Bildende Kunst
Helle Jetzig: romantic 2.0. Neue Arbeiten, neue Technik

State Building, Reichstag, Eiffelturm. Ein Kaleidoskop aus Wahrzeichen prunkt hoch am Himmel des Hamburger Hauptbahnhofes, darunter Name und Adresse des Reiseveranstalters.
Tagtäglich füttert uns die Werbung mit Schlüsselreizen, auf die wir konditionierten Medienmenschen anspringen, wie der berühmte Pawlow’sche Hund auf das Klingelzeichen. So ähnlich funktionieren auch die Bilder von Helle Jetzig, die in der Galerie Borchardt in Hamburg zu sehen sind.

Jeder, der schon einmal mit dem Zug gefahren ist, kennt den Effekt simultan wahrgenommener Wirklichkeiten. Draußen fliegt die Landschaft vorbei, derweilen spiegelt die Glasscheibe den beleuchteten Innenraum: das gegenüberliegende Fenster des Abteils, die Menschen, sogar die Landschaft auf der anderen Seite der Gleise. Parallel nehmen wir Versatzstücke dreier Realitäts-Ebenen war, mitunter sogar vier, wenn der kleine „Bruchsicher“-Aufdruck am unteren Rand der Scheibe uns diese als eine Objektebene verdeutlicht. Die durch filmische Überblendungen entstandene Gleichzeitigkeit, an die unser Videoclip-geschultes Auge heute gewöhnt ist, hat Helle Jetzig als ebenso vertraute wie verstörende Momentaufnahme auf die Fläche gebannt.

Auf den ersten Blick spürt man den eigentümlichen Sog, der von seinen suggestiven Fotomontagen ausgeht. Eine Magie, der man sich nicht erwehren kann und die einen unwillkürlich immer tiefer hineinzieht in dieses geheimnisvolle Dickicht aus Formen und Farben, das sich zu sphärenhaft glühenden Stadt- Landschafts-Visionen zusammensetzt. Gewohnt, das Bild vor allem als Abbild zu sehen, laufen wir geradewegs in die Falle, die dieser Grenzgänger zwischen Fotografie und Malerei gestellt hat.

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Helle Jetzig spekuliert mit Wahrnehmungsmechanismen, mit kollektiven Erinnerungsmustern – nur wesentlich differenzierter und im wörtlichen Sinne vielschichtiger, als wir es aus der Werbung gewohnt sind. Spontan meint man seine Sujets wiederzuerkennen, gleichzeitig verhindern subtile Störungen das „Abhaken“ des Werkes. Gezwungenermaßen tastet das Auge Strukturen und Farbfelder ab, diese hochempfindliche Balance zwischen Verortung und Surrealität, die manchmal offensichtlich ist, mitunter aber auch erst sukzessiv zu der Erkenntnis führt, dass Jetzigs Werk nicht der Wirklichkeit, sondern einer ungemein raffinierten Manipulation entspringt. „Ich bringe Bilder aus verschiedenen Bereichen zusammen, die im Prinzip gar nichts miteinander zu tun haben,“ erklärt der Künstler. „Kaum einer hat heute noch die Ruhe, sich ein Bild richtig anzusehen. Alles muss schnell gehen. Die Leute reagieren nur noch auf Chiffren. Diesen Effekt will ich unterlaufen.“

Anfang des 20. Jahrhunderts waren es die Dadaisten, Futuristen und Orphisten, die – begeistert von den Errungenschaften der Technik und dem pulsierenden Leben der Metropolen - die Idee der visuellen Gleichzeitigkeit verschiedener Wirklichkeiten künstlerisch umsetzten. Bahnbrechend wirkte die energiegeladene Eiffelturm-Serie Robert Delaunys, in denen der Franzose erstmals Formen in verschiedene Perspektiven – Ansicht, Aufsicht, Untersicht – auffächerte, Licht und Farbe in prismatische Facetten aufspaltete und dadurch eine bislang unbekannte Bewegung auf der Bildfläche erzeugte. Obwohl sich Delaunay in der Folge vom Gegenstand löste und eine Malerei der „reinen Farbe“ entwickelte, ist seine Erkenntnis: „Farbe ist ihre eigene Funktion; ihre gesamte Bewegung ist in jedem Augenblick präsent, wie in der musikalischen Komposition der Epoche von Bach oder in unserer Zeit guter Jazz“, mit Helle Jetzigs Auffassung verwandter, als es den Anschein haben mag.

