Meinung
KlassikKompass Mittelalter Bauern 4

Zeitenwende: Totentanz und Auferstehung
Wir beenden unsere Reise durch 500 Jahre Mittelalterliche Musik in der ‚Zeit der Dämmerung’, wie ein sehr umfangreicher und hoch interessanter CD-Sampler des Labels Christophorus, den wir herzlich empfehlen wollen, betitelt ist. Richtig gesagt, meiner Meinung nach – wir erreichen die Zeit der Abenddämmerung des Mittelalters und der Morgendämmerung der Renaissance.

Aus „Jedermann – Das Spiel vom Sterben der reichen Mannes“ von Hugo von Hofmannsthal (1874-1929) stammt das folgende Zitat. 1911 uraufgeführt nach einem mittelalterlichen Mysterienspiel. Eine Quelle für den ‚Jedermann’ ist die ‚Comedi vom sterbend reichen Menschen’ des Dichters Hans Sachs (1494-1576)

Tod
„Ich bin der Tod, ich scheu keinen Mann.
Tret jeglichen an und verschone keinen.
Nun ist Geselligkeit am End.
Ring nit vergeb’ner Weis die Händ’.
Schleun dich, jetzt geht’s vor Gottes Thron.
Dort empfängest deinen Lohn
Wie, hat dich Narren wollen bedünken
Das Erdengut und dies dein Leben
Wäre dir alles zu Eigen gegeben?“

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Der Sampler enthält musikalisch alle bekannten ‚Verdächtigen’ beginnend mit dem Gregorianischen Choral der frühen Mönche um 1000, über die Visionen Hildegards, die Minnelieder Walthers von der Vogelweide um 1200 und den ‚Carmina Burana’ zu den ‚Estampies und Rottas’ um 1300 mit dem ‚Lamento Tristano’, hin zu der franco-flämischen Polyphonie des Guillaume Dufay um 1450.

Die Liederbücher aus Rostock, Glogau und Lochheim kommen zu Ton und schließlich der ‚Superhit’ des späten Mittelalters und der beginnenden Renaissance ist enthalten, das Abschiedslied des Komponisten Heinrich Isaak, das in der Tat ein Madrigal-‚Weltschlager’ wurde „Innsbruck ich muss dich lassen“.
Der Komponist Heinrich Isaac (um 1450-1517) schrieb dieses Lied für Maximilian I. von Habsburg, genannt ‚der letzte Ritter’ (1459-1519 ), ab 1477 Herzog von Burgund, ab 1486 römisch-deutscher König, ab 1493 Erzherzog von Österreich und ab 1508 Kaiser des Heiligen Römischen Reiches. Als er zum Deutschen Kaiser gekrönt wurde musste er seine geliebte Residenz Innsbruck und viele seiner liebgewonnen Freunde zurücklassen.

„Innsbruck ich muss dich lassen,
ich fahr dahin mein Strassen,
in fremde Land dahin,
Mein Freud ist mir genommen,
die ich nit weiss bekommen,
wo ich im Elend bin.

Gross’ Leid muss ich jetzt tragen,
das ich allein tu klagen
dem liebsten Buhlen mein.
Ach Lieb, nun lass mich Armen
im Herzen dein erbarmen,
dass ich muss von dannen sein.

Mein Trost ob allen Weiben,
dein tu ich ewig bleiben,
stet treu, der Ehren fromm,
Nun muss dich Gott bewahren,
in aller Tugend sparen,
bis dass ich widerkomm.“

Es ist kein Wunder, dass die Kirche diesen Hit später in die Gesangbücher der Reformation aufnahm und 1555 umdichtete zu ‚O Welt ich muss dich lassen’:
„O Welt, ich muss dich lassen,
Ich fahr dahin mein Straßen
Ins ewig Vaterland.
Mein Geist will ich aufgeben,
Dazu mein Leib und Leben
Legen in Gottes gnädig Hand.

