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Gesichter Afghanistans - Erfahrung einer alten Welt

Zur Ausstellung "Gesichter Afghanistans - Erfahrung einer alten Welt" mit Fotografien von Yvonne von Schweinitz aus dem Jahr 1953 in der Handelskammer Hamburg (2010) und in der Villa Ichon (2011) in Bremen, schreibt der in der Schweiz lebende Autor Habibo Brechna ("Die Geschichte Afghanistans", Zürich, 2005) für Kultur-Port.De nachfolgende Einführung mit dem Titel: "Blick in die Vergangenheit".
Warum die junge Gräfin Yvonne v. Kanitz (1) auf einer Nahostreise 1953 ihren Plan änderte, um in das unbekannte Land Afghanistan zu reisen, statt das schöne Märchenland Hunza (2) zu besuchen, war mir im ersten Moment ein Rätsel. Von Teheran aus, wo sie und ihr Reisebegleiter, der Fotoreporter Hans v. Meiss-Teuffen sich gerade aufhielten, boten sich eine ganze Reihe attraktiver Orte an wie Buchara, Ekbatana, Isfahan, die Moghulstädte Agra, Lahore und Multan. Afghanistan war in jenen 1950er-Jahren vielen Europäern nicht einmal bekannt.

Aber immerhin hatte das Land Mitte des 20. Jahrhunderts die Grenzen der Isolation dank König Amanullah gesprengt. Man konnte in das Gebiet der Afghanen aus allen vier Himmelsrichtungen einreisen. Die Demokratisierung des Landes unter Premierminister Shah Mahmud und Prinz Daoud entwickelte sich stetig. Aber die Reise mit einem Stationcar durch das Wüstenland war immer noch problematisch. Die Strassen waren schlecht, es gab keine Werkstätten und nur sehr wenige Tankstellen.

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Afghanistan grenzte einmal an das Arabische Meer. Durch die Annektierung Belutschistans durch die Engländer wurde Afghanistan 1871 zum Binnenland. Die fruchtbaren Gebiete im Westen, Norden und Osten waren Afghanistan weg genommen worden. Kaschmir und das Peshawartal gingen an die Sikhs. Blühende Städte wie Balch, Herat, Ghazni, Urganj, Zaranj, Kandahar, Merv, Peshawar waren von Dschingis Khan, Timur Leng, Nadir Afshar, den Arabern, Briten, Persern und Russen zerstört oder annektiert worden. Afghanische Dichter und Schriftsteller wie Bedel, Rumi, Jami, Khalili, Nawaii, Tarzi und die afghanischen Künstler Kamalud-Din Bezad, sein Lehrer Mirak Nakasch, Kasim Ali oder der ‚moderne’ Mashal-Ghori wurden als Inder, Perser oder Türken deklariert. In der englischen Literatur war Afghanistan ein Land mit einer Analphabetenquote von 99 Prozent, bewohnt von faulen Menschen und Dieben.
Der marokkanische Forschungsreisende Ibn Battuta warnte im 14. Jahrhundert vor den pashtunischen Wegelagerern sowie vor den prekären Straßen und Pässen im Hindukush. Wallace Smith Murray vom US State Department sagte 1930 in einer Rede vor dem Kongress: „Afghanistan ist ohne Zweifel das fanatischste, feindlichste und rückständigste Land der Welt.“ (3) Lord George Curzon warnte die US-Amerikaner 1924, mit der afghanischen Regierung diplomatische Beziehungen aufzunehmen. Abdur Rahman Khan, der „eiserne Emir“, hatte die Grenzen des zusammengeschrumpften Afghanistans geschlossen, die Akademiker ausser Landes gejagt, die Gründung von Schulen verboten, den Bau von Allwetterstrassen und Eisenbahnlinien untersagt und liess sich mit englischem Geld schöne Schlösser bauen.

