentarisch, radikal subjektiv. Ungewöhnlich in der Komposition, selbst die Liebesszenen sind Chronik der Entfremdung, kolorierte Seelenlandschaften wie in einem Aquarium. 
 
„Es geht im Buch weniger um eine übergeordnete Geschichte,” erklärt Helene Hegemann, „als um das Innenleben der Hauptfigur, und nicht mal das ist wirklich greifbar, es wird durch Formulierungen spürbar gemacht und nicht durch Plot orientierte, sachliche Informationen. Das Buch war nicht horizontal. Man konnte es auf jeder Seite aufschlagen und anfangen zu lesen, totales Sammelsurium. Mir war klar, dass ich mich für den Film nicht zu sehr an Mifti orientieren darf, die kannte ich ja eh schon. Mehr an den Leuten, denen sie begegnet und die im Roman zu kurz gekommen waren. Mir war “Permanent Vacation” von Jim Jarmusch eine große Hilfe- da läuft ein Teenager durch die Stadt, trifft auf skurrile Personen und beobachte mehr, als dass er handelt, mir gefiel das. “Axolotl Overkill” ist keine Abbildung des Romans, eher der Film zum Buch – man kriegt im Film die Außenwelt geliefert zu dem, was Mifti im Buch nur in ihrem eigenen Kopf mit sich selbst verhandelt.” Selbstanalyse und Bestandsaufnahme sind also abgeschlossen: „Ich traue mich nicht, an morgen zu denken, ich traue mich eigentlich überhaupt nicht zu denken. Mir wurde eine Sprache einverleibt, die nicht meine eigene ist“, schreibt die Protagonistin, „es sind so viele Gedanken da, dass man seine eigenen gar nicht mehr von den fremden unterscheiden kann.” Hier im Film ballert Mifti im Wald herum. 

Eigentlich gibt es niemanden, mit dem sich die jugendliche Heldin identifizieren könnte in diesem Kosmos versnobbter Kaputtheit. Nicht bürgerlich (im Sinne von spießig) sein zu wollen, immer das Gegenteil zu tun, was grade verlangt wird, angesagt ist oder notwendig scheint, das wird unglaublich anstrengend in Zeiten des „Massenzynismus” (Peter Sloterdijk). Also besser keine Erwartungen haben. Wo soll man emotional andocken, jede Attitüde, jeder Modetrend, jede Kunstform ist längst konterkariert, Individualität überholt, Es bleibt Mifti nur der titelgebende Axolotl, jener mexikanische Schwanzlurch mit seinem verstörenden Grinsen, der sein Leben lang im Larvenstadium verharrt. Er metamorphosiert nicht, wird also nie erwachsen. Durch anpassungsfähige Zellen stellt er verletzte Organe und Gliedmaßen wieder her. Es geht im Film nicht um “eine bestimmte Generation oder gar um eine Grenze zwischen Generationen” erläutert Helene Hegemann im ‚Director’s Statement’, „es geht um die Auflösung von Grenzen. Zwischen Geschlechtern, zwischen Arm und Reich, Alt und Jung”. Die Regisseurin ist überzeugt, dass Mifti dieses Leben wirklich gewählt hat. „Sie hängt mit Leuten herum, die genauso funktionieren wie sie und sich von den vorgegebenen Strukturen befreit haben und in dieser Freiheit jetzt auf der Suche nach Liebe und Identität jenseits der biologischen Festlegung und nach Vertrauen und Geborgenheit jenseits von herkömmlichen Regeln der Moral sind.”

„Diese Suche ist das gemeinsame Biotop von charakterlich völlig unterschiedlichen Leuten,” erklärt Hegemann, „Sie spielen mit Knarren und feiern unprätentiös und ein bisschen lebensmüde die Kompliziertheit ihrer Freiheit ab. Dabei reagiert niemand adäquat oder berechenbar auf die Tatsache, dass sie alle nur ein bis zwei Drinks davon entfernt sind, als schizophren zu gelten oder einen Mord zu begehen. Jeder hat eine hermetisch abgetrennte Rolle, die ihm zusteht und in der er sich sehr viel besser zurechtfindet als in seinem sozialen Umfeld. Jedes Individuum läuft als eine Art konkurrenzwirtschaftliche Strategie durch die Gegend. Sie brauchen schwache Bindungen. Und das steht im Widerspruch zum von allen Parteien beweihräucherten Wir-Gefühl, denn Kinder oder Geliebte durch diesen permanenten Kampf mitzuschleifen, ist völlig irrational, fast ein rebellischer Akt. An diesem Phänomen haben wir uns filmisch abgearbeitet in einer Bohème-Szenerie, in der es durch Drogen, Vereinzelungstendenz und Wildheit auf die Spitze getrieben wird.” Die Regisseurin ist, wie allgemein bekannt, die Tochter von Carl Hegemann, dem legendären Dramaturgen der Berliner Volksbühne, der damals eng mit Christoph Schlingensief zusammenarbeitete unter dem Intendanten Frank Castorf. Das war das soziale Umfeld, das Helene Hegemann prägte. Die Eltern trennten sich, Umzug nach Bochum, die Mutter war alkoholabhängig, beging Selbstmord, mit 13 Jahren Rückkehr nach Berlin zum Vater. Damals begann sie mit dem Schreiben, mit 15 dreht sie den 42-Minutenfilm „Torpedo”, der mit dem Max-Ophüls-Preis ausgezeichnet wurde.

„Schreckliche Leben sind der größte Glücksfall”, schreibt Mifti in ihr Tagebuch. „Axolotl Roadkill” wurde mit Lob überhäuft ob als „Stellvertreterroman der Nullerjahre” (das klingt gut) oder „Fräuleinwunder der Kreativszene” (ein Mann wäre garantiert mit einer cooleren Überschrift bedacht worden). Dann der Shitstorm wegen Plagiatswürfen. Helene Hegemann möchte Mifti nicht als ihr Alter Ego verstanden wissen, doch die Parallelen drängen sich auf. Auch sie brach die Schule ab, muss daheim die Hölle durchlitten haben. Wer als Kind mit Hass konfrontiert wird, Aggression, Sucht und Suizid, der entschließt sich, nie mehr einen einzigen Moment seines Lebens zu vergeuden. Miftis gibt es viele, aber nur manchen gelingt es sich abzuseilen, erst innerlich, dann äußerlich. Ab nun fehlt es an Bodenhaftung, mit trockenem pragmatischen Humor wird sich gegen die Verzweiflung gewappnet. Aber ob sie frei sind, die Miftis, ihre Verweigerung selbstbestimmt ist, ich bezweifle es.

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Originaltitel: Axolotl Overkill  
Regie / Drehbuch: Helene Hegemann 
Darsteller: Jasna Fritzi Bauer, Arly Jover, Mavie Hörbiger, Laura Tonke 
Produktionsland: Deutschland, 2016 
Länge: 94 Minuten 
Kinostart: 29. Juni 2017 
Verleih: Constantin Film

Titel: Axolotl Roadkill 
Autor: Helene Hegemann  
Ullstein Taschenbuch Verlag erschienen Juni 2011
208 Seiten 
ISBN 978-3-548-28323-4

Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright Constantin Film

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