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Der Eröffnungsfilm des Japan-Filmfest Hamburg ist keineswegs streng japanisch. Eine Reihe chinesischer Mitarbeiter sind an Bord, es wird sowohl japanisch als auch chinesisch gesprochen und die Angelegenheit spielt sich auf der Bühne und vor der Kulisse Taiwans ab, anfangs in der Großstadt Taipeh.

Hier flieht der junge Japaner Makino (Satoshi Tsumabuki) aus einer Wohnung, springt aus dem Fenster, klettert über einige Dächer und landet in einer belebten Straße – während einer seiner Verfolger wütend sein liegengebliebenes Handy tottritt. Und obwohl es eben noch um sein Leben zu gehen schien, hellt sich, jetzt in Sicherheit, sofort Makinos Miene auf, er albert ein wenig mit zwei kleinen Mädchen herum und schlendert offenbar ganz zufrieden seines Weges.


Denn dieser junge Mann, obwohl (wie wir später erfahren) Auftragskiller, ist ein heiterer Charakter. Immer wieder gleiten ihm die Lippen zu einem Lächeln auseinander, als sei das nun mal sein Gesichtsausdruck in Ruhestellung. Er ist lebhaft, er kaspert gern und er quasselt viel.

Ausgestattet mit diesen Attributen setzt er sich zu Shima (Etsushi Toyokawa), der gerade Nudeln schlürft, an den Tisch vor einem Restaurant und plappert ihn voll. Er spricht ihn mit seinem Namen und auf Japanisch an, scheint eine Menge über ihn und seine Vergangenheit zu wissen und macht die geheimnisvolle Andeutung, er wäre sein Retter.


Shima seinerseits, ebenfalls ehemaliger japanischer Auftragskiller im Exil, hat offensichtlich keine Ahnung, wer Makino ist. Das zeigt er aber nicht sehr laut – wenn Makino den Heiteren darstellt, so Shima den einsamen Samurai, mindestens zwanzig Jahre älter und mit einiger Resignation im Pokerface. Er wird von Erinnerungen gequält, vor allem an eine Frau, Shin Ru, die getötet wurde, was er nicht verhindern konnte. Shima leidet an Albträumen, nachts und am Tage, erträgt das jedoch unerschütterlich und bleibt cool, auch und gerade, wenn so ein Bengel daherkommt und ihn verblüffen will.

 

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In der nächsten Szene liegt Makino in Shimas Wohnung, gut verschnürt, und jammert laut und andauernd, man möge ihn sofort losbinden, er muss nämlich ganz furchtbar dringend pinkeln! Was ihm im letzten Moment gewährt wird.
Shima, der immer noch in Fasern seiner Vergangenheit klebt und sich auch in diesem Land mit Gangstern zusammengetan hat, erhält indessen den Auftrag, Makino umzulegen.
Anstatt dem zu folgen, verlässt er mit dem jungen Mann mitten in der Nacht – aus Gründen der Tarnung in einem Schlachter-Kleintransporter – die Stadt. Makino sitzt zwischen schaukelnden Tierhälften (in einer davon hat Shima sein Schießeisen versteckt), schlägt nach Fliegen und fragt sich und seinen Begleiter, was das soll.
Sie fahren in die bergige Region im Osten der Insel, in die Nähe des Meers, der Film wird für eine Weile zum Road-Movie. Das Häuschen, in dem sie bleiben wollten, ist mehr als besetzt, darin wohnt eine arme Familie. Die beiden Gangster verzichten nobel darauf, die Leute zu vertreiben und nächtigen auf den Holzbänken eines Lokals in der Nähe. Hier arbeitet die bildhübsche Hsin-Ying Hsieh (Nikki Hsieh), die übrigens beide Männer sofort an die verstorbene Shin Ru erinnert. Was kein Wunder ist, da Shin Ru in den kurzen Erinnerungs-Sequenzen natürlich auch von Nikki Hsieh dargestellt wird.


