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Die Stadt ohne Juden – von der Aktualitaet der Geschichte

Der Roman „Die Stadt ohne Juden“ sollte 1922 die damals symptomatische Mentalität der Einwohner Wiens und Österreichs beschreiben. Der österreichisch-amerikanische, vom Judentum zum Protestantismus konvertierte Autor und Journalist Hugo Bettauer (1872-1925) war radikal in vielen seiner Vorstellungen. Und er war präzise und personenbezogen in seinem Erfolgsroman, er nannte zwar Aliasnamen, aber jeder wusste genau, wer in der Ersten Republik gemeint war. Der Roman seziert demgegenüber auch allgemein menschliches Denken und Handeln in einer akuten (Wirtschafts-)Krise. Er ist Dystopie, Vision und Vorhersage und kommt doch bei weitem nicht an die tatsächliche Realität der Shoah heran. Der Schritt von der Vertreibung zur Vernichtung war damals noch jenseits des Vorstellbaren, obwohl in der einen oder anderen gleichnishaften Rede der handelnden Romanfiguren der verachtende Begriff „vertilgen“ fällt.

Der Stummfilm „Die Stadt ohne Juden“ sollte 1924 in gleicher Weise die damals herrschende antisemitische Mentalität nachzeichnen. Hans Karl Breslauer (1888-1965), österreichischer Schauspieler, Filmregisseur, Drehbuchautor und Schriftsteller veränderte für seinen Ende 1923 begonnen Film nicht nur Details, sondern auch entscheidende Aussagen und milderte die Radikalität, Brisanz und den politischen Zündstoff auf einige dramaturgische Notwendigkeiten im Vergleich zur Originalvorlage ab. Wien wird in die Republik „Utopia“ verlegt, Personen und Gruppen sind vereinfachter dargestellt, Szenen wurden weggelassen und andere hinzugefügt und der entscheidendste Eingriff (Achtung Spoiler-Alert!) ist die Tatsache, dass der Antisemit Rat Bernart (gespielt von Hans Moser) im expressionistisch dargestellten Irrenhaus und Delirium endet und sich alles nur als Traumhandlung herausstellt, ja, alles dadurch „simplifiziert“ [01]. Hier wird der brisante Inhalt zur „optimistischen Groteske“ [02] abgeschwächt. Es kam sodann gleich nach der Premiere in Wien zum Zerwürfnis zwischen Bettauer und Breslauer. [03]

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Gemeinsam ist beiden künstlerischen Ergebnissen das Anprangern des massiven und unverblümten Antisemitismus, der sich in vielen Facetten in dieser Epoche zeigte! [04]

Die Stadt ohne Ausländer – Die Stadt ohne Flüchtlinge – Die Stadt ohne Muslime – Die Stadt ohne Fremde – Die Stadt ohne ohne ohne – scheinbar brauchen europäische Gesellschaften derlei Abgrenzungen – damals wie heute – und dies scheint der Wirklichkeit näherzukommen als die Frage: Benötigen wir nicht vielmehr – um wenigstens etwas aus der Geschichte gelernt zu haben – Städte ohne Hass, Neid und Geldgier – Städte der Diversität – Städte ohne Aggression – Städte des Miteinanders und der gegenseitigen Förderung – Städte aller Religionen – und selbstredend „Die Stadt mit Juden“? Das klingt nun in der Tat in diesem schönen Forderungskatalog wie Utopia!

Dass der universell verständliche Stummfilm, weil szenisch sprachunabhängig, überhaupt in seiner heutigen vollständigen Form gezeigt werden kann, ist schier ein kleines Wunder, galt er doch lange als fragmentarisch, da zwar ein gewisser Teil erhalten war, aber beispielsweise der gesamte Schluss fehlte. Es bedurfte eines Zufallsfundes auf einem Flohmarkt in Paris im Oktober 2015 durch einen Sammler – ein wahrer Glücksfall der Filmgeschichte, ein wahrer Glücksfall für diesen Film und jede Wiederaufführung. Es bedurfte der Digitalisierung, die viel Geld kostete, aber auch Dank Crowdfunding zustande kam. Und dann endlich die ersten Aufführungen ob mit der Filmmusik von Saunders Kurz (Fassung 1928) oder der Neufassung von Gerhard Gruber (Klavier), Adula Ibn Quadr (Violine) und Peter Rosmanith (Percussion) aus dem Jahr 2000 oder nunmehr die neueste Fassung der Komponistin Olga Neuwirth (2017). Das Aspekte Festival wollte sich dem Stummfilm widmen mit letztgenannter Fassung und dem Ensemble PHACE [05] aus Wien unter der Leitung von Lars Miekusch.
Olga Neuwirth ist eine Meisterin ihres Fachs, denn sie komponiert und arbeitet selbst in der Neuen Musik gegen Normen an und schafft dadurch eine wundervolle Mischung von Klängen und musikalischen Erzählungen. Die Wahlberlinerin mischt sich kulturell, gesellschaftlich und politisch ein, ihre Mittel sind jene der Kunst. Sie bezieht jedoch auch klar Stellung in der Kommunikation und da kommen dann solche dezidierten Sätze wie: „Antisemitismus liegt in der DNA der Österreicher“ und „Vielleicht hat es eine Generation übersprungen, aber jetzt ist es zurück – zusammen mit dem Hass auf Flüchtlinge." [06] In Österreich verweigert sie sich oft Interviews.