Das Zusammentreffen von Gräfin v. Kanitz mit dem afghanischen Kulturattaché Prof. Abdul Ghafur Brechna in Teheran änderte ihre Reisepläne. Sie erfuhr mit Staunen , dass in Kabul eine deutsche, zwei englische und eine französische Oberrealschule existierten, eine grosse Anzahl Primar- und Sekundarschulen vorhanden war und der Schulunterricht im ganzen Land als obligatorisch galt. Deutsche Ingenieure arbeiteten am Bau von Elektrizitätswerken, deutsche Lehrer unterrichteten bis 1942 in Schulen, deutsche Ärzte leiteten afghanische Spitäler und Schweizer Architekten bauten Regierungsgebäude. Brechnas deutschstämmige Frau leitete die Kabuler Mädchenschule. In der Hauptstadt existierte eine deutsche Kolonie. Als die Deutschen auf Druck der Briten Afghanistan 1942 verlassen mussten, sprangen Dutzende von Afghanen, die in Deutschland studiert hatten, in die Bresche. Brechna lud die Gräfin in Teheran ein, bei seiner deutschen Frau in Kabul zu wohnen, da im Haus während seiner Abwesenheit genügend Platz vorhanden war und seine beiden Söhne in der Schweiz und in Deutschland studierten. Vielleicht empfahl Brechna auch dem Begleiter von Gräfin v. Kanitz, welche Ortschaften sie besuchen und welche Strassen sie benützen sollten.
Gräfin v. Kanitz und Herr v. Meiss-Teuffen fuhren durch die persischen Wüsten nach Osten über Mashhad zur Grenzstadt Islam-Qala und dann weiter nach Herat. Die beiden Reisenden stellten fest, dass um Afghanistan keine Mauern und Schützengräben errichtet waren. Ein einfaches Schreiben mit einem Stempel versehen genügte, um den Grenzwächter davon zu überzeugen, dass man die beiden jungen Reisenden überall empfangen konnte. Allerdings hörten die asphaltierten Strassen hinter der Grenze auf. Man musste auf den gestampften, mit Pickel und Spaten erstellten holprigen, mit Schlaglöchern versehenen Strassen die Geschwindigkeit des Wagens auf 30 km/h drosseln, was Gelegenheit gab, die Wüsten Afghanistans, die Nomaden, die ersten Afghanen in ihren traditionellen Kostümen in Augenschein zu nehmen. In Herat waren die beiden überrascht, eine moderne und eine alte Stadt nebeneinander vorzufinden. Sie erlebten gewiss, dass der ganze Verkehr zum Stillstand kam und die Männer die blonde Frau im Sommerkleid mit kurzen Ärmeln genau beobachteten. Ein Afghane hatte damals nicht einmal, bedingt durch ein Tabu der puritanischen Religion, seine eigene Frau ohne Kleider gesehen. Die kurzen Hosen von Herrn v. Meiss-Teuffen wurden nicht einmal von den Regierungsbeamten goutiert. Aber die Afghanen waren kompromissbereit. Sie gaben immerhin in gebrochenem Englisch bereitwillig Auskunft.



Wie erstaunt waren die Reisenden, als sie die von den Briten zerstörte Herater Universität Musalla (4) mit dem Mausoleum von Gauhar Shad (5) besuchten. Die fünf übrig gebliebenen beschädigten Minarette, die wie hohe Schornsteine aussahen und durch Beschiessung mit Kanonenkugeln ihren gesamten Schmuck verloren hatten, standen in einer zerstörten Mondlandschaft. Die Zitadelle von Herat war zu einer Ruine degradiert. Aber am Fuß der Zitadelle stand eine Anzahl offener Läden, in denen der schönste Nomadenschmuck hergestellt wurde. Das Mausoleum von Sultan Ghias-ud-Din im Norden der Freitagsmoschee war verschwunden.
Die Aufzählung der Aggressionen, denen die Stadt Herat und viele andere Ortschaften Afghanistans im Laufe der Jahrhunderte und insbesondere während des 19. und 20. Jahrhunderts ausgesetzt waren, kann man endlos fortsetzen. Gräfin v. Kanitz sah viele nicht vernarbte Wunden, und dass das Volk in großer Armut leben musste. Aber es hütete das Wenige, das es besaß, mit Liebe. Die Fahrt von Herat über Farah, Lashkargah nach Kandahar zeigte, wie ein Despot wie Timur Leng (6) die blühende Ebene um den Helmand-Fluss in eine Wüste verwandeln kann. Trotz mehrerer Rückschläge haben die Nomaden ihre positive Lebenseinstellung nicht verloren. Ihre Gastfreundschaft war und ist sprichwörtlich. Sie bieten aus ihren kargen Reserven ohne Entgelt ein kühles Milchgetränk und Fladenbrot an, Chapati genannt. Die Nomaden würden sogar für einen Gast ein Lamm schlachten. Sie zeigen, wie man einen Kelim webt und begleiten die Gäste zu Fuss bis zur nächsten Ortschaft. Die Frauen präsentieren stolz ihre in Lumpen gekleideten Kinder. Sie brechen nicht zusammen, wenn sie über große Distanzen Wasser in Tonkrügen schleppen müssen.

