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Kind 44 Fim Trailer

Moskau 1953, Stalins letzte Säuberungswelle verbreitet Angst und Schrecken. Der Staatssicherheitsdienst sucht nach Verrätern des Sozialismus. Folter wie Hinrichtungen gehören zum Alltag. Ein ungewöhnlicher Schauplatz für einen opulenten epischen Thriller made in USA. Es geht um eine vermeintliche große Liebe und einen Serienkiller, um Verbrechen als Spiegel der Gesellschaft. Bisher war die politische Ära jener Zeit und auch der Gulag ein Tabu für Hollywood.
Eigentlich wollte Produzent Ridely Scott selbst Regie führen, früh hatte er sich die Filmrechte gesichert von “Kind 44”, dem Debütroman und Bestseller des britischen Autors Tom Rob Smith. Dann aber entschied er sich für den chilenisch-schwedischen Action-Spezialisten Daniél Espinosa als Regisseur. Das Drehbuch schrieb Richard Price.

Leo Demidow (Tom Hardy, “Mad Max- Fury Road”) ist Geheimdienstoffizier, viele fürchten ihn. Brutal und unerbittlich verfolgt er die harte Linie der Partei, wenn er gegen Staatsfeinde ermittelt. Als Waisenjunge überlebte er den Holodomor, die große Hungersnot in der Ukraine Anfang der Dreißiger Jahre. Ihr fielen Millionen von Menschen zum Opfer. Leo kam früh zum Militär, er war es, der die Flagge der Sowjets im Mai 1945 auf dem Berliner Reichstaggebäude hisste. Das Foto des attraktiven Soldaten ging durch alle Zeitungen. Von nun an galt er als Held, machte Karriere und genoss seine Privilegien. Zweifel am Regime kennt er nicht. Doch dann wird die nackte und verstümmelt Leiche eines kleinen Jungen neben den Bahngleisen gefunden. Es ist der Sohn seines Kollegen und besten Freundes. “Unfall” lautet die Erklärung von offizieller Seite, obwohl alles auf einen sadistischen Mord hindeutet. Die Eltern rebellieren, wollen die Wahrheit erfahren und dass der Täter bestraft wird. Leo Demidow beschwört sie zu schweigen. Diese Art von Verbrechen entspricht nicht dem Selbstverständnis der Sowjetunion und gilt als typisch kapitalistisch. “Es gibt keinen Mord im Paradies,” pflegen die Genossen zu sagen. Am Ende gelingt es Leo, den verzweifelten Vater zu beruhigen, aber er selbst kann das tote Kind nicht vergessen.

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Bei einem Einsatz erschießt der fanatische Wassili Niktin (Joel Kinnaman, “Safe House”) vor den Augen ihrer kleinen Töchter ein verängstigtes Bauernehepaar. Ein angeblicher Systemkritiker hatte sich in ihrer Scheune versteckt. Ein Exempel wollte er statuieren. Leo mokiert sich über den übereifrigen feigen Bürokraten, zieht dessen Loyalität ins Lächerliche. Aus Wassilis Bewunderung für den Vorgesetzten wird blinder Hass. Er schwört Rache. Leo beginnt heimlich im Fall des ermordeten Jungen zu ermitteln und muss feststellen, dass dem bestialischen Killer noch andere Kinder zum Opfer gefallen sind. Während eines Verhörs denunziert ein Verdächtiger Leos Frau Raisa, (Noomi Rapace, “The Drop- Bargeld”), sie ist Lehrerin. Generalmajor Kudzmin (Vincent Cassel, “Die Schöne und das Biest” ) verlangt von seinem Protegé Leo, dass er gegen sie zu ermittelt wie gegen jeden anderen Bürger auch, wenn er sich nicht wegen politischer Unzuverlässigkeit verdächtig machen will. Von nun an observiert der Geheimdienstoffizier die eigene Ehefrau. Bald schon beginnt er an ihrer Treue zu zweifeln, ihm selbst gegenüber wie auch dem Regime. Seine Adoptiveltern raten ihm, sie zu denunzieren. Es scheint der einzige Ausweg um zu überleben. Raisa hat zufällig an der Tür gehört, worüber gesprochen wurde. Sie erzählt, dass sie schwanger sei. Leo weigert sich, seine Frau zu denunzieren. Die beiden werden strafversetzt in das ländliche entlegene Volsk, ein finstres Nest, wo Raisa jetzt die Fußböden einer Schule scheuern muss. Leo hat etwas mehr Glück, er trifft auf General Mikhail Nesterov, (Gary Oldman, “The Dark Knight Rises”) einem Mann mit Gewissen, der ihm zwar lange misstraut, ihn dann aber bei seinen Nachforschungen unterstützt. Die Leichen der ermordeten Kinder tauchen in den verschiedensten Teilen des Landes auf, immer an dem Schienennetz der transsibirischen Eisenbahn.