Die Musik – Auch wenn sie über ihre Musik und Arbeit spricht oder schreibt bleibt Olga Neuwirth dezidiert: „Es gibt keine einfache Antwort auf die komplizierte Beziehung zwischen Bild und Musik bei einem Film, der durch sein Thema eine prophetische Vision war. Natürlich will ich nicht in reine Repräsentation oder ,Mickey Mousing‘, wie es Hanns Eisler nannte, verfallen, aber manchmal tue ich es trotzdem, und zwar wenn ich es für notwendig halte – auch immer wieder mit bitterer Ironie. Denn trotz meines Erstarrens vor Entsetzen (auch weil sich nicht viel geändert zu haben scheint, seit dem Erscheinen des Buches 1922), und um Klischees zu entgehen, auch wenn ich sie oft andeute, habe ich versucht, eine Lebendigkeit zu bewahren, indem die Musik zugleich anrührend und hart ist, herzenswarm und offen, amüsant und wütend, beteiligt und distanziert, humorvoll und traurig. Es geht nicht nur um den tief in der österreichischen Seele verwurzelten Antisemitismus, sondern auch um Identität und Fremdheit, Heimat und Flucht. [...]“. [07]

Neuwirths Komposition für „verstärktes Ensemble und Zuspielung“ [08] hat weder rein dienende noch kommentierende Funktion. Diese braucht zwar den Stummfilm als Quelle, jedoch um sich unabhängig entfalten zu können. Das scheinbare Paradoxon löst sich in seiner Eigenständigkeit, Individualität und seinem Einzelgängerischen auf. Stummfilm und Musik verbinden sich jedoch auch in der inhaltlichen Aktualität, es definiert das Dazwischen ebenso wie die Eckpunkte (1922/24 mit, und bis 2017/20) und erscheint dadurch immerwährend zeitlos.
Einzelne melodische Spitzen ragen aus der amorphen Klangfläche empor, unterbrochen oder ergänzt von zugespielten Geräuschen, Rufen, Jodeleinlagen und mehr. An den Gefühlen des Publikums wird sehr unterschiedlich gerüttelt und die Bandbreite zwischen hintergründiger Ironie und schonungsloser Klarheit ist fesselnd.

Die Erinnerung – „Die Stadt ohne Juden“ ist auch als filmische Erzählung Teil unserer Erinnerungskultur – oder sollte es zumindest sein, denn diese ist so nah an
unserer Realität, so phänomenologisch. Und gemeinsames Erinnern fokussiert schließlich auf eine Verantwortungsgesellschaft.
Das wunderbare deutsche Wort der ‚Geschichte‘ impliziert das (Auf-)Schichten von Zeit und Ereignissen. Es ist ein Aktivum, etwas, das bildhaft wird, in einem Stapel von geschichteten Abläufen, der immer höher und größer wird. Die zunehmende Dichte inhaltlicher und räumlicher Bezugssysteme gegenüber vorangegangenen Generationen prägt zudem unser Erinnern.
Die alltägliche und notwendigerweise fragmentarische Wahrnehmung von Geschichte als ein hochverdichtetes und komplexes System ist in einer handlungsleitenden Vorstellung begründet. Somit ist auch die handlungsleitende Vorstellung fragmentarisch. Sie ist zielgerichtet, sie ist dynamisch und veränderbar. [09]
In der Abfolge jüdischer Geschichte in Europa zieht sich jedoch die Vorstellung einer „Stadt ohne Juden“ [10] vom Mittelalter bis heute durch, von Pogrom zu Pogrom [11], von Ghetto zu Ghetto, von Abgrenzung zu Ausgrenzung – und ist schließlich übertragbar auf eine grundsätzliche Haltung der Ausgrenzung.