Mein Zeit ist nun vollendet
Der Tod das Leben endet
Sterben ist mein Gewinn.
Kein Bleiben ist auf Erden
Das Ewge muss mir werden
Mit Fried und Freud ich fahr dahin.

Auf Gott steht mein Vertrauen
Sein Antlitz will ich schauen
Wahrhaft durch Jesus Christ,
Der für mich ist gestorben,
Des Vaters Huld erworben
Und so mein Mittler worden ist.“

Die Idee des geistlichen Gesangs ‚O Welt, ich muss dich lassen’ besonders in der zehnstrophigen Fassung ist es – wie in vielen Sterbeliedern – das der Sterbende selbst seinen Abschied von der Welt formuliert. Mit diesem Abschied ist die sogenannte ‘commendatio animae’ verbunden, die Übergabe der Seele an Gott.
Der Christophorus Sampler endet um 1600 mit einem ‚Salve Regina’ des Flämisch-Münscher Komponisten Orlando di Lasso (1532-1594).

Die CD ‚Zeit der Dämmerung’ mit den Känstlern der ‚Choralscholas der Benediktiner Abteil Königsmünster und Münsterschwarzach’, dem ‚Ensemble für frühe Musik Augsburg’, dem ‚Heinrich-Isaak Ensemble’, der Gruppe ‚Estampie’, dem ‚Ensemble le haulz et le bas’, der ‚Capella Antiqua Muenchen’ unter Konrad Ruhland, der Heidelberger Gruppe ‚I Ciarlatani’, dem ‚Ensemble Helga Weber’ , dem ‚Ensemble Hofkapelle’ unter Michael Procter, den Organisten Bernhard Böhm und Jürgen Hübscher, der ’Musica Antiqua Wien’ und der ‚Münchner Dommusik’ enthält fast 80 Minuten beste musikalische Interpretation des Mittelalters bis zur Renaissance und ist zu haben bei Christophorus Records unter den Bestellnummern CHR 77003.

Das ausgehende Mittelalter und die beginnende Renaissance – diese ,Zeit der Dämmerung’ – war auch eine Epoche der religiösen Umbruche und der Mystik und des Aberglaubens. Man sah das Ende der Zeiten voraus und fürchtete sich vor dem Morgen.
Einer der Hauptvertreter der Vorhersage des Endes der Welt war der Seher, Wahrsager, der Apotheker Nostradamus der mit seinen Endzeit visionären Schriften die Welt in Angst und Schrecken versetzte.

Nostradamus, latinisiert für Michel de Nostredame, (1503-1566) war ein französischer Apotheker und hat als Arzt und Astrologe gearbeitet. Schon zu seinen Lebzeiten machten ihn seine prophetischen Gedichte berühmt, welche aus Gruppen von je 100 zusammengefassten Vierzeilern (Quatrains) bestanden, den sogenannten Centurien. Drei Jahre nach seiner Eheschließung, im Jahr 1550, begann Nostradamus mit der Veröffentlichung von jährlichen Almanachen, in denen die ersten Prophezeiungen für das jeweilige Jahr abgedruckt wurden, die fünf Jahre später auch Vierzeiler enthielten.
Die ‚Miracles’, die erwartet wurden bezogen sich auf das Ende der Zeiten. Das Ensemble der frühen Musik Augsburg hat einen eigenen Sampler unter diesem Titel veröffentlicht der die ‚The Ancient Miracles’ (‚Die alten Wunder’) der Musik des Mittelalters noch einmal auf einer Platte zusammenfasst.
Es ist eine Reise durch die umfangreiche Diskographie dieser Gruppe, die es wohl wie kaum eine andere verstanden hat, der Musik des Mittelalters eine neue originale Sound-Sprache zu verleihen.
Das begleitende Heft beschreibt die unendlich, vielfältige Spannweite dieser faszinierenden Musikepoche von 1000 bis 1500 mit Liedern von Oswald von Wolkenstein (1376-1445) bis hin zu Tänzen des Tilman Susato (1500-1564).