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Afghanistan ist ein Vielvölkerstaat. Jeder Stamm hat seine ureigene Lebensart. Dennoch haben all diese Eigenarten, Gegensätze und Verstimmungen, die offen oder im Verborgenen zu Konflikten führten, das Zusammengehörigkeitsgefühl der Afghanen nicht schmälern können. Die Afghanen sind gegen feindliche Fremde immer gemeinsam aufgetreten und haben gegen sie mit ihren archaischen Waffen gekämpft. Die Porträts von Gräfin v. Kanitz zeigen, wie die verschiedenen Völkerschaften sich integriert haben. Äusserlich wird es schwer fallen, einen Pashtunen von einem Tajiken zu unterscheiden. Durch die Brutalität des Emirs Abdur Rahman (7) blieben die Hazaras unterprivilegiert. Hazaras, Pashtunen, Tajiken, Uzbeken, Turkmenen und Nuristani stritten um die fruchtbaren Täler und um Wasserstellen. Kafiristan (heute Nuristan) und Swat wurden auf Befehl der Briten durch die Durand-Linie (8) getrennt. Die Bewohner dieser fruchtbaren Gebiete haben diese Schmach bis heute nicht vergessen. Kann man es ihnen verargen, wenn sechs Monate im Jahr kein Wassertropfen vom Himmel fällt und die Hungersnot Scharen von afghanischen Kleinkindern hinwegrafft?

Bis heute versuchen die im Ausland erzogenen und durch Pakistanische Offiziere indoktrinierten Pashtunen, jeden Fortschritt im eigenen Land unter dem Deckmantel des Islam zu untergraben. Das Ausland versorgt sie mit todbringenden Waffen, zeigt ihnen, wie sie im Namen des Islam das Wenige, das das Volk noch besitzt, zu zerstören haben. Als Paradebeispiele können das 51 Megawatt-Kraftwerk Kajakai und die Bewässerungstalsperre im Helmand-Gebiet aufgeführt werden, die immer wieder von den Taliban, die in Pakistan erzogen worden sind, bombardiert werden. Da die Afghanen eigene Kraftwerke nicht betreiben können, muss Afghanistan Strom aus dem Ausland einführen.

Die Bilder von Gräfin v. Kanitz zeigen ein neugieriges und fröhliches, aber auch misstrauisches Volk. Eindrücklich sind die Bilder, wie fast alle Männer einer Dorfgemeinschaft nach dem Freitagsgebet auf die Strasse rennen, um ein ausländisches Paar zu sehen, das ihr Dorf besucht.

Oder ein Volk, das im Atan (9) und in seiner Volksmusik die Freude am Leben zeigt. Ein Volk, das in Minuten der Freude in der Lage ist, den traurigen Alltag zu vergessen. Sie geben den Widerschein eines Lichtes, welches die Gesichter trotz Lumpen und Armut erstrahlen lässt. Die Fotografien zeigen die mächtigen Berge, die Siedlungen, die nach aussen schmucklosen Häuser, die einladenden Teestuben, die Nomadenzelte und ihre Bewohner, die Dörfer, den Staub auf den Pfaden, die Waren in den Dokans (10) sowie die Kleider der Bewohner.

