Bildende Kunst
Das Museum der Moderne in Salzburg zeigt bis zum 24. Juni 2012 die Ausstellung „Dieter Roth, Selbste“

Das Museum der Moderne in Salzburg zeigt bis zum 24. Juni 2012 die Ausstellung „Dieter Roth, Selbste“.
Im Fokus der Retrospektive stehen die Selbstbildnisse des Künstlers. „Selbste“ spannt einen Bogen von seinen Frühwerken bis zu den Videoinstallationen der Jahre 1997 und 1998.

Das Salzburger Museum zeigt neben den frühen Selbstbildnissen auch Arbeiten der 1970er-Jahre. Ironisch, radikal und selbstkritisch reflektiert Roth das eigene Ich, sei es in seiner Plastik, Malerei und Druckgrafik oder in den Fotografien und Filmen. Auf der einen Seite demontiert er das eigene Individuum, auf der anderen Seite setzt er sich selbst als „Kunstwerk“ in Szene. Zu den frühen Arbeiten gehört „Portrait of the Artist as Vogelfutterbüste“, in dem er sich als alten Mann inszeniert. Aus Schokolade gegossen und mit Vogelfutter vermischt, sollte das Porträt im Garten aufgestellt und von Vögeln gefressen werden. Ein ironischer Hinweis auf den Roman von James Joyce „Portrait of the Artist as a Young Man“. Die Tagebücher, in denen er dokumentarisch sein Leben festhält, sind prall gefüllt mit Selbstbildnissen. Höhepunkt der Ausstellung ist die Videoinstallation „Solo Szenen“ aus den Jahren 1997 und 1998. Auf über 120 Bildschirmen flimmern sehr intime Szenen, die seinen desolaten Zustand während der Zeit der Alkohol-Abstinenz widerspiegeln. Die Aufnahmen zeigen den Künstler in seinen Ateliers in Island, Hamburg und Basel: lesend, arbeitend, schlafend, seine Wäsche zusammenlegend, aufs Klo gehend oder nackt in der Dusche stehend. Die Dokumentation, eine Art Lifeshow, entstand vor seinem plötzlichen Tod.

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Aber, Salzburg ist für Norddeutsche weit entfernt. Allen Liebhabern der Kunst von Dieter Roth sei daher ein kleines Privatmuseum in der Abteistraße 57 in Hamburg empfohlen. Das Museum besitzt nicht nur ein umfassendes Gesamtwerk des Künstlers, sondern präsentiert die Exponate auch in der authentischen, von Roth ausgewählten Inszenierung. Die Sammlung wird heute von der „Dieter Roth Foundation“ verwaltet.

Während die Salzburger Ausstellung die Selbstbildnisse fokussiert, geben die Exponate im Dieter Roth Museum in Hamburg einen Einblick in das facettenreiche Gesamtwerk des Künstlers. In den 1970er-Jahren lernen sich der Hamburger Anwalt Philip Buse und Dieter Roth kennen und schätzen. Ihre Freundschaft soll fast dreißig Jahre dauern. Buse wird sein eifrigster Sammler und sein Mäzen. Auf einem in Alsternähe liegenden Grundstück plant er einen Museumsneubau, der einen Überblick über Roths künstlerisches Schaffen zeigen soll. Doch dieses Projekt wird verworfen, denn der Künstler ist begeistert von dem dort stehenden maroden Kutscherhaus, dass er als „Schimmelmuseum“ und Schokoladenlabor annektiert. Von 1991 bis 1998 hat er hier gekocht, gebrodelt, experimentiert und gegossen. Das Schimmelmuseum wurde schließlich 2003 wegen Baufälligkeit abgerissen.
Buses umfangreiche Kunstsammlung wird stattdessen in einer Villa in der Abteistraße untergebracht. Die Exponate hängen in den Kanzleiräumen und den privaten Räumlichkeiten. Ein kleines Künstlermuseum – nur mit den Werken Dieter Roths entsteht. Die Räume im Souterrain – hier war ursprünglich das Atelier und die Wohnung des Künstlers – werden heute als Büro der Foundation genutzt. Noch vor Roths überraschendem Tod, 1998, gründen Sammler und Künstler die „Dieter Roth Foundation“, welche heute die umfangreiche Präsentation von etwa 500 Originalen, 1.500 Grafiken und Skizzen sowie das gesamte literarische Werk verwaltet.

Auf den vier Etagen der Stadtvilla hat Roth seine Werkschau chronologisch geordnet. Das Dachgeschoss gibt einen Überblick über seine konstruktivistischen und kinetischen Werke der 1950er-Jahre. Faszinierend sind die Dreh-Rasterobjekte. Ein Objekt besteht aus zwei drehbaren Scheiben, einer Holzscheibe mit linearen, geometrischen Strukturen und einer bemalten Glasscheibe. Ein kleiner Dreh und die rotierenden Muster beginnen ein flirrendes optisches Spiel.

