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DR: Wo ist die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung demnach heute angekommen? Gibt es das Proletariat im Sinn von Marx und Engels überhaupt noch?

 

HW: Nein, ach was, nein, natürlich nicht! Ich meine, wir haben doch heute eine Situation, wo die ärmsten 25 Prozent in unserer Gesellschaft reicher sind als die reichsten 25 Prozent beispielsweise in Mali oder in anderen Ländern. Also da kann man überhaupt nicht von einem Proletariat sprechen. Das Proletariat ist ja eine immer am Elend schrammende, arbeitende Klasse, die ihre Arbeitskraft verkaufen muss. Natürlich gibt es heute Menschen – viele Menschen – die in Fabriken arbeiten, aber wir haben ja eine völlig andere Situation, in der ein Facharbeiter bei VW mehr verdient als ein Professor an der Uni. Auch das ist eine interessante Geschichte, die die Verhältnisse völlig verändert hat.

 

DR: Und mit dem Ende des Proletariats, würden Sie sagen, ist dann auch die historische sogenannte deutsche Arbeiterbewegung zu Ende?

 

HW: Würde ich sagen: ja!

 

DR: Wo werden die Arbeitenden also in hundert Jahren sein, wie sieht dann deren Arbeitsprofil aus, und was werden wir tun?

 

HW: Das weiß ich nicht. Ich habe keine Ahnung, und ich glaube auch nicht, dass das ein lebender Mensch sagen kann. Wir sehen jetzt gerade durch das Corona-Jahr, wie fundamental und wie rasant und wie ungesteuert, also unbeabsichtigt, die Welt sich verändert. Also wer heute noch auf die Idee kommt, eine Prognose für die Welt in hundert Jahren abzugeben, den kann man gar nicht ernst nehmen.

 

DR: Bleibt die Frage, womit Marx und Engels vielleicht doch Recht gehabt haben? Oder gehört deren Ansatz in die historische Mottenkiste?

 

HW: Mit fast allem! Mit absolut fast allem, was sie gesagt haben! Nur funktioniert da die Verelendungstheorie nicht – Menschen ertragen viel mehr und machen dann keine Revolutionen – und das war sicherlich historisch unzutreffend. Das hat es halt nie gegeben. Es hat ja auch nie eine Revolution von Arbeitslosen zum Beispiel gegeben, und das wäre ja der stärkste Punkt in der Verelendungstheorie. Also, das war unrichtig, aber wo zum Beispiel das Potenzial von Marx heute noch gar nicht ausgeschöpft ist, ist an der Stelle, auf die er immer wieder hingewiesen hat, nämlich dass Arbeit zum einen von der Arbeitskraft lebt, aber zum anderen von den Rohstoffen und vom Material, das heißt von Natur. Und wir haben ja bis heute kein aufgeklärtes Naturverhältnis. Insofern müsste man Marx neu lesen, auch unter diesem Gesichtspunkt: Das ist überhaupt nicht überholt! Also, wir kommen überhaupt nicht durch das 21. Jahrhundert, weder kulturell noch wirtschaftlich, wenn nicht ein anderes Naturverhältnis etabliert wird. Auf diese Art und Weise, wie der Kapitalismus im Moment wirtschaftet, zehrt er seine eigenen Voraussetzungen auf.

 

DR: Also bräuchten wir so eine Art „ökologischen Marx“ im 21. Jahrhundert, indem man Marx „neu lesen“ und dabei verstärkt auf seine ökologischen Grundgedanken achten würde, um auf diese Weise der ökologischen Idee Nachdruck zu verleihen?

 

HW: Ja, auf jeden Fall! Wir haben das große Problem, dass die Ökologiebewegung, so wie sie heute ist und wie sie sich in den Grünen verkörpert, sozial blind ist. Und die Sozialdemokratie ist ökologisch blind. Und das geht im 21. Jahrhundert nicht mehr. Die soziale Frage und die ökologische Frage müssen gleichzeitig angegangen werden. Und da kann man mit Gewinn Marx lesen!

 

DR: Welche Orientierungspunkte bräuchten wir insgesamt zukünftig für ein funktionierendes Arbeitsethos?

 

HW: Da antworte ich mit Marx: Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Wie die Verhältnisse sind, so denken die Leute, und so sind auch die Werte. Ich halte gar nichts von Ethik- und Wertediskussionen, die von den materiellen Bedingungen abstrahieren.

 

DR: Das finde ich bemerkenswert, dass Sie losgelöst von den Lebensrealitäten keine Werte in Betracht ziehen.

 

HW: Ja, das endet immer in Sonntagsreden, und das finde ich völlig uninteressant.

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Blick in die Ausstellung "Arbeit ist unsichtbar", Museum Arbeitswelt Steyr. Foto: Klaus Pichler

DR: Dann schlage ich vor, dass wir zum Ausklang unseres Gesprächs bei den „Lebensrealitäten“ bleiben und einmal einen ganz „reellen“ kleinen persönlichen Steckbrief von Ihnen zum Thema Arbeit entwerfen: Wie sieht Ihr Arbeitsprofil konkret aus?

Ich sage Ihnen immer ein Stichwort, und Sie antworten mir einfach mit Ja oder Nein, ob die jeweilige Kategorie für Sie wichtig ist oder nicht, ob sie für Sie eine Rolle spielt oder keine. Auf der Basis kann sich der Leser selbst befragen: Wie arbeitet er oder sie am liebsten? Denn wenn Arbeit „unsichtbar“ und die Zukunft vollkommen offen ist, dann kann man vielleicht auch selbst sehr viel kreieren und muss (oder sollte) das vielleicht auch. Die Herausforderung dabei ist: Wie oder mit welcher Art von „Bewusstsein“, welcher Sensibilität, welcher Introspektion reflektieren wir eigentlich unsere eigene Art des Arbeitens? – Machen Sie mit?