„Lieder von Liebe und Leid
Von Verlangen und Sehnsucht,
Lieder von üppiger Lust
Und inniger Zuneigung
Lieder von der Macht des Himmels
Und der Schwäche des Fleisches
Lieder von Traum und Wirklichkeit.

Vom Alltäglichen und Einmaligen
von Übersinnlichem und Kuriosem.

Zärtliches, lärmendes, schmerzendes, heilendes
Echo und Zukunft – die uralten Wunder!’

Die CD „The Ancient Miracles“ mit dem ‚Ensemble für frühe Musik Augsburg’: Sabine Lutzenberger (Gesang, Blockflöte und Schalmei), Hans Ganser (Gesang, Blockflöte und Schlagwerk), Rainer Herpichboehm (Gesang, Chitarra sarazenica und Mittelalter Laute), Heinz Schwamm (Gesang, Fiddle, Dulcimer, Drehleier und Schalmei) und Wolfgang Zahn (Pommer, Dulcian und Schlagwerk) ist zu haben bei Christophorus Records unter den Bestellnummer CHR 77 178.

‚Der Sage nach ließ sich im Jahre 1284 zu Hameln ein wunderlicher Mann sehen. Er hatte ein Obergewand aus vielfarbigem, buntem Tuch an und gab sich für einen Rattenfänger aus, indem er versprach, gegen ein gewisses Geld die Stadt von allen Mäusen und Ratten zu befreien.
Die Bürger sagten ihm seinen Lohn zu, und der Rattenfänger zog seine Flöte heraus und blies eine Melodie. Da kamen die Ratten und Mäuse aus allen Häusern hervorgekrochen und sammelten sich um ihn herum. Als er nun meinte, es wäre keine zurückgeblieben, ging er aus der Stadt hinaus in die Weser. Als aber die Bürger sich von ihrer Plage befreit sahen, verweigerten sie dem Mann den Lohn, so dass er zornig und erbittert wegging.
Im Juni des gleichen Jahres kehrte er jedoch zurück, diesmal in Gestalt eines Jägers, und ließ, während alle Welt in der Kirche versammelt war, seine Flöte abermals in den Gassen ertönen. Alsbald kamen Kinder, Knaben und Mägdlein in großer Anzahl gelaufen. Diese führte er, immer spielend, zum Ostertore hinaus in einen Berg, wo er mit ihnen verschwand. Es waren ganze 130 Kinder verschwunden. Man hat sie nie mehr gesehen…’

Was mag er wohl für magische Melodien gespielt haben, dieser Fänger, die zum Totentanz der Ratten und dann der Kinder von Hameln wurde?

Diese Frage ließ dem Flötisten Norbert Rodenkirchen keine Ruhe und er machte sich auf die musikalischen Spuren des Rattenfängers und veröffentlichte das Ergebnis auf einer wirklich ungewöhnlichen CD unter dem Titel ‚Hameln Anno 1284’.
Das ausführliche Textbuch das dieser Aufnahme beiliegt führt dazu aus:
„(...) Die besondere zeitliche und regionale Nähe zum Kontext des Flötenspielers in Hameln führte Norbert Rodenkirchen auf die Spuren des Sängers Witzlaw III. Prinz und später Fuerst von Rügen aus slawischem Adelsgeschlecht. Wizlaw wurde 1265 geboren und starb 1325 und steht in enger Beziehung zum mysteriösen Musiker ‚Der ungelahrte’ (Der Ungelehrte) aus Stralsund, der vermutliche Wizlaws musikalischer Lehrer war und auf dessen ‚senende wise’ (sehnende Weise) Wizlaw in einem seiner Lieder direkt bezieht (...)“.

Ob das Rätsel um den Rattenfänger damit geklärt ist bleibt zu bezweifeln – sicher ist dem Flötisten eine ausgezeichnete CD gelungen deren Magie man sich kaum entziehen kann. Sie ist auch in sofern interessant als man kaum Musik der Totentänze dieser Epoche kennt und man kann sich gut vorstellen das diese Musik auch dem Knochenmann mit der Sense gut angestanden hätte.