Hsin-Ying Hsieh ist den Schlachter-Lieferanten gegenüber zunächst mal etwas schnippisch. Da ihre Mutter Japanerin ist, beherrscht auch sie die Sprache und fungiert für die beiden Kerle als Dolmetscherin. Eine Kollegin redet ihr ins Gewissen, diese netten Männer, die so selbstlos auf ihre gemietete Unterkunft verzichten, könne sie doch gut in ihrem großen Haus unterbringen.

Hsin-Ying Hsieh tut das schließlich wirklich. Ihre bemerkenswerte Villa in der Einsamkeit sieht aus wie ein sachte heruntergekommenes italienisches Land-Schlösschen, ist jedoch mit viel Geschmack durchaus Europäisch eingerichtet, zumindest in den Zimmern, die wir sehen dürfen.
Offenbar hat die junge Frau auch ein paar Tage frei genommen, denn sie bleibt im Haus, flirtet ein bisschen mit beiden Männern – sehr zu Recht, beide sind ausgesprochen attraktiv – was allerdings mit Makino bedeutend mehr Spaß macht, weil er, im Gegensatz zum stoischen Shima, charmant reagiert.


Wir befinden uns hier im Auge des Sturms, weit weg von der Stadt und den Bösen, so scheint es. Für einen Augenblick erleben die drei Menschen eine Idylle, ein sehr vorsichtiges Miteinander. Sie fahren beispielweise sehr spät nachts durch eine menschenleere Stadt, Makino auf dem Fahrrad, Hsin-Ying Hsieh hinter Shima auf einem Motorrad, alle ohne Helm und Schutzkleidung in einer verträumten Zeitlupenfahrt, wie Paul Newman mit Katherine Ross in seiner ‚Raindrops Keep Falling on My Head‘-Szene aus Butch Cassidy and the Sundance Kid. Gejagte Gangster in ihrer Freizeit halt, bevor es gefährlich weitergeht. Jeder darf mal kurz glücklich sein.

 

Ich las in einer Kritik zu diesem Film, die Musik sei besser als die Story – das ist etwas gemein und vielleicht eine Anspielung darauf, dass Regisseur Yoshihiro Hanno ursprünglich ein sehr erfolgreicher Komponist von Filmmusik war. „Paradise Next“ ist seine dritte Regiearbeit.
Natürlich steckt viel interessanter Sound im Film, Ryuichi Sakamoto, ein Freund und Kollege von Hanno, hat die schwermütige Stimmung eingefangen und ausgedrückt, dazu kommen unterschiedliche Klänge, mal mondän, mal folkloristisch – ist das taiwanesische oder afrikanische Musik? Auf jeden Fall passt es zu den Naturaufnahmen ebenso wie zu den gezeigten (oder versteckten) Emotionen der Protagonisten.

 

Teilweise mutet der Film nicht unbedingt typisch japanisch an – mich erinnerte er manchmal, vor allem in der Stimmung, an ältere französische Werke. In einer Szene von ‚Paradise Next‘ legt etwa legt Satoshi Tsumabuki in einer Bar ein Tänzchen hin, das an Gerard Philipes Choreografie im Film ‚Les Orgueilleux‘ von 1953 erinnert. Vielleicht hat das damit zu tun, dass Yoshihiro Hanno in Paris lebt und sicher nicht unbeeinflusst ist durch die Atmosphäre und die Filmkunstauffassung rundherum.
Ein weiterer Vorwurf eines amerikanischen Kritikers lautet, die Story sei zu unverständlich. Das ist die Schwäche – und die Stärke dieses Films. Tatsächlich wird durchaus nicht alles erklärt bis in den letzten Zipfel. Einige Fakten bleiben undeutlich und etwas verschwommen: so wie im wirklichen Leben, in dem man ja eigentlich auch selten alles ganz genau erfährt.

 

„Paradise Next“ anzusehen lohnt allein wegen der drei eindrucksvollen Hauptdarsteller, wegen der großartigen Regie, der dichten, nachvollziehbaren Stimmung, der hervorragenden Kamera und der interessanten Musik.


Japan-Filmfest Hamburg

19. August bis 2. September 2020

Online-Tickets

Weitere Informationen

 

KulturPort.De ist Medienpartner des Japan-Filmfest Hamburg 2020

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