Bildende Kunst
Cindy Sherman – Works from the Olbricht Collection

Ein junges Mädchen in orangefarbener Kleidung räkelt sich lasziv auf dem Steinfußboden. Eine Tramperin steht verloren an einer einsamen nächtlichen Straße. Damen der Upperclass kaschieren ihr Alter mit dickem Make-Up, Schmuck und jugendlichem Outfit.
Seit über drei Jahrzehnten gehören Cindy Shermans fotografische Selbstinszenierungen zu den Meisterwerken zeitgenössischer Fotokunst, der inszenierten Fotografie. Die Amerikanerin gilt als fotografisches Chamäleon mit den 1000 Gesichtern, als Meisterin der Kostümierung und Maskerade. Bis zum 10. April 2016 sind Fotografien aus der privaten Sammlung von Thomas Olbricht im „me Collectors Room“ in Berlin zu sehen.

„Ich wollte mich niemals selbst preisgeben. Es geht mir nicht darum, dem Betrachter irgendetwas Autobiographisches zu erzählen. [...] Es geht mir mehr darum, mich selbst unsichtbar zu machen", erklärt Sherman ihre Fotoarbeiten.
Über sechzig Arbeiten präsentiert jetzt die Retrospektive im Berliner „me Collectors Room“ auf einer Ausstellungsfläche von 1.300 Quadratmetern: Schwarz-Weiß-Aufnahmen, Farb-Porträts und Puppen-Szenarien. Berühmt wird Sherman Ende der Siebzigerjahre mit ihren „Film Stills", in denen sie sich als Schauspielerin fiktiver Filmszenen eines billigen B-Movies inszeniert. Für diese Schwarz-Weiß-Serie nutzt sie eine analoge Kamera und entwickelt die Bilder als Silbergelatine-Abzug. Die nummerierten, kleinformatigen Fotografien zeigen sie in klischeehaften, typisch weiblichen Posen: als Hausfrau mit Schürze in ihrem Appartement, mit weißer Bluse und weißem Hut vor einer Hochhauskulisse, als emanzipierte Frau in einem Sessel sitzend, die linke ausgestreckte Hand hält einen gläsernen Aschenbecher, die rechte Hand eine Zigarette. Oder als einsame Tramperin mit Koffer an einer nächtlichen Straße.

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Anfang der 1980er-Jahre wendet sich Sherman der digitalen Farbfotografie und zugleich großen Bildformaten zu. Mithilfe von „Photoshop“ manipuliert sie ihre Aufnahmen, Farben werden nachkoloriert, Gesichter und Bildhintergründe digital bearbeitet. Bemerkenswert ist, dass Sherman völlig autonom arbeitet. Sie ist Darstellerin, Masken- und Kostümbildnerin, Regisseurin und Fotografin in einer Person. Die Kostüme kauft sie auf dem Flohmarkt und in Second-Hand-Läden. Ihre Porträts zeigen keine real existierenden Personen. Sie zeigen real existierende Stereotype, in denen Sherman die Klischee-Vorstellungen von Weiblichkeit entlarvt. Die meisten ihrer farbintensiven Fotografien sind C-Prints im Pigmentdruckverfahren. Hinzu kommt die von ihr genutzte Cibachrome-Technik, ein Farbdruck vom Diapositiv ohne Zwischennegativ, das Fotobilder von exzellenter Farbbrillanz entstehen lässt.

Sherman, die ihre Aufnahmen grundsätzlich nicht betitelt, sondern nur nummeriert, charakterisiert in der Serie „Hollywood/Hampton-Types" aus dem Jahr 2000 bis 2002 Frauen von beklemmender, aber auch mitleiderregender Hässlichkeit. Karikaturen von Hollywoodstereotypen, die hier für Portraits sitzen, um einen Filmjob zu ergattern: Höhensonnen gebräunt, mit falschen Zähnen und Silikonbrüsten, Latexmaske, Perücken und Schminke sowie Mode-Accessoires. Es sind keine Winner-Typen, sondern vom Leben gezeichnete Frauen, welche den amerikanischen Traum verloren haben.

