Bildende Kunst
Anita Rée – Retrospektive

Große fragende Augen. Ein ratloser, tieftrauriger Blick, der mitten ins Herz trifft. Mit dem gigantisch vergrößerten Selbstbildnis von Anita Rée (1885-1933) wirbt die Hamburger Kunsthalle für die erste Retrospektive der Hanseatin in ihrem Haus.
Das 1930 entstandene Gemälde kennt jeder treue Kunsthallenbesucher, vielmehr allerdings auch nicht. Deshalb ist die großangelegte Soloschau tatsächlich eine Entdeckung. 93 Jahre nach dem Freitod der Künstlerin werden hier alle Werkphasen ausgebreitet und Anita Rée – bislang nur als Lokalgröße und NS-Opfer gesehen – als eine auch national und international bedeutende Malerin gewürdigt.

Wie schön, dass sich die Dinge ändern. Dass die Qualität figurativer Künstlerinnen und Künstler, die nach dem 2. Weltkrieg über Jahrzehnte in Vergessenheit gerieten, mit einmal wieder geschätzt wird. Anita Rée ist so eine Künstlerin. Wiederentdeckt hat sie die Hamburger Kunsthistorikerin Maike Bruhns 1983. Sie schrieb ihre Doktorarbeit über die Malerin und trug sehr beharrlich dazu bei, dass sie wieder wahrgenommen wurde. In dem empfehlenswerten Katalog, der auch neue Forschungsergebnisse zusammenfasst, kommt Bruhns ausführlich zu Wort.

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Anita Rée war eine zerrissene Persönlichkeit. Der Vater ein wohlhabender Hamburger Kaufmann mit jüdischen Wurzeln, die Mutter Venezolanerin indigener Abstammung. Anita, die exotisch anmutende Schönheit, wächst in Harvestehude auf, wird protestantisch getauft und erzogen. Zur Jüdin machen sie erst die Nazis, sie selbst hat sich nie so verstanden. Dass Hitlers Schergen die in ihrer Zeit sehr erfolgreiche und in der Hamburger Gesellschaft bestens vernetzte Künstlerin in den Selbstmord trieben, kann man allerdings wohl nicht behaupten. Sicher gab es seit 1930 Repressionen und Anfeindungen, aber statt auf Sylt in Depressionen zu verfallen und mit Veronal in den Tod zu gehen, hätte die wohlhabende, weltgewandte Künstlerin ohne weiteres emigrieren können. Die politischen Umstände haben ihre Schwermut forciert, das ist klar. Aber die Veranlagung zur Despression war wohl von Anfang an da und kommt schon 1904, in ihrem ersten „Selbstbildnis in Hittfeld“, zum Ausdruck. Anita malt sich ganz bürgerlich, mit rotem Hut und goldenen Ohrringen. Den Blick ernst und kritisch auf den Betrachter gerichtet, die Stirn in Falten, den Mund trotzig zusammengepresst. Die Entschlossenheit steht ihr ins Gesicht geschrieben. Aber auch Zweifel, die sie zeitlebens beherrschen.

Sie habe immer „wie irgendwer“ gemalt, lästerte Künstlerkollege Friedrich Ahlers-Hestermann einst. Stimmt, etliche Bilder zeigen Einflüsse. Und die trostlos-biederen Landschaften der letzten Phase auf Sylt können nur als Ausdruck der Resignation verstanden werden. Aber jeder kreative Mensch braucht auch Vorbilder. Anita Rée findet sie nach anfänglichem Studium bei dem Impressionisten Arthur Siebelist in Cézanne, Picasso, Fernand Léger und Paula Modersohn-Becker. In vielen Zeichnungen und Gemälden nach ihrem Paris-Aufenthalt 1913 scheinen die Idole durch. Bei den drei Agnes-Porträts mit den auf geometrische Formen reduzierten Körpern, bei den Stillleben mit Hebbels Totenmaske (1915) und mit Orangenbaum (1920) oder bei der „Blauen Frau“ (vor 1919), die mit ihrem langen Umhang und dem Kind im Arm an Picassos Frauengestalten aus der blauen Periode erinnern.