 

HW: Ja.

 

DR: Ist die Tageszeit, zu der Sie arbeiten, wichtig oder nicht?

 

HW: Ja.

 

DR: Ist der Kollegenkreis, in dem Sie arbeiten, wichtig oder nicht?

 

HW: Ja.

 

DR: Sind die Inhalte wichtig?

 

HW (lacht): Ja.

 

DR: Das Honorar – ist das wichtig?

 

HW: Ja.

 

DR: Ist die Vision wichtig, die Sie haben?

 

HW: Ja.

 

DR: Ist der Ort wichtig, wo Sie arbeiten?

 

HW: Ja.

 

DR: Wahnsinn: Das ist alles wichtig...!

 

HW: Ja!

 

DR: – Ist der Druck wichtig? Wie gehen Sie mit dem Druck um?

 

HW: Ich habe keinen Druck.

 

DR: Keinen Druck, ok...! Für einige ist der ja auch wichtig, habe ich mir sagen lassen: Die brauchen den.

 

HW: Habe ich auch schon gehört...

 

DR (lacht): Ist Ehrgeiz wichtig für die Arbeit, würden Sie das sagen? Ist das für Sie wichtig?

 

HW: Wer kann das schon über sich selber sagen...? Wahrscheinlich: ja!

 

DR: Ich finde Ehrgeiz eigentlich etwas sehr Positives und auch ziemlich wichtig. – Ist Gehorsam wichtig?

 

HW: Nein.

 

DR: Ist Fleiß wichtig?

 

HW: Nein.

 

DR: Was halten Sie von Selbstdarstellung? Man sagt: Wer arbeitet, muss auch trommeln... Heutzutage müssen wir uns ja alle verkaufen und tun es gewissermaßen auch: Es ist gemeinhin Teil der Arbeit geworden.

 

HW: Ich sage etwas anderes als Ja oder Nein: lächerlich.

 

DR: Ist Engagement wichtig?

 

HW: Ja, natürlich!

 

DR: Ist Körpereinsatz wichtig?

 

HW: Nein.

 

DR: In welchem Rhythmus arbeiten Sie gerne: „kleckern“ oder „klotzen“? Gleichmäßig oder am Stück? Haben Sie einen bestimmten Arbeitsrhythmus?

 

HW: Nein.

 

DR: Also eher ausgeglichen wahrscheinlich?

 

HW: Völlig anarchisch.

 

DR: Passt... – Sind Ellenbogen wichtig?

 

HW: Nein.

 

DR: Pokern um Geld oder um Gehalt?

 

HW: Nein.

 

DR: Ist ein hehres Ziel wichtig bei der Arbeit?

 

HW: Nein.

 

DR: Vielen Dank fürs Mitmachen.

 

HW: Ja.

Harald Welzer 566x376Harald Welzer. Foto: Jens Steingässer

Harald Welzer – zur Zukunft von Arbeit

 

Zur Person:

Prof. Dr. Harald Welzer ist Soziologe und Sozialpsychologe, Mitbegründer und Direktor von „Futur Zwei. Stiftung Zukunftsfähigkeit“. Er leitet das Norbert-Elias-Center for Transformation Design an der Europa Universität Flensburg und lehrt dort Transformationsdesign sowie als ständiger Gastprofessor Sozialpsychologie an der Universität Sankt Gallen. Er hat zahlreiche Bücher zu gesellschaftspolitischen Fragen und zur Nachhaltigkeit geschrieben, unter anderem „Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird“, „Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand“, „Die smarte Diktatur. Der Angriff auf unsere Freiheit“ oder „Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen“ (alle erschienen im S.-Fischer-Verlag). 2019 hat er den „Rat für Digitale Ökologie“ gegründet. Daneben ist er Herausgeber von „tazFUTURZWEI. Magazin für Zukunft und Politik“. Die Bücher von Harald Welzer sind in 22 Sprachen erschienen. Zudem war er wissenschaftlicher Leiter der im November 2020 ausgelaufenen Ausstellung „Arbeit ist unsichtbar“ (2018-2020) im Museum Arbeitswelt Steyr, Österreich, und Mit-Herausgeber eines gleichnamigen Buchs von 2018. Aktuell unterhielt sich Welzer publikumswirksam mit dem Philosophen Richard David Precht in dessen Fernsehsendung „Precht“ über „Visionen“ und kommentierte in der ZDF-Historien-Doku „Wir bauen auf!“ das deutsche Wirtschaftswunder. Zuletzt ist sein richtungsweisendes Buch „Zeitenwende“, das er während des Corona-Sommers 2020 gemeinsam mit dem Publizisten und Politiker Michel Friedman („Zeitenwende. Der Angriff auf Demokratie und Menschenwürde“) fertiggestellt hat, bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.

 

Buchhinweise:

- Robert Misik, Christine Schörkhuber, Harald Welzer (Hg.): „Arbeit ist unsichtbar. Die bisher nicht erzählte Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Arbeit“, Picus Verlag, Wien, 2018.

- Harald Welzer & Michel Friedman: „Zeitenwende. Der Angriff auf Demokratie und Menschenwürde“, Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2020.

 

Videos:

- Buchpräsentation „Zeitenwende“ mit Harald Welzer und Michel Friedman in der Buchmessen-Ausgabe von „Titel, Thesen, Temperamente“ von und mit Max Moor, 18.10.2020 [Video, verfügbar bis 18.10.2021]

- „Modellfall Steyr: Arbeit ist unsichtbar“ (2018-2020) – Themenbezogenes Porträt von Harald Welzers Ausstellung in Steyr, Oberösterreich

 

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