Das darunter liegende Stockwerk präsentiert Roths ephemere Objekte aus den 60er-Jahren. „Löwenselbst“ zum Beispiel ist eine fast vier Meter lange Zinkwanne mit diversen Löwenköpfen aus Schokolade. Oder „Kleiner Gartenzwerg“: Ein Kunststoffgartenzwerg ist in einem runden Block aus Schokolade eingegossen. Nur seine rote Zipfelmütze schaut heraus. Damit kein Ungeziefer sich an dem süßen Material delektieren kann, sind die Objekte in Glas eingeschlossen und mit der chemischen Keule konserviert. „Fruit of a crash for G+J“ ist ein zweiseitiges Schimmelobjekt. Speisereste und Geschirr sind zwischen zwei Glasplatten mit Eisenrahmen geordnet. Durch Scharniere an einer Holzleiste befestigt, ist es schwenkbar. Mit seinen „Literaturwürsten“ nimmt Roth die schreibende Zunft ironisch aufs Korn. Artikel aus dem Spiegel oder der Illustrierten Quick, aber auch Romane von Günter Grass und Martin Walser werden im wahrsten Sinne des Wortes verwurstet: in Streifen geschnitten, vermischt mit Gewürzen und Fett ist diese Wurstmasse in Därme gepresst worden und mit Namen und Titeln etikettiert.

Gemälde und Assemblagen aus den 70er-Jahren sind auf der ersten Etage zu besichtigen. Einige Exponate verweisen auf die Zusammenarbeit mit anderen Künstlern. Bedrückend ist „Tibidabo – 24 Stunden Gebell“, in der Roth das Gekläff von Hunden in einem Tierheim auf dem Monte Tibidabo in der Nähe von Barcelona aufgenommen hat und das er mit etwa eintausend Fotografien der Vierbeiner ergänzt.

In den Kanzleiräumen im Parterre hängen und stehen weitere Arbeiten des Künstlers aus den späteren Jahren. Interessant sind seine großformatigen „Kleiderbilder“. Es sind Assemblagen aus Schuhen, Kleidungsstücken und Abfall, die er auf Sperrholzplatten arrangiert und fixiert, mit Leim übergossen und nachträglich koloriert hat.

Der Schweizer Dieter Roth (1930-1998) ist ein unglaublich kreativer Künstler gewesen. Sein Œuvre umfasst Druckgrafiken, Zeichnungen, Gemälde und kinetische Objekte, Materialbilder, Collagen und Assemblagen, Künstlerbücher und literarische Texte sowie Schmuckstücke. Die Kunstwelt verbindet seinen Namen aber vor allen Dingen mit den Schokoladen- und Schimmelobjekten. Von etwa 1968 bis 1970 nutzt Roth das Medium Schokolade als Bedeutungsträger in seinen druckgrafischen Werken, Papierbildern oder in Schokoladenplastiken von Gartenzwergen, Porträtbüsten und Löwenköpfen. In der bildenden Kunst hat sich vor Roth kein Künstler derart intensiv mit diesem Material auseinander gesetzt. Zwar inszeniert auch Joseph Beuys Anfang der 60er-Jahre kurzzeitig diesen Werkstoff in seiner Kunst, aber Roth misst der Schokolade eine andere Bedeutungsebene zu. Leicht formbar, ist sie für ihn eine ideale Ergänzung zu den Klassikern Sandstein, Marmor oder Bronze. Darüber hinaus reizt ihn der ephemere Charakter, denn Schokolade ist ein aktives, lebendiges Material und nur begrenzt haltbar. Sozusagen als work in progress beginnen pflanzliche und tierische Organismen es zu zersetzen. Es wird porös; die Oberfläche erinnert an die Patina von rostigem Eisen oder Baumrinde. Diese Vanitas ist konzeptueller Bestandteil seiner Kunst, die dem Rezipienten den organischen, sprich: ästhetischen Verfall vor Augen führen soll.

Eine Manie des Künstlers ist das Sammeln des alltäglichen Abfalls. Nichts, aber auch gar nichts wird weggeworfen. Er archiviert Postkarten, Zeitungsschnipsel, Trambillets, Restaurantquittungen, Zigarettenkippen und zerquetschte -schachteln. Gebrauchte Filtertüten, Obst und Gemüse, Gewürze, Joghurt, Lebensmittelreste von Brot, Käse oder Wurst dienen ihm als künstlerischer Werkstoff für seine vergänglichen Materialbilder. Etwa von 1960 bis 1975 entstehen zahlreiche Schimmelobjekte - ein Novum in der Kunstszene. Schimmel wird integrativer Bestandteil seiner Kunst. Dessen Ästhetik fasziniert ihn, auch wenn sie sich erst in der Vergrößerung offenbart: auf organischem Material bilden sich weißliche oder farbige Gespinste aus tausenden von filigranen Fäden.
Die Streitfrage aller Sammler ist heute, sollen die Objekte restauriert werden oder, dem Wunsch des Künstlers entsprechend, der natürlichen Vergänglichkeit anheim fallen?

