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Tangerine LA Film Trailer

Tatort: Straßenstrich in Los Angeles am Heiligabend. Guerilla-Filmemacher Sean Baker präsentiert seine Innenansichten der Transgender-Szene als schwindelerregende Screwball-Comedy und berührende Chronik einer Freundschaft. Ästhetisch radikal, authentisch, wahnwitzig komisch und manchmal unendlich traurig.
Grade aus dem Knast entlassen, muss Sin-Dee Rella (Kitana Kiki Rodriguez) von Kollegin Alessandra (Mya Taylor) erfahren, dass ihre große Liebe, Zuhälter Chester, sie betrogen hat. Was die stolze afroamerikanische Trans-Prostituierte am meisten verletzt, das Objekt der Begierde war eine sogenannte „echte” Frau, und obendrein noch eine Weiße. Wutentbrannt stürmt Sin-Dee davon, um die Missetäter aufzuspüren und zur Rechenschaft zu ziehen.

Eine wundervoll absurde schrille Verfolgungsjagd beginnt. Das scheinbar Nebensächliche erlangt später oft entscheidende Bedeutung. Mit unglaublichem Geschick verflechten Baker und sein Koautor Chris Bergoch in „Tangerine L.A.” Schicksale und Milieus zu einem grellen bonbonfarbenen Schuld- und Sühne-Melodram nach Pop Art-Manier. Sie hatten zuvor lange recherchiert. Die Kreuzung Santa Monica Boulevard / Highland Avenue ist Schnittstelle von Subkultur und Bourgeoisie, Brennpunkt krimineller Aktivitäten und unerfüllter Sehnsüchte. Alessandra beschwört die Freundin keine Szenen zu machen und folgt der unbelehrbaren Rachegöttin nur widerwillig. Der Straßenstrich ist Markt und Bühne zugleich. Sex zu Dumping-Preisen, unerbittliches Feilschen um jeden Handgriff. Selten zuvor hat ein Regisseur den rauen Ton zwischen Freiern und Sexarbeiterinnen so ironisch realistisch umgesetzt. Es lässt einen bisweilen erschaudern, grinsen tut man trotzdem. Das alles ist gnadenlos kläglich und einen Augenblick später heldenhaft glamourös oder zutiefst berührend.

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Beim Drehen setzte Sean Baker („Starlet”) auf größtmögliche Authentizität. Mit seinem hochgerüsteten iPhone 5s kann er auf Tuchfühlung gehen, ist quasi unsichtbar. Inszenierung und Wirklichkeit, Komödie und Gefühlschaos verschmelzen auf frappierende Weise zu herber, fiebriger Poesie. Verzweiflung, Schmerz und Erniedrigung werden hier nicht in triste düstre Farben getaucht, im Gegenteil, Kameramann Radium Cheung pusht in seinen körnigen kontrastreichen Bildern das titelgebende Orangerot bis zum Äußersten. Es brennt sich unauslöschlich in die Erinnerung ein. Mit einem neuen Prototyp von Adapter für an-armorphische Linsen und dem App FiLMiC Pro, aber vor allem durch die aufwendige Postproduktion gelingt dem Regisseur eine perspektivisch ungewohnte Breitwand-Qualität. Die Entscheidung für extreme überzogene Komik als prägendes Stilelement kam von den transsexuellen Hauptdarstellerinnen selbst. Baker hatte sie kennengelernt durch das LGBT-Zentrum in Los Angeles. „Ich vertraue dir”, sagte Kitana Kiki Rodriguez zu ihm, „aber Du musst mir versprechen, die harte Realität da draußen zu zeigen. Diese Frauen stehen da, weil sie es müssen, und ich möchte, dass du es für uns, und die Frauen, die an der Ecke arbeiten, möglichst lustig tust!”. Vieles im Film basiert auf Erlebnissen der Beiden oder denen ihrer Freundinnen.

Alessandra verteilt überall Flyer, an diesem Abend hat sie ihren lang ersehnten Auftritt als Sängerin. Der armenische Taxifahrer Razmik (Karren Karagulian) starrt verdrossen vor sich hin, Festtage sind eine Garantie für höchst nervige Kunden, die mehr kotzen als zahlen, und doch fühlt er sich im Auto wohler als daheim bei Frau, Kind und Schwiegermutter. Weihnachten, das Fest der Liebe, sei nur “eine wunderschön verpackte Lüge” sagt eine der Trans-Frauen. Razmik ist eigentlich ein Familienmensch, aber ihm graut vor dem trauten Weihnachtsfest. Er vergöttert im Geheimen Alessandra, der räumlich und zeitlich begrenzte Sex mit ihr in der Autowaschanlage signalisiert die Einsamkeit und Isolation des Transgender Kosmos. Sin-Dee kidnappt derweil erfolgreich jene unselige Dinah (Mickey O’Hagan), die es gewagt hatte, sich mit Chester einzulassen. Sie ist ein mageres blasses Ding auf Crack, das in einem, zum Mini-Bordell umfunktionierten, Motelzimmer anschafft. Schwitzende, dicke alte Männer wälzen sich da auf dünnen fragilen Mädchen. Ausbeutung, Gewalt, Drogensucht, das Elend überall ist bestürzend und Bakers Film manchmal gnadenlos unsentimental. Er erinnert an den jungen Martin Scorsese.