Die CD ‚Hameln Anno 1284’ mit Norbert Rodenkirchen (Mittelalterliche Traversflöten), Giuseppe Paolo Cercere (Symphonia, Fidel, Vielle, Psalterium und Laute) und Wolfgang Reithofer (Schlagwerk)ist wiederum zu haben bei Christophorus Records unter den Bestellnummern CHR 7735.

Und der Sensenmann hielt wahrhaft reiche Ernte, denn das späte Mittelalter ist ab der Mitte des 14. Jahrhunderts durch eine verheerende Pandemie, die als „Schwarzer Tod“ bezeichnet wird, gekennzeichnet.
Sie wird überwiegend für eine Variante der Pest gehalten und gilt demnach als der erste Ausbruch der Krankheit seit dem 8. Jahrhundert.
Man fasste diese ‚Pest’ als Strafe Gottes auf. Das führte vielerorts dazu, dass man sich in sein Schicksal ergab und gar nicht erst versuchte, dem heranrückenden Schicksal zu entkommen. Stattdessen wurden Bußpraktiken empfohlen, um Gott wieder zu versöhnen.
Nach der schweren Pestepidemie, die 1347 begann, endemisierte die Seuche. In lokalen Epidemien suchte sie in den nächsten drei Jahrhunderten in nahezu regelmäßigen Abständen verschiedene Gebiete Europas heim.
Die Pest wütete 1358 in Hamburg und Lübeck und breitete sich 1360 bis 1362 umfassend in den Niederlanden aus so in Holland, Gent, Deventer, Namur, Flandern, Lüttich und Huy. 1369 wurde Schleswig-Holstein heimgesucht, wo danach auch Hamburg, Lübeck, Ratzeburg und Stralsund erneut betroffen waren.
Die Auswirkungen der Pest waren verheerend. Nach der älteren Forschung sind rund 30% der Gesamtbevölkerung Europas zwischen 1348 und 1353 gestorben. Dabei ist zu bedenken, dass es erhebliche Unterschiede von Stadt zu Stadt und von Region zu Region gab.
Manche Städte hatten Sterberaten von 75%. Die Historiker kämpfen hier aber mit großen Schwankungen von bis zu 500% im Einzelfall.
Die Zeitgenossen nahmen den Schwarzen Tod als Strafe Gottes auf für die Sündhaftigkeit der Menschen. Diese Ansichten sind in unzähligen Bildern, Skulpturen und Gedichten verarbeitet und kommen im Laufe der Jahrhunderte immer wieder vor. Der personifizierte Tod, der in Form eines nackten Skelettes oder des bemäntelten Sensenmannes auftritt, kam auch durch die Pest zur weiten Verbreitung, auch wenn es diese Kunstform bereits vorher gab.
Der Totentanz war seit dem 14. Jahrhundert aufgekommen und ist die Darstellung des Einflusses und der Macht des Todes über das Leben der Menschen. Dies erfolgt oft in allegorischen Gruppen, in denen die bildliche Darstellung von Tanz und Tod meist gleichzeitig zu finden sind.

Das älteste Zeugnis eines Totentanzes, welches in Deutschland gefunden wurde, ist die Handschrift der Universitätsbibliothek Heidelberg. Hier wurden den lateinischen Versen, die wahrscheinlich aus dem 14. Jahrhundert stammen, deutsche Übersetzungen hinzugefügt.
In ihrer monumentalen Form waren die an Klostermauern gemalten Totentänze von Wengenklosters in Ulm (um 1440) und in den beiden Dominikanerkonvente in Basel die Vorreiter. Einer der größten bekannten Totentänze entstand um 1484 in der St. Marienkirche in Berlin.
Zwischen 1410 und 1425 entstand in La Chaise-Die ein Wandgemälde mit ursprünglich 30 und heute noch 24 Tanzpaaren.

