Bildende Kunst
Sammeln und bewahren – Anna Guðjónsdóttir

Sie hatte mit dem Gedanken gespielt Fischerin zu werden und zur See zu fahren, so wie es ihre nordischen Vorfahren getan hatten.
Doch dann entschloss sich die Isländerin Anna Guðjónsdóttir (54) zu reisen und Kunst zu studieren. Sie schiffte sich 1983 auf einem Dampfer Richtung Hamburg ein, wurde drei Jahre später an der Hochschule für bildende Künste bei Franz Erhard Walther aufgenommen und entdeckte hier, wie stark sie die Natureindrücke ihrer Kindheit künstlerisch geprägt hatten. Unter dem Titel „Vitrine“ zeigt Guðjónsdóttir noch bis zum 17. Februar 2013 ihre neuen Arbeiten im Schenefelder Rathaus bei Hamburg. Aber Achtung: Wer diese Ausstellung besucht, wird ebenfalls Bestandteil der Kunst. Passanten nämlich könnten durch die große Fensterfront in den Ratssaal schauen – wie in eine überdimensional große Vitrine.

Als Mitbegründerin der mittlerweile überregional bekannten Galerie für Landschaftskunst (1996) wird Anna Guðjónsdóttir oftmals bei den Feldforschern und Spurensuchern verortet. In der Tat sucht sie nach Spuren, sammelt und bewahrt leidenschaftlich alles, was mit ihrer Heimat zu tun hat. Ein Reisestipendium nutzte sie 2000 zu einer Expedition entlang des Mittelatlantischen Rückens über Island bis nach Spitzbergen. Dennoch will sie sich in „keine Kiste“ stecken lassen. Wenn Anna Guðjónsdóttir etwas ist, dann ist sie Landschaftsmalerin. Oder besser gesagt: Landschaftsraumbildnerin. Eine, die mühelos die Brücke zwischen isländischer Folklore einerseits und Barnett Newman andererseits schlagen kann.

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Während des Studiums malte sie monochrom und lackierte diese Bilder so oft, bis sich die ganze Außenwelt in ihnen spiegelte. Der Zuspruch auf die Lackbilder war enorm, doch ihr fehlte etwas. Sie malte schwarze „Löcher“ auf die Flächen: Krater und Vulkane. Heute füllt sie mehr als acht Meter lange und drei Meter hohe Leinwände mit Landschaften, die teilweise hinter gläsernen Vitrinen zu liegen scheinen. Auch die Vitrinen sind gemalt: in Trompe-l’oeil-Manier. Auf einem Bild ergießt sich ein glutroter Lavastrom Blutadern gleich aus einem Vulkangebirge. Auf einem anderen ragen verloschene Krater wie Spione aus blauem Meer. Beides Zeichen ungebändigter Naturgewalten, einer fremdartig beseelten Welt. Die Vitrinen dagegen stehen für den Versuch, diese Natur zu bändigen. Für Kultur und Wissenschaft, das alte Europa mit seiner Wunderkammer-Tradition. Diese Polarität zwischen Kultur und Natur, alt und jung, verwurzelt und eruptiv, durchzieht Guðjónsdóttirs ganzes Werk. „Brrooooom“ steht in dicken Lettern über einer schwarzweißen Felsenlandschaft. Sie habe die ganze Kunstgeschichte nach visualisierten Geräuschen abgesucht und sei erst beim Comic fündig geworden, erzählt die Künstlerin. Die Einöden Islands seien nämlich keinesfalls so still, wie Fotos glauben machen. Der Wind sei ohrenbetäubend laut. In der Städtischen Galerie Nordhorn hatte Anna Guðjónsdóttir 2002 das Acht-Meter-Bild diagonal in den Raum gestellt und von hinten wie eine Theaterkulisse abgestützt. Wer das „Unsichere Terrain“ auf der Rückseite erobern wollte, musste durch den Reißverschluss gehen, der die Landschaft vertikal zerschneidet.

Das Hineingehen in den Landschaftsraum, das Erkunden des Bodens auf dem man steht, ist ein zentraler Aspekt ihrer Arbeit ist. Bei den Gemälden ebenso, wie bei den realen Vitrinen-Schränken, deren Gläser sie von innen dick bemalt, um dann mit dem Pinsel Bäume oder Berge herauszukratzen. Sie sind voll gestopft mit Landkarten, Steinen oder ausgestopften Vögeln und Mitteleuropäer sehen sogleich Verweise auf die Naturauffassung der Romantik. Früher hätte sie Minderwertigkeitskomplexe gehabt, weil ihr der „europäische Hintergrund“ fehlte, sagt die Künstlerin. Heute sieht sie in dieser „Bildungslücke“ auch als Stärke. Nur so können sich die Erinnerungen, die aus ihr heraus wollen, unverfälscht Bahn brechen. Anna Guðjónsdóttir schaffte es, eine eigenständige, erweiterte Landschaftsmalerei zu etablieren. Ohne den Ballast abendländischer Kunstgeschichte. Für ihre „äußerst reflektierte Auseinandersetzung und eigenständige Form aktueller Landschaftsmalerei“ erhielt sie 2007 den Edwin-Scharff-Preis – den renommiertesten Kunstpreis der Hansestadt Hamburg.


Anna Guðjónsdóttir: „Vitrine“, Rathaus Schenefeld, Holstenplatz 3-5 in 22869 Schenefeld.
Öffnungszeiten während der Ausstellung bis 17.02.2013 : Mo. - Sa. 15:00 -17:00 Uhr, So. 11:00 - 13:00 Uhr, Do. 10:00 - 12:00 Uhr
Veranstalter: Kulturkreis Schenefeld e.V.
Weitere Informationen

 
Bildnachweis:
Header: Einladungskartenmotiv "Vitrine"
Galerie:
01. Anna Guðjónsdóttir vor Werk "Große Vitrine", 2013, Öl auf Nessel und Holz, 332x450cm
02. Eröffnung der Ausstellung
03. o.T. (v.l.n.r: Masse / Weisses Licht / Hauchdünn), 2013, Öl auf Nessel, je 300x150cm
04. o.T., 2010, Öl auf Nessel, 200x300cm. Foto: Jens Rathmann
05. Detail aus 04. Foto: Jens Rathmann
06. Dier Künstlerin vor dem Werk in ihrem Atelier, 2012. Foto: Jens Rathmann.

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