Persönlich zeigen mir die Fotografien, wie Afghanistan vor 60 Jahren aussah. Widrige Zustände haben heute das Land und die Menschen verändert. Die Bilder, die tief in mir schlummerten, wurden durch die Aufnahmen von Gräfin v. Kanitz wieder zu neuem Leben erweckt. Ich habe die Quartiere von Kabul und Kandahar in Gedanken durchwandert, das zerstörte Mausoleum von Gauhar Shad in der Musalla von Herat besucht, mit den Nomaden geplaudert, mit den pashtunischen Tänzern wieder getanzt, die Bamiyan-Grotten und die wundervollen Fresken bewundert und mit dem blinden Sänger wieder Tränen vergossen. Die Bilder zeigen mir die Schönheit des Bamiyan-Tals, die Majestät des Hindukush, und was ein Unmensch wie Dschingis Khan oder der Turkmongole Tamerlan (Timor Leng) aus der blühenden Oase von Helmand, der Stadt Zaranj, einer Kulturstadt wie Balch, oder aus Menschen machen kann. Menschen, die ihr Dorf und ihren Besitz schützen wolltenund aus Blutrache zwischen Brüdern, Verwandten und Nachbarn den Ruin der Samaniden und der Ghaznaviden, heraufbeschworen.

(1) Im Mädchennamen Yvonne Gräfin v. Kanitz, nach der Hochzeit: Yvonne v. Schweinitz.
(2) Hunza bezeichnet ein kleines, verstecktes Königreich im Himalaya (Nordpakistan).
(3) Quelle: Leon B. Poullada „The Kingdom of Afghanistan and the United States: 1828-1973“, Seite 40.
(4) Musalla heißt übersetzt: Haus für das Gebet.
(5) Gauhar Shad (*um 1378 - † 1. August 1457); persische Adelige und erste Frau von Schah-Rukh. Förderin der Literatur und der Künste.
(6) Timur Leng war ein zentralasiatischer Eroberer am Ende des 14. Jahrhunderts und Gründer der Timuriden-Dynastie in Persien.
(7) Abdur Rahman Khan (*1844 - †1. Oktober 1901) war von 1880 bis 1. Oktober 1901 Emir von Afghanistan.
(8) Die Durand-Linie ist eine ungenaue, 2.450 km lange Demarkationslinie zwischen Afghanistan und Pakistan.
(9) Atan ist ein traditioneller Tanz mehrerer Bevölkerungsgruppen in Afghanistan und gilt als Nationaltanz.
(10) Dokans sind offene Verkaufsläden und -stände.


Yvonne von Schweinitz: "Gesichter Afghanistans - Erfahrung einer Alten Welt". Alle Fotos: (c) Yvonne von Schweinitz
In der Reihe „Kunst in der Handelskammer“ erscheint ein Katalog mit Abbildungen der Fotografien und Texten von Prof. Dr. Habibo Brechna, Claus Friede und Mathias von Marcard.

Eine Ausstellung von Claus Friede*Contemporary Art (www.cfca.de) und Marcard Pro Arte & VV GmbH (www.marcard.net)
sowie der Handelskammer Hamburg und der Elsbeth Weichmann Gesellschaft e.V., wurde in Hamburg gefördert durch die Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) GmbH und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
Die Ausstellung in der Villa Ichon, Bremen wird gefördert durch die Markert Gruppe Hamburg/Neumünster (www.markert.eu).

Laufzeit: 15.12.2011 – 21.01.2012
Eintritt frei
FInissage: 21.01.2012 Lesung von Diana Nasher: "Töchterland – Ein Buch über eine deutsch-afghanische Familie" in Kooperation mit dem Heyne Verlag München und dem Literaturkontor Bremen.

Villa Ichon
Goetheplatz 4
28203 Bremen

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