Film
Tenet Christopher Nolan

Niemand beherrscht das Kino als Zeitmaschine so virtuos wie Christopher Nolan. Der fünfzigjährige in London geborene Hollywood-Regisseur erfüllt sich mit „Tenet” den Kindheitstraum eines raffinierten Spionagethrillers à la James Bond: Science-Fiction mutiert bei ihm zur abenteuerlich philosophischen „Mission Impossible”, überwältigt den Zuschauer, als wäre er ein feindlicher Gegner.

Der ungewohnte atemberaubendes Sound der Kompositionen von Ludwig Görnasson vibriert in unseren Körpern, während die Truppen nicht nur aus entgegensetzten Richtungen, sondern auch aus verschiedenen Zeitachsen angreifen. Es ist kein nuklearer Holocaust, der die Menschheit bedroht viel mehr ein temporaler. Dahinter verbirgt sich wie in Gotham City jener Bösewicht par excellence, dessen Kindheitstraum sich als Enttäuschung entpuppt, der zerstören muss, was er nicht besitzen kann.

 

„Tenet” ist ein cineastisches Wunderwerk, während der 151 Minuten Spieldauer über die rätselhafte chronologische Umkehrung von Ursache und Wirkung zu grübeln, nützt wenig, einfach sich überwältigen lassen, dann noch einmal anschauen und noch einmal. Es gilt auch die Kinobranche zu retten, Nolan war der Einzige, der seinen Blockbuster trotz Corona-Krise nicht zurückhielt, auf volles Risiko geht, sich den Streaming-Diensten standhaft verweigert. Kompromisse macht er keine genau wie sein Held, verkörpert von John David Washington. Dessen Name bleibt ein Geheimnis, für uns ist er einfach „der Protagonist”, der Agent selbst erkennt erst am Ende, welch entscheidende Rolle er spielt.

 

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Der Film beginnt in einen Kiewer Opernhaus, die Instrumente werden noch gestimmt, Terroristen stürmen den vollbesetzten Saal, Detonationen, Gewehrsalven, mit brachialer Gewalt tritt ein Vermummter in das Cello, das Instrument zersplittert. Schon diese Szenen sind grandios inszeniert. Worum es geht, wird nur angedeutet, ein Paket in der Garderobe? Höchste Konzentration ist gefordert. Wie wichtig jedes Wort ist, vor allem die Perspektive, aus der das Geschehen sich präsentiert, begreifen wir erst später. Der Protagonist, noch beim CIA, wird gefoltert, sein Wissen gibt er nicht preis, schluckt die Todeskapsel, hart und geschickt muss er darum ringen. Mit „Willkommen im Jenseits” begrüßt man ihn beim Aufwachen im Krankenhaus. Er gilt als tot, aber der Test ist bestanden und er zu höheren Aufgaben berufen als beim britischen Geheimdienst. Was im Einzelnen, weder der Agent noch wir haben anfangs eine präzise Vorstellung davon. Ein Dritter Weltkrieg droht, die Zivilisation muss vor dem Untergang gerettet und jede Art von Wissen hart erkämpft werden bei Nolan. Eine Geste, zwei verschränkte Hände und das Wort „Tenet”, es kann die richtigen Türen öffnen und auch die falschen.

 

Was, wenn man auf den Abzug einer Pistole drückt, und das Einschussloch in der Scheibe verschwindet, die Kugel fliegt zurück in den Lauf. „Invertierte Materie” heißt das Zauberwort, die Umkehrung der Entropie. Das gefährliche toxische Material befindet sich schon in vielen Metallen und Waffen aller Art. Die Wissenschaftlerin im weißen Kittel empfiehlt ganz im Sinne des Regisseurs: „Versuchen Sie nicht, es zu verstehen, fühlen Sie es.“ Dafür sorgt schon der Soundtrack, der aufwühlt und zugleich den Zuschauer in einen seltsamen Trance versetzt, jener Effekt variiert von Kino zu Kino und deren Soundsystem. Gleich aber ist überall das Wettrennen um die neue Technologie, die gefährliche Jagd auf den Bösewicht, einen russischen Oligarchen (Kenneth Branagh), Mittler zwischen den Zeiten. Nur Töten ist keine Option, in diesem Moment würde über einen Pulsmesser am Handgelenk die Apokalypse automatisch ausgelöst, es gilt also das System zu überlisten. Verstehen ist existenziell und unser Ehrgeiz geweckt. Wie man sich Zugang zu der Frau des russischen Waffenhändlers verschafft, verrät Michael Caine dem Protagonisten im Londoner Luxusrestaurant und hätte auch noch die Adresse für einen exquisiten Schneider parat. Der Geheimagent möchte sich um seine Sakkos selber kümmern, die Briten hätten schließlich kein Monopol auf Snobismus.

