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DDR-Schlager Weltraum-Fuzzys und Russische Rapper Foto Julia Steinigeweg

Das erste Wochenende nach der Eröffnung des Sommerfestivals auf Kampnagel
„Der Weltraum. Unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr 2200...“ Manchen mögen die Ohren klingen, denn mit diesen salbungsvollen Worten aus dem Off des Weltalls begann ab 1972 jede Folge von „Raumschiff Enterprise“ im ZDF. In Westdeutschland wurde die in den sechziger Jahren erfolglose US-Serie „Star Trek“ innerhalb eines Jahrzehnts zum absoluten Kult, dem bis heute ungezählte Trekkies nacheifern. Über 40 Jahre nach der Erstausstrahlung ist die Serie natürlich vervollständigt worden und mit sämtlichen, damals vom Fernsehen unterschlagenen und den US-Pilotfassungen ergänzt, digital remastert und mit Originaleffekten restauriert.

Ähnliches könnte den Schlagern der DDR aus jenem Jahrzehnt widerfahren, die aus westlicher Perspektive auf der anderen Seite der Mauer so fern wie das Weltall waren. Und die sich womöglich auch selber dort verorteten, so ähnlich wie David Bowies „Major Tom“ im Jahr der Mondlandung, ein Astronaut, der aus unerfindlichen Gründen im Weltall bleiben musste und nicht zurück konnte. Zumindest legt das der Abend „Wir treiben die Liebe auf die Weide“ nahe, einem Konzerthappening auf dem Internationalen Sommerfestival der Hamburger Kampnagelfabrik.

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Carsten „Erobique“ Meyer, Hamburger Spezialist für schräge Diskoabende und Paul Pötsch, Gitarrist der Hamburger Band „Trümmer“, so die Entstehungslegende, fanden in Zürich eine Kiste Schallplatten des DDR-Labels „Amiga“ am Wegesrand, die ihr Ex-Besitzer offenbar für die beiden dort abgestellt hatte. Sie nutzen diese, unter Regie von Lea Connert, der neuen Produktionsleiterin des Sommerfestivals, für einen nicht ganz Ironie-freien Ausflug in das musikalische Erbe der DDR. Von den, meist unnötig verfremdeten historischen Filmschnipseln, die Lea Connert mit Interviews und Lesungen abstruser Politbüro-Direktiven in den Abend gestreut hat, wünscht man sich allerdings mehr und Genaueres. Hier würde sich Materialsuche zur Aufarbeitung wirklich lohnen.

Schon der Titel, dem Nina Hagen-Song „Komm, komm“ entliehen, zeigt die poetisch- dadaistische Dimension der Ost-Schlager. Und dadurch, dass die Band mit Polly Lapkovskaja mit Bass und Stimme, Marcel Römer am Schlagzeug und Sängerin Pola Lia Schulten sich an den ersten fünf Abenden ihrer Uraufführung fünfmal umbenannte, entsteht schon wieder Interpretationsspielraum. Conférencier Bernd Begemann weiß dies wirkungsvoll einzusetzen, wenn er sich mit gut gegelter Tolle im rosa Hemd auf die Bühne schiebt, die Isabelle Kaiser einem schummrigen Tanzpalast unter Glühbirnenbögen nachempfunden hat.

Wer kennt schon im Westen Veronika Fischer, Uschi Brüning oder Holger Biege?
Und doch waren sie es, die dem Druck des sozialistischen Staates nachgaben, „mehr fantasievollere Melodien und Text zu produzieren, die unsere Jugend begeistern“. Unter Ulbrichts Verbot der Beatbands gerieten sie dennoch (oder erst recht?) unter Einfluss (um nur einige relevante Größen der 70er zu nennen) der Beatles, Stones, Led Zeppelin, Bob Dylan, Tina Turner, Stevie Wonder und zählten so zu den ersten Deutsch-Rockern, Deutsch-Songwritern und -Soulmusikern. Hinreißend interpretiert einer der Gäste des Abends, Sydney Frenz, den in der DDR geschätzten ungarischen Unterhaltungskünstler Gjon Delhusa, der 1978 mit „ Sing nur“ einen super Ost-Soul vorlegte.

Während die Schlagerfans in der damaligen Bundesrepublik Tony Marshalls inzwischen MeToo-verdächtige „Schöne Maid“, Rex Gildos kolonialistisch verblendete „Fiesta Mexicana“, oder Cindy und Berts rassistisch fragwürdigen Titel „Aber am Abend, da spielt der Zigeuner“ anhörten, suchte man im Osten nach dem subversiven Ausdruck der unterdrückten Wirklichkeit, der unstillbaren Sehnsucht, Grenzen zu überwinden. Nirgends so schön hör- und nachvollziehbar wie in „Nach Süden“ von der Dresdner Gruppe „Lift“, 1978 auf Platz 28 der DDR Hitparade: „Nach Süden wollt ich fliegen, das war mein allerschönster Traum, hinter den Hügeln wuchsen mir Flügel, um vor dem Winter abzuhauhn“. Mit ihren Cover-Versionen machen sich die Musiker und Gäste des überwiegend westlichen All Star Ensembles mehr als verdient um dieses Erbe, das schon drohte aus dem Orbit der deutschen Musikgeschichte zu verschwinden.