Gewinner-Typen sind dagegen die reichen Damen der Gesellschaft. Die Fotoserie „Society Ladies" eröffnet mit dem riesigen Panoramabild einer im blauen Kaftan herausgeputzten Lady vor einer abstrahierten Landschaft. Eine reiche Kunstmäzenin? Shermans fetischistischer Blick konzentriert sich auf diese wohlhabenden Frauen und setzt sie ihrem gesellschaftlichem Status entsprechend in Szene. Frauen, die in jungen Jahren sicherlich Schönheiten waren, deren Schönheit aber längst vergangen ist. Frauen mit von Faceliftings glatt gebügelten Gesichtern, welche die Spuren des Alters mit viel zu viel Make-Up, Schmuck und jugendlichem Outfit übertünchen.
Ihre drei Fotografien aus der Serie "Clowns" aus den Jahren 2003-2004 haben nicht mehr viel mit den harmlosen Spaßmachern aus dem Zirkus gemeinsam. Sie erinnern eher an den Clown aus dem Horrorfilm „It“ (Es) von Stephen King. Das Lächeln der inszenierten Clown-Porträts gleicht einer aufgesetzten und falschen Fröhlichkeit. Ein Lächeln von abgründiger Bösartigkeit oder von hilfloser Einsamkeit? „Auf Clowns bin ich gekommen, weil ich die vielschichtigen emotionalen Abgründe eines aufgemalten Lächelns zeigen wollte", so die Künstlerin.

Das Böse und Abgründige begegnet dem Besucher auch in ihren aktuelleren Serien. Statt Porträtaufnahmen gestaltet Sherman grellbunte, zerschnittene und neu zusammengesetzte Masken. Und immer wieder Puppen. Puppen beim Geschlechtsakt mit verstümmelten und verrenkten Leibern. Zerstörte Puppenkörper und -gesichter, welche beim Betrachter die von der Gesellschaft tabuisierte Gewalt gegen Frauen assoziieren. Die Angst und Grauen vermitteln - auch wenn es hier nur Dummies für medizinische Demonstrationszwecke, Körperteil-Prothesen, Plastik- und Schaufensterpuppen sind.

Zu den zahlreichen Auszeichnungen, welche die amerikanische Fotokünstlerin erhalten hat, gehört 1999 der Kaiserring der Stadt Goslar, einer der renommiertesten internationalen Kunstpreise für zeitgenössische Kunst. Die damals 45-jährige ist nach Rebecca Horn die zweite weibliche Preisträgerin gewesen. In der Laudatio sagt Katharina Schmidt, Direktorin des Kunstmuseums in Basel, "Wer diese Bilder einmal gesehen hat, den lassen sie nicht mehr los. [...] Cindy Shermans Bilder sind unvergesslich. Mit höchst komplizierten Strategien erstellt sie unvergessliche Bilder vom Menschen, schön und schrecklich zugleich, die Bestandsaufnahme einer fragwürdigen Spezies."

Die bemerkenswerte Ausstellung zeitgenössischer Fotokunst „Cindy Sherman – Works from the Olbricht Collection" ist bis zum 10. April 2016 im „me Collectors Room“, Auguststraße 68, 10117 Berlin zu besichtigen.
Die Öffnungszeiten sind Di-So von 12 bis 18 Uhr.
www.me-berlin.com


Abbildungsnachweis:
Header: Cindy Sherman, Untitled 96, 1981. © Courtesy of the artist and Metro Pictures New York
Galerie:
01. me Collectors Room Berlin. Foto: Christel Busch
02. Cindy Sherman: Untitled, Film-Still 48B, 1979. © Courtesy of the artist and Metro Pictures, New York
03. Cindy Sherman: Untitled, 354, 2000. © Courtesy of the artist and Metro Pictures, New York
04. Installationsansicht. © me Collectors Room Berlin. Foto: Bernd Borchardt
05. Cindy-Sherman: Untitled 315, 1995. © Courtesy of the artist and Metro Pictures, New York
06. Cindy-Sherman: Untitled 418, 2004. © Courtesy of the artist and Metro Pictures, New York
07. Installationsansicht. © me Collectors Room Berlin. Foto: Bernd Borchardt
08. Cindy-Sherman: Untitled 475. 2008. © Courtesy of the artist and Metro Pictures, New York.