 

Das mit den Anzügen löst der Protagonist hervorragend, überhaupt ist mit ihm eine ultimative James Bond Version entstanden. Was wollen wir auch noch mit jenem eitlen selbstgefälligen Fatzken und seiner Lizenz zum Töten, den Bondgirls als Macho-Staffage, genug der anzüglichen Jokes, kuriosen Wunderwaffen und erotischen Trophäen-Jagd. Schon vor Jahren wurde der Ruf laut nach einem schwarzen 007 Agenten, Idris Elba im Gespräch, nun das allein wäre noch keine Garantie für die innere Erneuerung des Geheimdienst-Enfant Terribles im Dienste ihrer Majestät. Die Emotionalität der Charaktere hält Nolan bewusst niedrig, die metaphorische Architektur der Bildkompositionen, das grotesk listige Spiel mit Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit sind sein eigentliches Ausdrucksmittel. Auch wenn wir kaum etwas Privates über den Protagonisten erfahren, wir glauben ihn zu kennen, Loyalität hat er nicht nur vor dem Auftraggeber unter Beweis gestellt, Klimmzüge macht er in schwindelerregender Höhe, seine Intelligenz fasziniert ähnlich wie die Ruinen, die sich in Sekunden wieder in das ursprüngliche Gebäude verwandeln oder das umgestürzte Autowrack, das eben noch die Highway blockierte und wenig später schon sich aufrichtet, um die eigene Achse dreht, sich selber ausbeult und rückwärts von dannen rast. Wir sehen des Protagonisten kühle Schlagfertigkeit als Teil dieses surrealen Thrillers in der Tradition von Michelangelo Antonionis „Zabriskie Point“ (1970) mit seinen für uns visuellen Offenbarungen. Für einen Augenblick erhascht der Protagonist den Blick auf sich selbst in einer anderen Zeitebene.

 

Christopher Nolan, der europäische Sensibilität mit amerikanischer Blockbuster Mentalität verbindet, suchte nie nach strahlenden Helden, ihn interessieren die traumatisierten Einzelgänger wie in „Memento” oder „Insomnia”. Ihre Albträume, Ängste, Selbstzweifel und Schuldgefühle, ihr Hass auf sich und andere. Jeder von ihnen versucht die Vergangenheit zu verdrängen, flieht vor sich selbst genau wie Bruce/Batman in „The Dark Knight Rises”. Nolan entdeckt Menschlichkeit, wo andere nur Widerwillen empfinden. Wo andere verurteilen, will er verstehen. Damit hat es ein Ende, Einzelgänger bleiben sie, nur noch die Aufgabe zählt für die Männer, die wir hier bewundern. Eine neue Ära ist angebrochen, Altruismus braucht es, Opfermut, Selbstaufgabe, also wirkliche Helden. Der Protagonist schwimmt gegen den Strom, wie Nolan es in Interviews von sich behauptet, vielleicht können nur so Welt und Kino gerettet werden. Dem Geheimagenten wird Neil (Robert Pattinson) zu Seite gestellt, Experte für technisch ausweglose Situationen, ironisch, lässig, der gerne auch tagsüber einen Gin Tonic ordert. Die beiden harmonieren nicht unbedingt, Misstrauen vergiftet die Zusammenarbeit, aber am Schluss des Films werden sie sich mit dem abgewandelten „Casablanca”-Zitat wie Freunde von einander verabschieden. Die Worte „Anfang” und „Ende” erlangen durch „Tenet” für uns eine neue Bedeutung.

