Bildende Kunst

Ein Fußboden aus Holz. An den Seiten rote Kulissenwände. Ein blauer Hintergrund. Zwei gesichtslose Gliederpuppen vor Holzgerüsten. Die männliche Figur mit breiter Brust steht fest auf ihren Beinen. Die Frau hebt anmutig den linken Fuß und schmiegt sich an den Partner. Ihre eiförmigen Gesichter berühren einander zärtlich: „Hektor und Andromache" heißt das 1917 entstandene Gemälde des italienischen Malers Giorgio de Chirico. Es ist eine Szene des Abschieds.


Das Bild gehört zu den Frühwerken de Chiricos aus seiner Schaffensperiode von 1915 bis 1918. Die Stuttgarter Ausstellung „Magie der Moderne" präsentiert Gemälde, Zeichnungen und Druckgrafiken des Italieners, der als „Erfinder" der Metaphysischen Malerei, der pittura metafisica gilt. Seine pittura metafisica inspiriert Künstler der europäischen Avantgarde, des Dadaismus, Surrealismus und der Neuen Sachlichkeit. Die Schau in der Staatsgalerie Stuttgart zeigt rund zwanzig Werke de Chiricos im Dialog mit René Magritte, Salvador Dalí, Max Ernst, Man Ray, George Grosz und anderen Künstlern.

 


Giorgio de Chirico, 1888 im griechischen Volos geboren, studiert zunächst in Athen und später an der Akademie der Künste in München. Bereits 1911 nimmt er in Paris an Ausstellungen des Salon d’Automne und des Salon des Indépendants teil. Die Bilder erregen Aufmerksamkeit. Seine von den Münchner Symbolisten Arnold Böcklin und Max Klinger, den Schriften Arthur Schopenhauers und Friedrich Nietzsches beeinflusste Bildsprache ist neu. De Chirico malt Idealarchitekturen mit Fassaden und Arkaden, menschenleere Stadtansichten mit langen Schlagschatten, die seitlich ins Bild fallen, einsame Plätze mit Türmen. Uhren und antike Statuen signalisieren den Stillstand der Zeit. Der französische Literat und Kunstkritiker Guillaume Apollinaire bezeichnet 1913 erstmals de Chiricos Malereien als "metaphysische Landschaften".


Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs zieht de Chirico 1915 in das norditalienische Ferrara, wo er zusammen mit seinem Bruder, der als Musiker und Schriftsteller unter dem Pseudonym Alberto Savinio firmiert, seinen Militärdienst leistet. In Ferrara lernt er den Futuristen Carlo Carrà kennen. Die drei jungen Männer gründen sie die „scuola metafisica", eine neue metaphysische Malerei, die pittura metafisica. Eine „...künstlerische Ausdrucksweise, die minutiös realistisch anmutet, dabei jedoch darauf abzielt, Desorientierung, Verstörung und Beunruhigung zu erzeugen, sowie den großen Wahnsinn der Welt und der Dinge zum Vorschein zu bringen", heißt es im Ausstellungskatalog.


In den Ferrarer Jahren erweitert de Chirico sein Bildvokabular um das Bild-im-Bild-Motiv, ein seit dem 16. Jahrhundert beliebtes Sujet in der Kunstgeschichte. Hinzu kommen Stillleben sowie Darstellungen der Manichini – gesichtslose, mechanische Gliederpuppen. Nach Ende des Krieges wird er 1919 nach Rom versetzt. Im Februar des selben Jahres zeigt die Galerie „Casa d'Arte Bragaglia" eine Einzelausstellung seiner metaphysischen Kompositionen aus Ferrara. Die Resonanz der italienischen Presse ist vernichtend. „[...] Aber wollen wir uns dabei vorgaukeln, wir können die Bilder von Giorgio de Chirico zu unserem künstlerischen Erbe zählen? De Chiricho – da ist er glücklich dran – besitzt immerhin die besten Absichten, schafft aber keine Malerei", schreibt der Kritiker Orio Vergani. Der Traum vom Siegeszug der pittura metafisica ist, zu mindestens in Italien, für de Chiricho geplatzt. Die neue Bewegung sollte nur bis zum Jahr 1920 andauern. Dagegen wird die metaphysische Malerei aus Ferrara über Reproduktionen in der Zeitschrift „Valori plastici" europaweit bekannt und Impulsgeber für die Dadaisten, Surrealisten und Künstler der Neuen Sachlichkeit.


Ausgangspunkt der Stuttgarter Schau ist de Chiricos „Metaphysisches Interieur (mit großer Fabrik)" von 1916, das zur Sammlung der Staatsgalerie gehört. Das Bild zeigt einen Innenraum mit geometrischen Utensilien - Stangen, zusammen genagelte Leisten, Winkel und Holzdreiecke. Auf einem Podest steht das realistische, aus der Vogelperspektive gemalte Bild einer Fabrik, der unweit von Ferrara liegenden Firma der „Fratelli Santini".