Roths Leidenschaft gehört aber auch der Musik, Poesie und Literatur. Er komponiert, schreibt Künstlerbücher, verfasst avantgardistische Gedichte und Essays, die an den Dadaisten Kurt Schwitters erinnern. Außerhalb der Kunstszene oder in der deutschen Literatur haben seine irritierenden Texte wie „Scheiße – Neue Gedichte von Dieter Roth“ jedoch keine Beachtung gefunden. Fasziniert von den Medien Fotografie und Film, dokumentiert er sein Leben. In seinen Schwarz-Weiß-Filmen inszeniert er quasi als Realityshow das „täglich Gelebte“.

Roth ist ein rastloser Künstler, ein Workoholic in seiner Kunst und ein Nomade in seinem Lebensstil gewesen. Er pendelt zwischen zahlreichen Ateliers und Wohnorten hin und her, wobei sein Lebensmittelpunkt Reykjavik ist, wo er mit Frau und drei Kindern lebt. Er ist „ein Meister des Weglaufens“. Er besitzt eine schillernde Persönlichkeit, auf der einen Seite humorvoll, belesen, voll sprühender Kreativität, auf der anderen Seite sensibel, fragil und selbstzerstörerisch. Sein Alkoholismus führt zu Abstürzen, begleitet von cholerischen Wutausbrüchen. Offen für die künstlerische Avantgarde seiner Zeit, knüpft Roth in den 70er-Jahren Kontakte zu Arnulf Rainer, Stefan Wewerka oder Richard Hamilton. Er arbeitet mit André Thomkin und Daniel Spoerri zusammen und entwirft Objekte im Stil der Eat-Art. „Scheissen, Kotzen, Pissen, Schwitzen, aber mit Genialität“, kommentiert Spoerri die Arbeiten seines Künstlerkollegen.

Roth ist ein Universaltalent gewesen, ein Besessener seiner Kunst, ein Provokateur, der exzessiv lebte und sich der etablierten Kunstszene verweigerte.
Dieter Roth stirbt mit achtundsechzig Jahren, am 5. Juni 1998, an einem Herzinfarkt in Basel.


Das Dieter Roth Museum ist nur nach vorheriger schriftlicher Anmeldung per Fax oder E-Mail an die Dieter Roth Foundation zu besichtigen.
Dieter Roth Museum, Abteistraße 57, 20149 Hamburg
Tel.: (040) 4199 90
Fax: (040) 4199 9194
E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
www.dieter-roth-museum.de

MdM Mönchsberg
Museum der Moderne
Mönchsberg 32
5020 Salzburg – Austria
www.museumdermoderne.at

Bildnachweis:
Header Detail aus Selbstbildnis als Loch, 1973 / 1975, Serigraphie, überarbeitet, 5 Farben auf weißem Karton, 50 x 70 cm. Aargauer Kunsthaus Aarau. © 2012 Dieter Roth Estate
Galerie:
Salzburg
01. Dieter Roth / Richard Hamilton. Ausschnitt aus Interfaces 15−16, 1977−1978, Tryptichon, Öl / Collage, z.T. auf Foto, Mischtechnik, 44 x 226 cm. Sammlung Tanner Teufen. © 2012 Dieter Roth Estate
02. Dieter Roth & Arnulf Rainer. Zu zweit, ohne Jahr, Graphit, Kreide, Öl auf Foto, 50 x 60 cm. Courtesy Galerie Thaddaeus Ropac Paris / Salzburg. © 2012 Dieter Roth Estate
03. Selbstbildnis als Loch, 1973 / 1975, Serigraphie, überarbeitet, 5 Farben auf weißem Karton, 50 x 70 cm. Aargauer Kunsthaus Aarau. © 2012 Dieter Roth Estate
04. Selbstbildnis als Schwalbe, 1973, Öl auf Leinwand, 73 x 92 cm. Kunstmuseum St. Gallen, Gesellschaft der Freunde bildender Kunst. © 2012 Dieter Roth Estate
05. Briefzeichnung (Greetings), Chicago, 1978, Briefzeichnung, Bleistift und Farbstifte auf liniertem Papier, 31,5 x 20 cm. Dieter Roth Foundation, Hamburg. © 2012 Dieter Roth Estate
Hamburg
06. Dreh-Rasterbild, Reykjavík/Hamburg, 1960-1992, Ø 80 cm, Holzscheibenringe und mit parallelen Linien bemalte runde Glasscheibe.
07. o.T. Reykjavík, 1958/59, 71 x 53 cm, Weiße Siebdruckfarbe auf schwarzem Karton und schwarze Siebdruckfarbe auf weißem Karton.
08. o.T. (mit Björn Roth), Hamburg, 1980-1983, 220 x 230 x 25 cm
Spielzeug, Süßigkeiten, Nippessachen, Drucksachen, Malutensilien, Klebestreifen, Werkzeug, Abfall, Holz- und Metalleisten, Leim auf Wellkarton. Sauermilch, Milch, Fruchtsaft, Kakao und tote Insekten in Plastikschläuchen in Holzrahmen mit Eingußlöchern.
Fotos: Dieter Roth Foundation, Hamburg (c) Dieter Roth Estate, courtesy Hauser & Wirth