 

Die destruktive Kraft der Eifersucht hat die Ehe zwischen Kat (Elizabeth Debicki) und dem russischen Oligarchen längst zerstört, Kat beging einen Fehler, für den muss sie nun büßen, ist erpressbar, und dann ist da vor allem natürlich ihr siebenjähriger Sohn. Der Protagonist fragt sich, wer diese Frau ist, die einen skrupellosen Waffenhändler geheiratet hat, er versucht trotzdem zu helfen, wenn auch zunächst aus wenig altruistischen Motiven heraus. Nolan kreiert mit Kat eine zerbrechliche edle „Vertigo”-Gestalt, mit ihren 1,90 wirkt sie seltsam fragil, einsam, die heimliche Verzweiflung ist fast körperlich spürbar, ihre Schönheit nicht die eines Models, eher altjüngferlich spröde. Ihr Mann bleibt der Einzige, über dessen Herkunft wir mehr erfahren. Aufgewachsen in einer der strahlenverseuchten namenlosen Städte der Sowjetunion. „Tenet” polarisiert, Catherine Shoard vom Guardian bezeichnet den Film als „palindromischen Blindgänger”, ihr Kollege Peter Bradshaw ist dagegen des Lobes voll. Wer auf schnell zugängliche Plausibilität pocht, wird sich schwertun. Über „bombastische Ungereimtheiten” stöhnen manche, auch wenn sie vom Spektakel selbst angetan sind.

 

Nolans ästhetisch opulentes Gedankenspiel des scheinbar Unfassbaren ist mentales Survival Training, ein wahnwitziges symbolträchtiges Abenteuer, das die Standards für Spannung hochschraubt.

 

„Das Besondere an der Kamera ist, dass sie Zeit wirklich sieht,” erklärt Nolan. „Bevor die Filmkamera existierte, gab es keine Möglichkeit für Menschen etwas wie Slow Motion oder Reverse Motion wahrzunehmen. So ist Kino selbst das Fenster zurzeit, das erlaubte, dass dieses Projekt verwirklicht werden konnte. Es ist buchstäblich eine Story, die nur existiert, weil es Filmkameras gibt.” Seine Inspiration war weniger Martin Heidegger, sondern der niederländische Künstler M.C. Escher. Estland, Italien, Indien, Dänemark, Norwegen, Großbritannien, die USA, anders als in den herkömmlichen James Bond Thrillern, verzichtet „Tenet” auf das ostentative Vorführen touristischer Sehenswürdigkeiten, es streift Orte wie Mumbai oder London fast beiläufig, saugt nur die Atmosphäre und die Farben ein. Das dunkle Blau des Meere an der Amalfiküste ist schmerzhaft schön, doch Vergnügen gibt es für die Akteure nicht, selbst die Spritztour mit dem Motorboot ist nur Intermezzo vor einer gefährlichen Auseinandersetzung. Unabhängig davon wie diffizil eine Actionszene ist, Nolan meidet Computeranimationen so weit wie möglich. Wenn sich ein Laster überschlägt, dann tut er es auch in der Realität genau wie die Boeing 747, die in Flammen aufgeht. Das gibt dem Film nicht nur seine wuchtige unmittelbare Überzeugungskraft, sondern rückt auch den Wechsel zwischen parallelen Zeitebenen näher an die Wirklichkeit heran. Am eindrucksvollsten von allen Location das finale Schlachtfeld brutalistische Betonbunker sowjetischer Architektur. Vielleicht kann sich „Tenet” nicht mit „Inception” oder „Dunkirk” messen, ist aber trotzdem ein hochemotionales unvergleichliches Erlebnis: Die Umkehrung der Linearität eröffnet völlig neue Perspektiven auf Vergangenheit und Zukunft, das bis dahin Paradoxe wird erfahrbar, erlebbar gemacht.

 

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Originaltitel: Tenet

Regie & Drehbuch: Christopher Nolan
Darsteller: John David Washington, Robert Pattinson, Elizabeth Debicki, Dimple Kapadia, Aaron Taylor-Johnson, Clémence Poésy, Himesh Patel, Michael Caine, Kenneth Branagh
Produktionsland: USA, Großbritannien, 2020
Länge: 151 Minuten
Kinostart: 26. August 2020
Verleih: Warner Bros. Pictures

 

Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright Warner Bros. Pictures

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