Daneben hängt ein rätselhaftes Stillleben mit dem Titel „Die Pläne eines jungen Mädchens": im Hintergrund das Castello Estense in Ferrara, Garnrollen, Gummilitze, ein Brett mit einem braunen Lederhandschuh sowie eine grüne Schachtel mit der Aufschrift „Ferrara Ass". Zwölf Jahre später greift Salvator Dali das Bild-im-Bild-Motiv in einem Werk auf „Erleuchtete Lüste (Illuminierte Freuden)". Ebenso Max Ernst in seiner Collage „Das ist schon das 22. Mal der Lohengrin". René Magrittes „So lebt der Mensch" konfrontiert den Betrachter mit einer außerhalb des Fensters dargestellten Landschaft und einem auf der Staffelei stehenden, identischen Landschaftsbild vor dem Fenster.


Der Gang durch die Ausstellung führt den Besucher zu den Stillleben. De Chiricos „Die heiligen Fische" ist eine bühnenartige, fast geometrische Komposition mit zwei realistisch gemalten Fischen auf einem Holzbrett, umgeben von einem Kerzenständer mit aufgesetztem Seestern und bunten Klötzchen. Carlo Carrà übernimmt in seinem „Stillleben mit Winkelmaß" de Chirichos strenge Geometrie. Scheinbar unzusammenhängende Gegenstände – Dreieck, Flasche, Krug, Schale – sind in einer Kiste angeordnet. Bei René Magrittes "Das geheime Leben" schwebt eine Kugel in der linken Ecke eines Holzkastens.


Ein merkwürdiges Phänomen in de Chiricos Bilderkosmos ist die Abwesenheit von Menschen, die er durch Manichini, gesichtslose Gliederpuppen, ersetzt. Eine Metapher für die Vergänglichkeit des Menschen? Das Puppen-Motiv zieht sich wie ein roter Faden durch seine Schaffensperiode in Ferrara. Gliederpuppen mit eiförmigen Gesichtern, manche deformiert oder ihrer Gliedmaßen beraubt, dominieren die Szenen von „Der Troubadour", „Der Wiedergänger" oder „Der Verlorene Sohn". Eine Rezeption der Gliederpuppen zeigen Arbeiten von Carlo Carrà oder George Grosz, der in seinen, um 1920 entstandenen Bildern, das Motiv der gesichtslosen Manichini adaptiert, die stellvertretend für den nach Orientierung suchenden Menschen der Nachkriegszeit stehen.

 
Neben den vielen Meisterwerken befinden sich im letzten Ausstellungsraum die Highlights der Stuttgarter Schau: „Der große Metaphysiker" und „Die beunruhigenden Musen". Und „Hektor und Andromache". Das Bild bezieht sich auf das Kriegsleben in Ferrara. Viele Soldaten gehen, bevor sie an die Front ziehen, mit ihrer Geliebten in ein Fotostudio, um ein Erinnerungsbild zu machen. De Chirichos Abschiedsmotiv greift dagegen eine Szene aus der griechischen Mythologie auf: Hektor, Heerführer der griechischen Truppen und Held des Trojanischen Krieges, verabschiedet sich von seiner Frau Andromache. Es ist ein Abschied für immer – ohne Happy End.


De Chirichos Stellung in der Malerei des 20. Jahrhunderts sei zwiespältig, schreibt der Kunsthistoriker und Kritiker Wieland Schmied, im deutschen Sprachraum sei er nie so richtig populär geworden. Liegt das an der kalten Ästhetik der Bilder? Oder an seiner verrätselte Bildsprache, die an irreale Traumwelten erinnert und die Betrachter irritiert? Eine Interpretation fällt schwer, denn die dargestellten Objekte ergeben keinen logischen Sinn. "Diese Bilder lassen uns Rätsel erkennen, Lösungen geben sie uns nicht", so Wieland Schmied.


„Giorgio de Chirico: Magie der Moderne"

Zu sehen bis zum 3. Juli 2016 in der Staatsgalerie Stuttgart, Konrad-Adenauer-Straße 30-32, 70173 Stuttgart.

Die Sonderausstellung beschäftigt sich mit dem italienischen Maler und seiner Bedeutung für die Kunst der Europäischen Avantgarde.

Eine von Christiane Lange, Staatsgalerie Stuttgart, Gerd Roos und Paolo Baldacci hervorragend kuratierte Schau.

Öffnungszeiten: Di–So von 10.00–18.00 Uhr
Ein Katalog ist erschienen.