Ähnlich wie Delaunay bringt auch Jetzig die Farbe zum Swingen. Nur, dass ein fotografisches Gerüst Takt und Thema des „Boogie-Woogie“ bereits vorgibt. Weiter ist das Ausgangsmaterial für den Künstler nicht von Belang. Helle Jetzig versteht sich als Maler. Was ihn fesselt sind formale Attraktionen, nicht die Bedeutungen der Bauten, deren Namen und Funktionen er oftmals noch nicht einmal kennt. Dennoch arbeitet er nicht gern mit vorgefundenen Dingen. „Ich suche mir die Motive, an denen ich hängen bleibe lieber selbst.“ Und hängen bleibt er an den kompositorischen Qualitäten der Architekturen: Oberflächen, Strukturen, Rhythmen. Das Gleichmaß der Fenster und Fassaden. Die Musikalität, die in den Staffelungen von Schildern oder Schmelztiegeln liegt. Die Dissonanz, die sich durch Verschiebungen von Perspektiven ergibt. „Gebäude kann man wunderbar malerisch modellieren“, erklärt Jetzig seine Vorliebe für Technik. „Bei organischen Formen funktioniert das einfach nicht so gut.“

Trotzdem greift er manchmal auf diese zurück. Während des Kosovo-Krieges entstanden apokalyptisch-giftgelbe Strandszenen, in denen Gruppen nackter Frauen – unberührt von den über ihren Köpfen kreisenden Hubschrauber-Flotten – versonnen aufs Wasser blicken. Jetzigs Frühwerk „Nonnen am Meer“ (1998), eine Reminiszenz an Caspar David Friedrichs „Mönch am Meer“, sind in zweifacher Hinsicht aufschlussreich: Zum einen verraten sie den Romantiker, der sich hinter dem Formalisten versteckt und der zweifellos auch verantwortlich zeichnet für die verführerische Schönheit der Industrie- und Architekturbilder.

Zum anderen wird hier die Wirkung eines Verfahrens offensichtlich, mit dem Jetzig in vielen Werken operiert: Die Vervielfältigung einzelner Motive, wie sie aus der Pop Art hinlänglich bekannt ist. Die Verdoppelung von Gebäuden ist eines der Irritationsmittel, das zu der anfangs erwähnten Verunsicherung des Betrachters beiträgt, der sie zwar sieht, aber nicht realisiert. Dadurch schafft der Künstler eine atmosphärische Dichte, die auf den Betrachter völlig stimmig wirken.

Sind die Fotos erst einmal auf die Papierrollen projiziert und auf flache Holzkästen aufgezogen, beginnt der langwierige Malprozess im Atelier. Je nach Stimmungslage verändert Helle Jetzig die gegenständliche Grundlage, Helligkeitswerte und Plastizität, polarisiert und dynamisiert durch das virtuose Spiel komplementärer Farbklänge (Rot-Grün, Gelb-Violett, Blau-Orange). Oder harmonisiert durch eine bis in die feinsten Nuancen abgestufte Ton-in-Ton-Malerei.

Jedes Bild besteht aus zehn bis zwanzig lasierenden Farb- und transparenten Lackschichten. Jede einzelne wird angeschliffen, bis auch das kleinste Staubkörnchen verschwunden ist und die Motive in der Bodenlosigkeit zu versinken scheinen. Ein Vorgang, der bei Flächen bis zu zwei mal vier Metern über drei Monate in Anspruch nehmen kann.

Erst allmählich erschließen sich Delikatesse und Technik dieser geradezu psychedelischen Farbenpracht, deren phänomenale Leucht- und Suggestionskraft an Traumwelten erinnern – nah und doch ungreifbar. Eine Wirkung, die durch ein zusätzliches Medium noch verstärkt wird. Vor der letzten Schicht setzt Helle Jetzig auch gern Siebdrucke ins Bild, die gleich mehrere Funktionen übernehmen. Zum einen wirkt der Druck wie ein Stempel, als optische Klammer, der einzelne Kompositionselemente, die auseinanderzufallen drohen, zusammenzieht. Zum anderen bringt das in Positiv- und Negativflächen geteilte Motiv einen zusätzlichen Grat an Abstraktion ins Spiel. Und drittens übernimmt er eine ähnliche Rolle wie die immer wieder auftauchenden Ornament- und Schrift-Blöcke, die matt auf der glänzenden Oberfläche zu schwimmen scheinen: Auch der Siebdruck verstärkt den Objektcharakter der Bilder und bricht die Illusion – nur, dass er eine ungleich filigranere Formsprache ermöglicht.