Die bissigen rüden Wortgefechte der transsexuellen Protagonistinnen entwickeln sich zu atemberaubenden Bombardements, die unerwartet mit stillen, ruhigen, fast ergreifenden Szenen wechseln, die einen verstaubten Vintage-Charme haben. Sin-Dee zerrt die verängstigte Dinah wie eine Kriegstrophäe an den Haaren durch die Straßen, während sie unaufhörlich zetert. “Hält die je die Klappe?” fragt jemand. “Nein, die redet, seit ich sie kenne”, antwortet Alessandra lakonisch. Und doch sind die entscheidenden Momente des Films jene, wo Sin-Dee verstummt wie in dem unspektakulären Nachtclub, wo ihre Freundin auftritt. Niemand ist gekommen außer ihr, im Schlepptau jenes verhärmte klägliche Geschöpf, das sich wahrlich nicht zur ebenbürtigen Gegnerin eignet. Alessandra singt behutsam melancholisch in die Leere hinein: „Toyland, toyland/ Little girl and boy land/ While you dwell within it / You are ever happy there.” Victor Herberts Operetten-Song klingt weniger schmelzend als einst bei Doris Day, doch um vieles herzzerreißender. Grade weil die Sängerin nicht dafür engagiert wurde, das Lokal selber angemietet hat. Irgendwann als alles längst vorbei ist, taucht Razmik auf, einer der immer zu spät kommt.

Amerika, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten? Am Santa Monica Boulevard braucht es Courage zum Träumen, Enttäuschungen sind hier vorprogrammiert, aber die beiden Trans-Frauen wollen sich nicht als Opfer sehen, sie haben ihren Stolz, kämpfen entschlossen um Würde und Selbstbestimmung. Nur was, wenn einen selbst die beste Freundin hintergeht? Wie in einer klassischen Farce treffen am Ende alle Akteure aufeinander, und zwar in dem Donut-Laden, wo alles am Morgen begonnen hatte. Chester (James Ransone) beweist erstaunliche Ruhe, versteht das schmieriges Geschäft mit der Lüge, obwohl sich die Sprüche des Zuhälters kaum von denen eines bürgerlichen Ehemanns unterscheiden, der von seiner Untreue ablenken will. Razmiks diktatorische Schwiegermutter taucht auf, nicht weniger rachsüchtig als einst die betrogene Transgender-Prostituierte, sie will das unsittliche Treiben ihres Schwiegersohns entlarven. „Highlight, highlight, highlight”, predigt Sin-Dee ihrer Freundin beim Schminken. Auf Akzente versteht sich auch Sean Baker. Nach Chaos und Kollisionen geht man auseinander. Es folgt ein kurzer entsetzlich erniedrigender Überfall. Die Art von Demütigung, die sich in ihrer menschenverachtenden Kälte jede Nacht irgendwo ereignet.

Die beiden Protagonistinnen sind ständig in Bewegung. Transgender sein heißt, sich verändern, umwandeln, finden wollen und davon handelt der Film. Hier sind alle irgendwo auf der Suche nicht nur Sin-Dee. Sie ist vulgär, clever, entschlossen, zickig, rücksichtslos aber auch ungeheuer loyal. Sie hat keine Angst vor der Lächerlichkeit, und dazu gehört Mut. Und noch mehr Mut gehört dazu, der besten Freundin zu verzeihen, wenn sie einen hintergangen hat. Die beiden Heldinnen können, wenn es darauf ankommt, zuschlagen wie ein Mann. Doch eigentlich sind sie unendlich fragil. Der bissige schrille Humor ist für sie die einzige Möglichkeit, dieses Leben zu meistern. Klagen ist nicht ihr Ding, wirklich verstehen, können nur sie einander. Diese Nähe ist etwas unendlich Kostbares, das begreift der Zuschauer. Und mit der letzten Szene in einem scheußlichen Waschsalon wird „Tangerine L.A.” zu guter Letzt sogar ein echter Weihnachtsfilm.

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Originaltitel: Tangerine
Regie / Drehbuch / Schnitt: Sean Baker
Darsteller: Kitana Kiki Rodriguez, Mya Taylor, Karren Karagulian, Mickey O'Hagan
Produktionsland: USA, 2015
Länge: 88 Minuten,
Verleih: Kool Filmdistribution
Kinostart: 7. Juli 2016

Fotos & Trailer: Copyright Kool Filmdistribution