Bildende Kunst
Roberto Matta - Fiktionen

Er spielte nie in der ersten Liga der Surrealisten, dazu war er zu jung, vielleicht auch zu unbequem und einzelgängerisch.
Dennoch gilt Roberto Matta (1911-2002) als der wohl bedeutendste surrealistische Maler nach der Hauptphase dieser Bewegung. Wie visionär der gebürtige Chilene gearbeitet hat, wie unerhört modern, ja geradezu jugendlich seine Kunst auf die Graffiti- und New-Media-Generation von heute wirkt, zeigt derzeit die großen Einzelausstellung „Matta-Fiktionen“ im Bucerius Kunst Forum.
Fremde Galaxien und außerirdische Kreaturen. Comicfiguren und utopische Flugkörper. Chaos und Computerspiele. Physikalische Experimente, alchemistische Labore verrückt-genialer Erfinder. Künstliche Mensch-Maschinen-Wesen, Farborgien, Graffiti. Neonkitsch. Explosionen, Urknall, Neuschöpfung. Aber auch: Blutströme, Nervenbahnen, Atome, Moleküle.

All das schwirrt einem vor den überdimensionalen Formaten von Matta durch den Kopf. Seine phantastischen Bildwelten wölben sich dem Betrachter entgegen, als ob sie ihn einhüllen, regelrecht einsaugen wollten. Befinden wir uns auf einem Trip zu fernen Galaxien? Schweben wir, der Schwerkraft entbunden durch Zeit und Raum? Oder befinden wir uns vielmehr auf einer Reise durch das eigene Ich? Makrokosmos oder Mikrokosmos – bei vielen Bildern weiß man es nicht so recht und genau mit dieser Ambivalenz spielt der Künstler. In Mattas Werk lassen sich viele Einflüsse ablesen. Architektur, Astronomie, Naturwissenschaft und Politik beeinflussen, aber er missachtete alle Gesetze der Perspektive und Geometrie. In seinen amorphen Formen, die ab 1938 entstanden, ging es ihm vielmehr um das innere Wesen der Dinge, um Poesie, um den Ausdruck von Gefühlen. „Es wird nie ein erkennbares Objekt in meinen Bildern geben. Niemals“, schwor er öffentlich. Seine Bilder sollten vielmehr einen Beitrag zur ganzheitlichen Entwicklung des Menschen leisten und dabei auch Angst und Leidenschaft, Wut und Verzweiflung sichtbar machen. „Ich glaube“, so sagte er einmal, „ich habe mir mit meinen Bildern eine Welt, eine Art Universum, mit einem Ritual geschaffen, in dessen Mittelpunkt ich ganz allein stehe, ein wenig so wie Robinson Crusoe“.

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Keine Frage, Mattas Visionen lassen sich keinem Stil einordnen, sie streifen lediglich die vielen Kunstrichtungen, die sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts Bahn brachen. Seine Kunst wirkt ausgesprochen eklektisch. Wie am Computer zurechtgemixt, deshalb wirken sie auch so ungeheuer aktuell. Surrealismus und Kubismus, Comic und Informel, abstrakten Expressionismus und Action Painting – alles ist mit allem vermischt und das auch noch zum Teil in schreiendgrellen, fluoreszierenden Bonbonfarben.