“Kind 44” ist eine faszinierende Mischung aus Psychothriller, Actionfilm und historischem Melodram. Das totalitäre System der Stalin-Ära ähnlich wie die Diktatur Hitlers wurde zum Inbegriff der Schreckensherrschaft. Die dystopischen Romane von Aldous Huxley, George Orwell, Lois Lowry, später dann Veronica Roth und Suzanne Collins haben dort ihren konkreten Bezug. Vielleicht mag manchen das Grauen jener Zeit unwirklich erscheinen wie ein Science Fiction Epos, aber es ist nur zu real. Unsicherheit und Angst lähmt die Menschen. Liebe wird bereits im Keim zerstört: jeder misstraut jedem, jeder hat seine Geheimnisse, versteckt sich, belauert den Freund, Ehemann oder Kollegen als wäre er ein potenzieller Feind, der einen schon bald denunzieren könnte. Hier geht es nicht nur um einen Kriminalfall sondern um ein Netzwerk von Verfolgern und Verfolgten. Verbrechen wird zum Spiegel der gesellschaftlichen Strukturen wie auch der persönlichen Beziehungen. Der Protagonist ist in diesem Moment gezwungen, seine Werte neu zu überdenken. Raisa gesteht ihm, dass sie ihn nur aus Furcht vor ihm, dem Geheimdienstoffizier, in die Heirat eingewilligt hat , sie wagte nicht, nein zu sagen. Auch die Schwangerschaft ist vorgetäuscht. Grandios Tom Hardy als ein Offizier, der anfangs nur die Loyalität gegenüber dem Staat kannte. Seine Gefühle für Raisa verändern ihn, er weiß mit fatalistischer Gewissheit, er kann nie eine Andere lieben trotz seiner Enttäuschung über ihren Verrat. Zum ersten Mal beginnt er die Frau an seiner Seite wirklich zu verstehen. Leo ist unnahbar, verschlossen wie jener Barkeeper, den Hardy in Michael R. Roskams melancholisch mysteriösen Neo-Noir “The Drop” (2014) verkörperte. Die subtile Mimik offenbart seine inneren Kämpfe, er hat früh gelernt, nie Schwäche oder Emotionen zu zeigen. Leo muss sich behaupten in einer Gesellschaft, wo Ehrlichkeit tödlich sein kann. Die verborgene Verletzlichkeit steht in krassem Gegensatz zu seiner körperlichen Stärke und intellektuellen Überlegenheit.

Noomi Rapace in der Rolle der Raisa spielt eine scheinbar sanftmütige, etwas furchtsame Frau, genau das Gegenteil von Lisbeth Salander, dem Mädchen mit dem Drachen Tattoo in “Verblendung” (2009). Ihr Blick sucht in den Räumen immer nach einer Fluchtmöglichkeit, jedes Wort wird hinterfragt, jede Beobachtung archiviert, nur nicht auffallen, wie kann man verschwinden, am Besten sich in Nichts auflösen. Raisa hat überlebt, weil sie nie ihre Gefühle gezeigt hat oder für ihre Überzeugungen eingetreten ist. In ihrem Kopf sieht es aus wie auf einem Kriegsschauplatz, doch all die taktischen Rückzugsmanöver nützten ihr wenig: sie hat dem falschen Freund vertraut und ihrem eigenen Mann misstraut. Nun erkennt sie, er ist nicht der eiskalte Apparatschik, für den sie ihn immer gehalten hat. Plötzlichen besitzen die Beiden nichts mehr außer dem Inhalt ihrer Koffer. Leos Privilegien, Macht und Einfluss sind verloren. In der Verbannung sind die zwei endlich gleichberechtigt. Statt in einer luxuriösen Wohnung wie in Moskau hausen sie in einer heruntergekommenen Kammer. Raisa ist erleichtert, fühlt sich frei. Die Jagd nach dem Serienmörder macht die Eheleute zu Komplizen. Zum ersten Mal haben sie ein gemeinsames Ziel, sind bereit, dafür alles zu riskieren, auch ihr Leben. Folter, wilde Verfolgungsjagden, Wassili hat Killer auf Leo angesetzt, der Thriller wird härter, legt an Tempo zu. Der Zuschauer sieht den Mörder, aber weiß nicht, wer er ist, woher er kommt. Der Leser des Romans dagegen kennt die Gefühle und Gedanken des Täters, ist präsent, wenn er den Magen eines der ermordeten Kinder brät und an seine Katzen verfüttert. Das Buch ist um vieles schonungsloser und krasser als Daniél Espinosas Verfilmung. Auch der Holdomor wird in all seiner Grausamkeit geschildert und das aus der Perspektive eines kleinen Jungen.