Es ist die unbändige „Lust an malerischen Abenteuern“, die zu der für heutige Begriffe ungewöhnlich altmeisterlichen Arbeitsweise führte. 1956 in Emden geboren, studierte Helle Jetzig von 1978-1984 in Osnabrück, wo er bis heute lebt und arbeitet. Das Studium gab ihm wenig. Er sei, so sagt er mit ironischem Lächeln, „im Grunde ein Autodidakt“. Immerhin bot die Universität die Möglichkeit, uneingeschränkt zu experimentieren. „Die traditionelle Malerei, die dort gelehrt wurde, hat mich nie interessiert. Ich habe schon damals meine Säcke zusammengenäht und Materialschlachten veranstaltet. Das war auch in Ordnung. Ich wurde in Ruhe gelassen.“ Wie breit das stilistische Spektrum des Kunststudenten schon Anfang der 80er-Jahre angelegt war, belegen die unterschiedlichen Bildobjekte, die innerhalb kurzer Zeit entstanden: Von Polke und Richter inspirierte großformatige Rasterbilder einerseits, die informellen Sand- und Sackbilder andererseits. Emil Schumacher und Antoni Tàpies gaben entscheidende Impulse, vor allem aber der „seelenverwandte“ große Experimentator Robert Rauschenberg, dessen stetige Wandlungsfähigkeit bis heute Vorbild für den Osnabrücker ist.

Die Ausschöpfung aller malerischen Möglichkeiten ist auch bei den jüngeren Arbeiten charakteristisch. In der Reduktion der Mittel hat sie sich sogar noch verstärkt.
Vergleichbar mit Rauschenbergs Entwicklung von den kruden, kraftstrotzenden „Combine Paintings“ hin zur subtilen Ästhetik der mit Säure und Siebdruck „bemalten“ Aluminiumplatten, hat auch Helle Jetzig zunehmend auf „Materialschlachten“ verzichtet, um sich ganz auf die Untersuchung von Oberflächenphänomenen zu konzentrieren.

Ein einschneidendes Erlebnis war die New-York-Reise 1995: Der begonnene Dialog zwischen Fotografie und konkreter Malerei führte in Folge zur totalen optischen Verschmelzung – die Fülle New Yorks verlangte förmlich danach.
Helle Jetzig ist ein Kosmopolit: Er reist, wann immer er kann: Arbeitsaufenthalte in Kuba, Arizona, New Mexico, San Francisco, Taiwan und schließlich wieder New York. In Taipeh, erzählt Jetzig, hätten ihn die „banalen, kleinen Dinge des Alltags“ fasziniert. In den Bildern sind sie mit dem analytischen Blick eines Filmemachers fokussiert. So gibt es gleichsam auseinandergezogene Straßenszenen, in denen verschiedene Ausschnitte und verschiedene Vergrößerungen wie die Sequenzen eines Minifilms nebeneinander gestellt sind. Reihen und Blöcke entstehen auf diese Weise, die ihre Spannung aus der formalen Rhythmik zwischen „Totale“ und „Close-Ups“ beziehen.

Aber nicht die Orte allein bestimmen Jetzigs irreale Kompositionen. Es ist vielmehr das Zusammenspiel aller Faktoren, das die künstlerische Entwicklung in durchaus unterschiedliche Richtungen lenkt. In den vergangenen Jahren war es vor allem das Verschwinden der Analogfotografie, die den Umgang mit neuen Techniken vorantrieb. Das wiederum provozierte die Erschließung neuer Inhalte, wie der industrieromantischen Ansichten einer Stahlhütte, die letztlich dem Titel der Ausstellung „romantic 2.0“ zugrunde liegen. Permanenter Wandel gehört einfach zu dem komplexen Oeuvre Helle Jetzigs dazu.
Wie hatte Rauschenberg doch gleich gesagt: „Es macht mir keine Angst, mich zu verändern – tatsächlich macht mir genau das Gegenteil Angst. Wenn man sich nicht entwickelt, dann wird man verrotten.“


Helle Jetzig: „romantic 2.0. Neue Arbeiten, neue Technik“,
zu sehen bis 15. Mai in der Galerie Borchardt, Hopfensack 19, in 20457 Hamburg
Öffnungszeiten: Di-Fr 12-18 Uhr, Sa 12-16 Uhr.
www.galerie-borchardt.de

Bildnachweis: Alle Werke Helle Jetzig. Courtesy: Galerie Borchardt Hamburg