In Santiago de Chile als Nachfahre einer wohlhabenden baskischen Familie geboren, studierte Roberto Sebastán Antonio Matta Echaurren, wie er mit bürgerlichem Namen hieß, erst einmal Architektur, ehe er 1933 seine Heimat verlässt. Den jungen Architekten zieht es nach Europa, wo es in den 30er-Jahren mächtig brodelt - und das nicht nur in der Kunst. Die Faschisten sind an die Macht, der Widerstand formiert sich, die geistige Elite - bildende Künstler, Literaten, Philosophen und Wissenschaftler - vernetzen sich international, noch ganz ohne Facebook. Matta arbeitet nun in Paris, bei Stararchitekt Le Corbusier, merkt aber schnell, dass ihn die bildende Kunst viel mehr interessiert, als Statik und Wohnungsbau. An der Seine stößt er zum Kreis der Surrealisten, in Madrid lernt er den Schriftsteller Federico Garcia Lorca kennen, der ihm ein Empfehlungsschreiben an Salvador Dali mit auf den Weg gibt. Dali soll dem jungen Kollegen dann geraten haben, seine vielen baskischen Namen abzulegen und sich kurz und bündig Matta zu nennen, sonst würde das nichts werden mit der Karriere als Künstler. Mattas Malweise – er trug die Farbe mit den Fingern auf – wird von den Kollegen als besonders authentisch und spontan geschätzt. Die Surrealisten wollen das Denken ausschalten, um das Unbewusste ohne Kontrolle zum Ausdruck zu bringen und Matta entwickelt die écriture automatique auf individuelle Weise weiter. André Betron schwärmt von Mattas „völlig neuartigen Farbenskala“ und behauptet, es sei „die faszinierendste, die uns seit Matisse begegnet ist“. Und Marcel Duchamp bezeichnet den Chilenen gar als „tiefsinnigsten Maler seiner Generation“.

Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges emigriert Matta 1939 in die USA, wird in New York zentrales Bindeglied zwischen den Surrealisten und den Vertretern des Abstrakten Expressionismus um Jackson Pollock und Robert Motherwell. Nun war nicht mehr Paris, sondern New York das Zentrum der Surrealisten, viele waren nach der Besetzung Frankreichs durch die Deutschen in die USA geflohen, u.a. André Bréton, Marcel Duchamp, Max Ernst und Yves Tanguy, der für Matta immer eine besonders wichtige Rolle spielte. Matta avanciert rasch zum Sprachrohr der Gruppe, 1948 kommt es jedoch zum Bruch, der Künstler verlässt New York, reist erst nach Chile, um sich dann wieder in Europa niederzulassen. Erst Rom, dann Paris, schließlich wieder Rom.

Die erste große Retrospektive findet im New Yorker Museum für Moderne Kunst 1957 statt, später verschafft ihm die dreimalige Teilnahme an der Kasseler documenta (1959, 1964, 1977) internationale Aufmerksamkeit. Dennoch blieb der Künstler, der fünfmal verheiratet war, sechs Kinder hatte und sich gern als „kubanisch-algerischer Franzose mit Wohnsitz auf der Erde“ bezeichnete, Zeit seines Lebens relativ unbekannt. Nun, zehn Jahre nach seinem Tod, mag die Ausstellung im Bucerius Kunst Forum dazu beitragen, ihm den Platz in der Kunstgeschichte zu verschaffen, der ihm gebührt.


„Matta. Fiktionen“. Noch zu sehen bis zum 6. Januar 2013 im Bucerius Kunst Forum, Rathausmarkt 2, 20095 Hamburg.
tägl. 11-19 Uhr, Do bis 21 Uhr. Erwachsene 8 Euro, ermäßigt 5 Euro, Kinder unter 18 Jahren frei.
Ein Katalog ist erhältlich. Alle Infos zu Begleitveranstaltungen unter www.buceriuskunstforum.de

Fotonachweis Matta (1911-2002):
Header: Ausstellungsansicht "Matta. Fiktionen". Foto: Ulrich Perrey
Galerie:
01. L´Impencible, 1957, Privatsammlung, ©VG Bild-Kunst, Bonn 2012
02. Théorie de l’Arbre, 1941, Privatsammlung, ©VG Bild-Kunst, Bonn 2012
3. Les Témoins de l’univers, 1947, Privatsammlung, ©VG Bild-Kunst, Bonn 2012
4. Les Grandes Expectatives, aus der Werkgruppe Le Honni Aveuglant, 1966, Museo Thyssen-Bornemisza, Madrid, ©VG Bild-Kunst, Bonn 2012
5. Ilumínense los unos a los otros porque es siempre la primavera vez, 1970, Privatsammlung, ©VG Bild-Kunst, Bonn 2012
6. Les Plaisirs de la présence, 1984, Privatsammlung, ©VG Bild-Kunst, Bonn 2012
7. und 8. Ausstellungsansicht "Matta. Fiktionen". Foto: Ulrich Perrey