Musik

Anfang Oktober des jüngst vergangenen Jahres hätte die US-amerikanische Geigerin Hilary Hahn in der Berliner Philharmonie das Violinkonzert von Jean Sibelius, ungefähr vier Jahre nach ihrem letzten Gastspiel in der Hauptstadt, spielen sollen. Corona-bedingt ist es zu diesem ‚Ereignis‘ in des Wortes doppelter Bedeutung nicht gekommen.

Hilary Hahn – dies vorneweg – hat bereits als noch ganz junger Mensch zwei Dinge in sich vereint, die für Künstler jeglichen Metiers obligatorisch sind, oder jedenfalls sein sollten.

Schiller sagt: „ernst ist das Leben, heiter die Kunst“. Ich möchte eine Korrektur zur Anregung bringen: Die Kunst ist sowohl das eine wie das andere. Es ist schwer, die rechten Worte zu finden, wenn man den Versuch unternimmt, den Sinn des Ernstes genauer zu fassen. Seriosität fällt einem wahrscheinlich als erstes ein. Gediegenheit, reflektierte Konzentration und Gelehrsamkeit, Bedachtsamkeit, selbstvergessene Intimität im Verhältnis zum Gegenstand seiner Wahl. Die letzte Umschreibung stellt mich noch am ehesten zufrieden, und zwar im Hinblick auf diese Geigerin.

 

Denn Hilary Hahn hat als noch nicht Zwanzigjährige diesen geistig-seelischen Intimkontakt zu Johann Sebastian Bachs musikalischem Schaffen aufgebaut, der ihrem Wirken – also sowohl der Kontakt als auch das Werk dieses musikalisch ungeheuer tief auslotenden Komponisten – seitdem unentwegt die musikalisch ausgereifte Grundierung gibt. 2003 ist bei der Deutschen Grammophon die Einspielung von „Bach-Concertos“ unter der Leitung von Jeffrey Kahane mit dem Los Angeles Chamber Orchestra erschienen.

Hilary Hahn Bach DECCA COVERUnd knapp zwanzig Jahre später ist es zu einer Einspielung von Bachs Sonaten und Partiten für Violine solo mit der Partita Nr. 1 und den Sonaten Nr. 1 und 2 gepaart mit Liveauftritten unter anderem im Flensburger Deutschen Haus – bei dem ich selbstredend zugegen war – anlässlich des Schleswig-Holsteinischen Musik Festivals im August des vorletzten Jahres, und zwar genau am 24.8.2019, unter dem Dirigenten Omer Meir Wellber und der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen gekommen. Vermutlich nicht zuletzt auch, um selbst der zeitlich bedingten Differenz in der Einheit der Interpretation nachzuspüren.

 

In Konzerten gibt sie ausnahmslos Bach-Zugaben, nicht zuletzt und vor allem deswegen, weil Bachs Musik den aufmerksam Lauschenden unmittelbar in den Bann einer Welt der Ruhe, Geborgenheit und kristallklaren Leichtigkeit transferiert. Der nur allzu oft mühsame Ernst des Lebens wird durch einen Ernst ersetzt, dessen Essenz vielleicht schwerloses Schweben bei höchster Prägnanz ist. Denn ja, Bachs Musik ist darin paradox, dass sie eigentlich Unvereinbares zwanglos vereint: Klare Strenge und spielerisch-heitere Leichtigkeit.

 

Und exakt dies ist auch in der Geigerin Hilary Hahn – der Person und ihrem Spiel – zu schöner Synthese vereint. Sie ist als Mensch – YouTube-Mitschnitte belegen dies – kindlich-verspielt, heiter und humorvoll-ausgelassen und gleich danach ein Wesen, das gebannteste Aufmerksamkeit auf den musikalischen Punkt – der Mensch gewordene Ernst – ist und verkörpert. Und so ist ihr darin unverwechselbares Spiel.

 

Sibelius. Ich gebe zu, dieses Violinkonzert ist mir derart ans Herz gewachsen, dass ich es kaum noch hören mag. Um nämlich der Abnutzung vorzubeugen. Aber selbstredend wäre ich in der Philharmonie zugegen gewesen, hätte das Konzert denn stattgefunden. Auch wenn ich, wie stets, den Kampf gegen die Tränen irgendwann hätte aufgeben müssen, die mir dieses Konzert unfehlbar und ausnahmslos – und nun gar bei diesem Spiel dieser Geigerin – in die Augen treibt.

 

Das Violinkonzert in d-Moll op. 47 von Jean Sibelius. Gleich zu Beginn des ersten Satzes der schwebend-zarte Einsatz der kaum wahrzunehmenden Geigen. Dann der zunächst fast schüchterne Eintritt der Solovioline, rein, klar, bei aller Zurückhaltung bestimmt. Dann, für einen unbedeutenden Moment, die Klarinette und, gleich darauf, das von der Sologeige ins Spiel gebrachte Thema des ersten Satzes; so leidenschaftlich, hingebungsvoll.