Ihren eigenen, unverwechselbaren Stil findet Anita Rée dann ab 1922 in Positano an der Amalfiküste. Inspiriert von der Frührenaissance und der römischen Antike entstehen nun ihre Meisterwerke: Hinreißende Porträts mit scharfen Konturen und klaren Farben im Stil der Neuen Sachlichkeit - vor allem von Frauen, denen sie sich nach enttäuschen Männerbeziehungen zuwendet. Es sind Gemälde, die in ihrer Eindringlichkeit, Ruhe und Kraft mittelalterlichen Altarbildern gleichkommen.

Aber es gibt noch eine ganz andere Anita Rée in dieser Ausstellung zu entdecken und dieser Aspekt wird immer noch nicht genügend beachtet: Begeistert von außereuropäischen Kulturen eignet sie sich ab 1930 afrikanische und asiatische Malweisen an und schafft faszinierende Fabelwesen. Am erstaunlichsten aber sind eine Reihe von 12 kleinen „Doppelbusenkarten“, die sie Freunden schon 1929 schickt: Ein wilder, surrealer, collagehafter Mix aus figürlicher Zeichnung, Ornament und Schrift, in denen sie Stilmittel von Popart und Comic vorwegnimmt. Anita Rée hat diese Postkarten nicht als Kunst erstgenommen. Die Kunsthistoriker auch nicht. Dabei zeigt sie sich hier als wahre Avantgardistin.

Anita Rée – Retrospektive
Zu sehen bis 4. Februar 2018, in der Hamburger Kunsthalle, Glockengießerwall 5, 20095 Hamburg. Öffnungszeiten Dienstag bis Sonntag 10-18 Uhr, Donnerstag bis 21 Uhr. Eintritt 14 € (erm. 8 €).
Kontakt: Tel. 040-428131-200
Fax 040-4283409
www.hamburger-kunsthalle.de
Beispiele zu Audioguides gelesen von Sophie Rois


Abbildungsnachweis: Anita Rée (1885-1933)
Header: "Selbstbildnis", (Detail) 1930, Öl auf Leinwand, 66x60,8cm. © Hamburger Kunsthalle / bpk
Galerie:
01. Stillleben mit Orangenbaum, vor 1920. Öl auf Leinwand, 61x65,2cm. Privatbesitz. Foto: Christoph Irrgang
02. Teresina, 1922-25, Öl auf Leinwand, 80,5x60cm. © Hamburger Kunsthalle / bpk. Foto: Elke Walford
03. "Halbakt vor Feigenkaktus (Selbstbildnis)", 1922-25, Öl auf Leinwand, 66x53,3cm, Hamburger Kunsthalle (Public domain)
04. Blaue Frau, vor 1919, Öl auf Leinwand, 90x69cm. Privatbesitz. Foto: Christoph Irrgang
05. Bildnis Hilde Zoepffel, um 1928, Öl auf Leinwand, 50x41,5cm. Privatbesitz. Foto: Christoph Irrgang
06. Bildnis Hildegard Heise, um 1927, Öl auf Leinwand, 40,6x35,6cm. © Hamburger Kunsthalle / bpk. Foto: Elke Walford
07. "Gelber Dünenhügel", 1932/33, Aquarell, 31x37cm. Privatbesitz Hamburg. Foto: Elke Schneider
08. Weiße Nussbäume, 1922-25, Öl auf Leinwand, 71,2x80,3cm. © Hamburger Kunsthalle / bpk. Foto: Elke Walford
09. Marionetten für Die schöne Galathée (Pygmalion und Galathée), 1930, Holz, bemalt (Die Körper wurden gefertigt von Heinrich Johann Merck, die Kostüme von Marie-Ellen Merck, geb. Haller. Die Köpfe gestaltete Anita Rée.). Privatbesitz. Foto: Eckhard Kindermann