Aspekte Festival für Musik unserer Zeit, Salzburg

Das Aspekte Festival musste abgesagt werden. KulturPort.De hat sich dennoch entschieden, den Text zu veröffentlichen, allein aus Respekt vor der Arbeit der Verantwortlichen, Musiker und aller Mitarbeiter.

Die Stadt ohne Juden (Stummfilm, Ö, 1924), Regie: Hans Karl Breslauer
Musik: Olga Neuwirth (2017)
Film: Die Stadt ohne Juden, Ensemble PHACE

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Fußnoten:
[01] BALLHAUSEN, Thomas, KRENN, Günter: (Alb)Traumhaft: Die Stadt ohne Juden in: Medienimpulse, Heft Nr. 57, September 2006, S. 35–39. Online
[02] Der Romanschriftsteller Artur Landsberger (1876-1933) schrieb als Reaktion auf Bettauer 1925 das Werk „Berlin ohne Juden“ und sah die Vertreibung der deutschen Juden in einer optimistischen Groteske voraus. Vgl.: LUHR, Geret: Hakenkreuz und Sowjetstern, in: Literaturkritik.de, 1.2.2000.
[03] Vgl.: FRITZ, Walter / SCHUCHING, Josef (Hg.): Vorzeichen der Zeit, in: „Die Stadt ohne Juden – Materialien zum Film“, 1991. Gekürzter Auszug aus: Der österreichische Film, Edition Standard #119, Hoanzl, 2008, DVD, 80 Min.
[04] Z.B. im Brettspiel mit dem Titel: „Juden Raus“ (1938). Vgl.: Andrew Morris-Friedman, Ulrich Schädler: „Juden Raus!“ (Jews Out!) – History's most infamous board game, in: Board Game Studies. International Journal for the Study of Board Games 2003/6, S. 47-58.
[05] Dirigat: Lars Mlekusch (Aspekte Salzburg 2020). PHACE: Walter Seebacher, clarinet | Michael Krenn, saxophone | Spiros Laskaridis, trumpet | Stefan Obmann, trombone | Tom Pauwels, electric guitar (Berlin) | Felix Pöchhacker, electric guitar (Wien, London, Hamburg, Frankfurt, Salzburg, Graz) | Petra Ackermann, violin | Roland Schueler, cello | Mathilde Hoursiangou, keyboard | Berndt Thurner, percussion | Alfred Reiter, sound
[06] Zitat aus: JEFFRIES, Stuart: Olga Neuwirth: 'Austria is always the trailblazer for hatred' (Olga Neuwirth: „Österreich ist immer der Wegbereiter für Hass"), in: The Guardian, 13.11.2018. Online
[07] Quelle: NEUWIRTH, Olga: Die Stadt ohne Juden, in: Booklet-Text zur DVD/Blu-ray, arte Edition, 2019, 82 Min.
[08] Siehe: Partitur, 166 Seiten. Online
[09] Vgl.: FRIEDE, Claus: Der sensible Umgang mit Erinnerungskultur, in: Blog von Stadtmarketing Austria, 17.9.2019, Online
[10] Dies entspricht auch der bis heute zitierten Vorstellung und Propagandakampagne Gamal Abdel Nassers, Ägyptens Präsident, 1948 und 1967 „Treibt die Juden ins Meer“ (gemeint ist das Mittelmeer). Vgl.: LAURENS, Henry: Eine geplante Eskalation, in: Le Monde diplomatique, 8.6.2007. Online
[11] Herkunft aus dem Russischen „pogrom“ (погрóм, abgeleitet von громить = demolieren, zerstören) mit der Bedeutung: Verwüstung, Zerstörung.


Abbildungsnachweis:
Header: Filmstill „Die Stadt ohne Juden“, © Filmarchiv Austria
Galerie:
01. Portrait Olga Neuwirth. Foto: Harald Hoffmann
02. Ensemble PHACE. Foto: Laurent Ziegler
03. und 04. Aufführung anlässlich MärzMusik, Berlin 2019. Fotos: Markus Bruckner
05. bis 09. Filmstills aus „Die Stadt ohne Juden“, © Filmarchiv Austria