 

Der Beginn des dritten Satzes, in diesem unerhört kraftvollen, akzentuierten, bedrohlichen 4/4-Takt-Zusammenspiel der Pauke, der Bässe und eben der Solovioline – was für ein ungeheurer, stürmisch vorwärtsdrängender Rhythmus! – ist nichts weiter als die Verzweiflung des Ton gewordenen drängend-bedrängenden Glücks. Nach wenigen Takten wird die eingängige Melodie abgeändert, da sie sich sonst im Banalen, Gassenhauerischen verlieren würde. Ganz eindeutige Walzeranklänge. 3/4-Takt. Eins, zwei drei, Eins, zwei drei … Die Füße schweben über den Boden. Aber dann wird’s wieder dunkel, bedrohlich geradezu; den Rhythmus freilich, der das Alles zusammenhält, hört man trotzdem, bei allen Variationen, die ganze Zeit heraus. – Ungefähr in der Mitte dieses Satzes, das ist so unerhört … der Klang der Geige – wie das scheu-klägliche Piepsen gerade erst geschlüpfter, in ihrer nackten Ausgesetztheit zitternder Vögel, wie von ganz weit weg, unheimlich in seiner aufgelösten, verschwebenden Eindringlichkeit – wohlgemerkt, in der Mittellage. Was für ein Griff! Flageolett. Es ist, als ob die Hahn einen ganzen Abschnitt der Seite, mehrere Töne gleichzeitig oder gleich mehrere Seiten zumal greift, und es erklingt trotzdem nicht, wie es doch sein muss und nicht anders sein kann, der oberste Ton, sondern alle zusammen. Vereint-getrennt! Es klingt, ganz ohne Tremolo, klagend, weh-verloren.

 

Erneut und beschließend: das Spiel dieser Geigerin. Bewussteste Präsenz gepaart mit einer Hingabe, die wie verloren, schlafwandlerisch wirkt; ganz und gar unbewusst und auf keinen Fall selbstreflektiert. Von Ziererei und Liebäugeln, das versteht sich von selbst, nicht der Hauch einer Spur.

 

Diszipliniert, konzentriert und in dieser hochbewussten Gegenwärtigkeit wie versunken, in sich selbst eingesponnen bei aller Entschlossenheit, draufgängerisch, energisch und kraftvoll, auftrumpfend geradezu, und dann wieder zart, fragil, das ist das Charakteristikum des Spiels dieser Virtuosin in des Wortes guter Bedeutung, die, da sie den disparatesten Gefühlslagen mit einer ungeheuren Leichtigkeit Ton zu geben vermag und so vermutlich die Komposition zu sich selbst, ihrer eigentlichen Intention, ihrem innersten Wesensgehalt geführt hat, so wirkt, und das ist wahrscheinlich dafür, dass sie so spielen kann, in der Tat nicht ganz unerheblich, als ob ihr jede Art von Allüren fremd sind. Auf jeden Fall spielt sie so.

 

Es ist, ein erneuter und letzter Anlauf, als ob ein Automat spielt, eine Marionette, die, ihrer selbst vollkommen unbewusst, an Fäden gezogen, von fremder Hand dirigiert wird und dabei, ein Widerspruch in sich, sich in seliger Selbstvergessenheit – ja, es ist eine Puppe, die, grotesk!, eine Seele hat und sich ihrer im Spiel entäußert, ihre Seele zu der des Zuhörers werden lässt, der sich in der Musik verliert und sich nur und ausschließlich so verlieren und dabei selbst finden kann – hingibt, ganz in der Musik verschwindet, eins mit ihr ist.

 

Eines freilich ist über allen Zweifel gewiss, dass diese Künstlerin ein Mensch ist, der unvertraut ist mit einer Welt der Mediokrität und der Perfektion. Es mag verwegen klingen, aber ich behaupte, dass es diese Geigerin, ob bewusst oder nicht, darauf abgesehen hat, selbst die Geige zu sein, die sie spielt. Also nicht der Mensch zu sein, der auf dem Instrument spielt, sondern, im Idealfall, dieses Instrument selbst. Vermutlich ist es eine Unterstellung, aber ich würde mich nicht wundern, wenn diese Frau kein Mensch, sondern ihre Geige sein wolle, wenn sie in ihrem Spiel vermittelst der Geige, die sie in diesen Momenten sei, zur Komposition selbst werden wolle, indem sie sie zu ihr selbst führe, indem sie sie spiele. Das Ideal wäre, der Interpret wäre die Geige, der Interpret selbst wäre oder machte sich überflüssig in seinem Spiel, hätte sich selbst nicht nötig. Hilary Hahn ist die, die sich in ihrem Spiel als Spielerin selbst annulliert. Und da ist er dann wieder, der Ernst des spielerischen Hingegeben- und Verlorenseins.

 

Was nichts anderes heißt, als, entweder vollständig in die Musik hinein- und in ihr unterzugehen oder es am besten gleich ganz sein zu lassen. Das ist zwar viel verlangt, aber ohne das ist die Musik und die Kunst als Ganzes verloren.


Hilary Hahn

Neueste Einspielung:

Paris, CD, Deutsche Grammophon (DG), VÖ: 05. März 2021

Weitere Informationen

 

YouTube Videos:

- Hilary Hahn plays J.S.Bach Violin Concerto No.1 in a minor BWV1041-Deutsche Kammerphil. Bremen (2020, 15:25)

- Hilary Hahn - Berlioz and Sibelius - Violin Concerto and Symphonie fantastique - Mikko Franck (arte-Concert, 2020, 1:44:09)

- Sibelius : Concerto pour violon (Hilary Hahn); (l'Orchestre philharmonique de Radio France, 2019, 36:29)

- Hilary Hahn, interview on Jean Sibelius (engl., franz. Untertitel, 2019; 2:29)

 

Hilary Hahn bei KulturPort.De: In 27 Pieces – The Hilary Hahn Encores

 

 

Abbildungsnachweis:

Hilary Hahn Plays Bach: Sonatas 1 & 2, Partita 1 – DECCA, Cover

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