Der inzwischen verstorbene und fast vergessene DDR-Komponist Holger Biege lebte nach eigenen Worten „in einem merkwürdigen Zwiespalt zwischen Hoffnung und Angst, und er war ein gar nicht so schlechter Nährboden für Kreativität“. Erfahren hat er den Verlust des Zwiespalts schmerzlich, nachdem er 1983 im Westen blieb und feststellte, dass Gesellschaftskritik zwar endlich in der Schlagerwelt des Westens angekommen war, aber gleichzeitig der kapitalistischen Verwertung anheim fiel. Die Erfolge der DDR-Stargruppen Puhdys und Karat wurden von Leuten wie Peter Maffay nachgespielt und besser verkauft denn je.

Die Neue Deutsche Welle kam aus den Niederungen des Punk empor mit deutsch singenden Gruppen wie Falco, DAF, Ideal, Extrabreit, Fehlfarben und Trio, und sie wilderten wahrscheinlich gerne in den unbekannten Schlagern der DDR. Die Gruppe DÖF plagiierte mit Annette Humpe und Inga Rumpf ungefragt Bieges Komposition „Küss mich und lieb mich“ und machte daraus das Märchen des kosmischen Wesens „Codo (Ich düse, düse, düse im Sauseschritt)“, das die Liebe auf die Erde zurückbringt. Nach dem Urheberrechtsstreit wurde es still um Biege.

Und mit dem außerirdischen Codo wären wir wieder im All, das auch Peter Schilling 1983 mit „Major Tom (Völlig losgelöst)“ besang, den David Bowie 1969 in „Space Oddity“ erfunden hatte.
Aber was kann man außerhalb der Erde schon entdecken außer sich selbst und seine Grenzen? „Planet Earth is blue and there is nothing I can do“. Dieser Gedanke muss wohl den Kanadier Josh „Socalled“ Dolgin aus Montreal geleitet haben, als er das Setting für seine dritte Sommerfestival-Uraufführung „Space – The Third Season“ entwickelte. Seine Weltraum-Odyssee führt auf den Fuzzy-Planeten, dessen Oberfläche sich kein bisschen von unserem Mainstream-Feelgood-Entertainment unterscheidet.

Dolgin, seines Zeichens Puppenbauer, Rapper, Filmemacher, Zauberer, Cartoon-Zeichner und Komponist macht mit seinem Puppen-Musical aus dem All bereits seit zwei Jahren Furore auf Kampnagel. In Teil 1 verliebt sich Bär bei einem Besuch von außerirdischen Flauschtieren in seinem Wald in Fuzzy Tina, die unter dramatischen Umständen die Erde verlassen muss.

Teil 2: Die gemeinsame Tochter von Tina und Bär, Tammy, kehrt auf die Erde zurück, und findet ihren Vater versklavt mit anderen Tieren in einer Fabrik. Der Wald ist abgeholzt. Alle Tiere werden dank eines findigen Wissenschaftlers an den Ort ihrer Bestimmung zurückgebeamt und sollen wieder aufforsten. Nur Bär und Tammy nicht. Muss man sich Sorgen machen? Droht die totale Infantilisierung aller Macht- und Umweltprobleme durch Eindringlinge aus dem Weltall? Oder kommen Chucky, die Mörderpuppe und Steven Kings Es durch die Hintertür?
Klar, eine Fangemeinde wartet schon auf die Fortsetzung und sorgt für die stets ausverkaufte Halle K2. Vor dem Vorhang macht Dolgin in Clownsmanier den launigen Einstieg und lädt die Zuschauer, nach farbigen Klebern auf den Armlehnen geordnet, zum Mitsingen ein. Auf einer Empore hinter einer durchsichtigen Gaze, die auch als Projektionsfläche für Videos dient, sitzen die Musiker, verstärkt durch das ausgezeichnete Hamburger Kaiser-Quartett, daneben die kanadischen Sänger und Sprecher der Puppen. Die ersten Takte des Mitmachliedes erklingen, und schon bald fühlt man sich angesichts der roten Flauschpuppen, die auf zwei improvisierten Berglandschaften singen und hüpfen, in die Sesamstraße versetzt.