Tom Rob Smith war bei Recherchen auf den Fall des Serienkillers Andrej Tschikatilo gestoßen, der in Russland zwischen 1978 und 1990 mehr als 50 Menschen tötete, darunter zahlreiche Kinder. Smith verlegte die Handlung zurück in die Zeit der Stalin-Ära. Die spektakuläre, jahrelang erfolglose Fahndung nach dem Ripper von Rostov war jedoch nur die Inspiration für seinen Roman, nicht das zentrale Thema. “Kind 44” ist der erste Band der Trilogie um den russischem Geheimdienstoffizier Leo Demidow und erschien 2008. Der Thriller wurde in 36 Sprachen übersetzt und erhielt zahlreiche Auszeichnungen (New Blood Dagger, Dileys Award, Anthony Award ua.). Der Autor war geschockt über den Beschluss des russischen Kulturministers, die Premiere des Films kurzfristig abzusagen und “Kind 44” für “untragbar” zu erklären. “Ein Warnschuss wurde abgefeuert, als ob man unmissverständlich klarstellen wollte, dass jeder, der daran denkt, einen Film zu machen, der die Stalin-Ära negativ darstellt, keine Möglichkeit haben wird, in Russland einen Verleiher zu finden.” In den USA wurde Daniél Espinosas Film oft als Propaganda im Stil des Kalten Krieges empfunden. Dass er dort keinen Erfolg hatte, liegt wahrscheinlich an der missglückten Originalfassung: die Darsteller sprechen Englisch mit einem extremen russischen Akzent. Das klingt lächerlich, schräge und zerstört die Atmosphäre völlig. In Europa fielen die Reaktionen positiver auf, bei Publikum wie auch Kritikern

Smith faszinieren totalitäre Systeme, weil sie zum Teil viel über unsere Identität offenbaren: “Wenn einem von der Regierung gesagt wird, etwas ist wahr, aber man weiß genau, dass es nicht stimmt. Wäre man bereit zu behaupten, es sei falsch, obwohl es unweigerlich zur Folge hat, dass man seine Arbeit verliert, die Wohnung, vielleicht von der Familie getrennt wird oder gar sterben muss? Unser Instinkt ist, all dieses zu beschützen. Wir beginnen also aus Selbstschutz eine Reihe von Lügen zu glauben. Was diese Systeme tun: sie schreiben die Realität um. Ich versuche mir vorzustellen, was für eine Art Mensch aus mir geworden wäre unter solchen Bedingungen. Das ist wichtiger, als darüber zu spekulieren, wie Andere in dieser Situation handeln würden. Welche Entscheidungen hätte ich getroffen? Es ist schwer zu beantworten und deshalb ziemlich beunruhigend. Man kann seiner selbst nicht sicher sein, bevor man nicht zu einer derartigen Prüfung gezwungen wurde. In Thrillern schreibt der Autor meist über eine Person, die in Gefahr ist, aber in der stalinistischen Sowjetunion war jeder in Gefahr. Immer. Während man in der Schlange für Brot anstand, konnte ein falsches Wort genügen, dass einen das Leben kostete. Und so wurden plötzlich völlig normale alltägliche Situationen gefährlich. Am Ende dreht sich der Thriller um die gesamte Gesellschaft anstatt um ein Individuum”.

Smith glaubt, wer die Sowjetunion oder die ehemalige DDR aus den Sechziger oder Siebziger Jahren kennt, dem müssten grade jene düsteren, beunruhigenden Szenen nahe gehen: “Ich habe viele Lesereisen durch Deutschland gemacht, um über meine Bücher zu sprechen. Eine meiner beeindruckendsten Veranstaltungen war in Leipzig. Und zwar im ehemaligen Hauptquartier der Stasi. Einige der Zuhörer im Publikum waren älter, um die Sechzig, sie hatten den Polizeistaat selbst erlebt und reagierten mit großer innerer Erschütterung auf die Darstellung von Unterdrückung durch staatliche Gewalt.” In einem entscheidenden Punkt weicht Espinosas Thriller vom Roman ab: Der Killer ist nicht der Bruder des Ermittlers, aber die beiden waren früher als Kinder im selben Waisenhaus: “Das ist eine der fundamentalen Veränderungen,” erklärt der Autor. “Mich interessiert im Film besonders der Moment, als der Mörder unserem Helden nach Jahrzehnten plötzlich gegenübersteht und die beiden in Wirklichkeit gar nicht so verschieden sind, wie wir immer dachten. Der eine tötet im Auftrag seiner Regierung, der Andere tötet aus persönlichen Motiven. Und so ist es für unseren Helden am Ende sehr schwierig, den Täter zu verurteilen.”

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Originaltitel: Child 44
Regie: Daniél Espinosa
Darsteller: Tom Hardy, Noomi Rapace, Gary Oldman, Joe Kinnaman, Charles Dance, Paddy Considine
Produktionsland: USA, 2014 Länge: 138 Minuten
Verleih: Concorde Filmverleih GmbH
Kinostart: 04. Juni 2015

Fotos & Trailer: Copyright Concorde Filmverleih GmbH

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