Bär taucht auf, um seine Tina wiederzusehen, und tut prompt das Falsche. Er singt nicht unisono mit den Anderen, sondern mit einer zweiten Stimme. Dies nun ist genau verboten von der Königin, der als Mensch auftretenden Kiran Ahluwalia und ihrem dümmlichen Diener Zog im gelben Puppenkostüm mit riesigem Klappmaulkopf.
Auf der Flucht vor Strafe lernt Bär nun auch die anderen Gruppen der Fuzzys kennen, die Blauen und die Grünen und den blauen Außenseiter Moonie, der nicht singen kann. Moonie und Bär bringen einem grünen Fuzzy bei, dass Umarmungen toll sind und sie singen wieder „in Harmonien“: „A hug is a circuit you complete with a friend“. Moonie entdeckt seine Fähigkeiten als Rapper. Doch die Königin und Zog finden die Ungehorsamen und verhaften Bär.

Es ist vielleicht der einzige überraschende Kunstgriff von Dolgin, dass er Moonie daraufhin gleich von Zog auffressen lässt. Mit diesem ironischen Bruch versinkt das Musical nicht ganz in der kindischen Banalität des Genres und einer netten Happy End-Toystory, die darin gipfelt, dass das Publikum in Terzen singt, die Königin selbst eine zweite Stimme singt, mehrstimmigen Gesang zulässt und ihr in Farben getrenntes Volk wieder zusammenführen will. Cliffhanger: Bär, Tina und Tammy reisen scheinbar versöhnt zur Erde ab.

Trotz hoher Professionalität des 20köpfigen Teams, das offensichtlich seinen Spaß hat, bleibt unbegreiflich, was dieser Abend auf einem Festival zu suchen hat, das allen Ernstes die Zukunft im ästhetischen und inhaltlichen Getümmel der Gegenwart fokussieren und, wie Festivalleiter András Siebold schreibt, die „katastrophalen Zustände in der Zukunft immer als direkte Folge unseres Handelns im Jetzt“ beschreiben will. Da bekommt man direkt Angst vor der Zukunft.

Angst scheint auch das heimliche Thema der sechs Männer von „Vasya Run“ zu sein, die mit „If you Want to Continue“ auf der Probebühne stehen: kahl geschoren, in weißen T-Shirts, Schlabberhosen und Socken, ein jeder hat ein Dreieckstuch über Mund und Nase gezogen. Gefangene? Mystiker? Bankräuber? So kann man bei keiner Demo erkannt werden. Die jungen Russen stammen aus den Randbezirken Moskaus und suchen als anonymes autodidaktisches Street Art Kollektiv nach künstlerischen Ausdrucksformen.

Vasya ist ein Name für einen jungen Erwachsenen in Russland und vielleicht auch für seine Widerständigkeit. In der Intimität des Raumes proben sie choreographische Aufstellungen und sehr langsame chorische Bewegungen. Zum tiefen Dröhnen aus den Boxen sprechen sie gebrochen englische Texte durch ihre Tücher: Über spirituelle Praktiken, wie man sein Selbst finden und stärken kann, oder darüber, wie man einen Platz einnehmen und sich zugleich verbergen kann. Ihre Handhaltungen zeigen Gefühle, es sind Achtsamkeitsübungen des 1949 verstorbenen Esoterikers Georges I. Gurdeff. All das wirkt undurchsichtig und mehrdeutig.

Die Phase der Verinnerlichung geht plötzlich abrupt in lauten russischen Hiphop über. Abwechselnd rappen die Performer, ihre Energie entlädt sich wie aufgestaut in einen aggressiven Tanz, der voll schweißtreibender Bewegungsgewalt ist, dem Publikum bedrohlich nahe kommt, und auch akustisch an die Schmerzgrenze reicht. Sie beschäftigten sich mit dem Konzept der Heldenfigur, sagen sie. Zum Applaus kehren die sechs jungen Männer nicht vor das Publikum zurück.
Am ersten Wochenende wagte diese Performance mit ihrem Ausloten der Grenzen und ihren Irritationen auf jeden Fall den aufregendsten Blick in die Zukunft der Menschheit – aus welch unendlichen Weiten auch immer sie kommen mag.

Internationales Sommerfestival Kampnagel 2019

Weitere Informationen


Abbildungnachweis:
Header: Erobique. Foto: Julia Steinigeweg
Galerie:
01. Carsten "Erobique" Meyer & Paul Pötsch & Lea Connert. Foto: Patricia Paryz
02. und 03. Socalled & Friends: SPACE - THE 3RD SEASON FEAT. KIRAN AHLUWALIA. Fotos: Julia Steinigeweg
04. und 05. Vasya Run: IF YOU WANT TO CONTINUE. Foto: Bruno Simão

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