Bereits 1424 wurde der Totentanz an der Mauer des Pariser Friedhofs Cimetière des Innocents vollendet, der heute jedoch nur durch die Holzschnittfolge des Pariser Druckers Guyot Marchant von 1485 bekannt ist.
In Basel entstanden 1439/40 der Basler Totentanz, auch Predigertotentanz genannt, an der Friedhofsmauer des dortigen Dominikanerklosters und 1460 der Kleinbasler Totentanz in Basel-Klingental. Es folgte um 1460 der Lübecker Totentanz in der Marienkirche von Lübeck.
Die Zeitenwende war da – das Mittelalter ging zu Ende und erste dramatische Veränderungen zeigten sich am Himmel der Morgenröte der ‚Neuzeit’ . Zwei
massive Revolutionen sollten das nächste Jahrhundert und die weitere Entwicklung der Geschichte bestimmen – die Reformation und der Bauernkrieg.

Martin Luther (1483-1546) war der theologische Urheber der Reformation. Im Oktober 1517 verfasste er 95 Thesen und schlug er diese am 31. Oktober am Hauptportal der Schlosskirche in Wittenberg an.
Namentlich die Argumentation Luthers in seiner späteren Schrift ‘Von der Freiheit eines Christenmenschen’ (1520), dass Ein Christenmensch ein Herr über alle Dinge und niemandem untertan sei, sowie seine Übersetzung des Neuen Testaments ins Deutsche 1522 waren weitere entscheidende Auslöser für das Aufbegehren der dörflichen Bevölkerung, das schließlich im sogenannten ‚Bauerkrieg’ mündete. Nun war es auch den einfachen Leuten möglich, die mit dem ‚Willen Gottes’ gerechtfertigten Ansprüche von Adel und Klerus zu hinterfragen. Für die eigene erbärmliche Lage fanden sie keine biblische Begründung, und somit stellten viele Bauern fest, dass die Einschränkung des Alten Rechts durch die Grundherren, dem tatsächlichen Göttlichen Recht widersprach. Gott lasse tatsächlich die Tiere und Pflanzen ohne das Zutun der Menschen und für alle Menschen ausreichend wachsen. Sie erkannten nun, dass sie dieselben Rechte wie Adel und Klerus beanspruchen konnten.

Zum Bauernkrieg kam es dann durch die Ausweitung lokaler Bauernaufstände ab 1524 in weiten Teilen Süddeutschlands, Thüringens, Österreichs und der Schweiz, wobei die Bauern mit ihren ‚Zwölf Artikeln von Memmingen’1525, teilweise auf Luthers These basierend, erstmals fest umrissene Forderungen formulierten, welche als frühe Formulierung von Menschenrechten zählen.
In Schwaben, Franken, dem Elsass und in Thüringen wurden die Aufstände 1525, im Kurfürstentum Sachsen und Tirol 1526 niedergeschlagen

Das Mittelalter und seine reiche Kultur an Kunst, Architektur und Musik gerieten in Vergessenheit – fast dreihundert Jahre.
In der Romantik würde das Rittertum, die Kultur des Mittelalters zum ersten Mal wiedererweckt und idealisiert.
Unter dem Titel „Des Knaben Wunderhorn“ veröffentlichten Clemens Brentano (1778 -1842) und Achim von Arnim (1781-1831) von 1805 bis 1808 eine Sammlung von Volksliedtexten in drei Bänden. Es enthält Liebes-, Soldaten-, Wander- und Kinderlieder vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert.
Auch der Hamburger Komponist Johannes Brahms (1833-1897) veröffentlichte 1894 eine Reihe von 144 Deutschen Volksliedern und bezog sich dabei auf viele der mittelalterlichen Minnelieder von Oswald und aus dem Glogauer oder Lochhamer Liederbuch wie zum Beispiel ‚Wach auf mein Hort’, ‚All mein Gedanken’, ‚Du mein einzig Licht’, ‚Es steht ein Lind’ und andere.
Er setzte und arrangierte zu den alten Texten die Melodien neu und machte sie bis zum heutigen Tag zu Kunst- und teilweise sogar zu Volkslied-Hits.

Sogar die Architektur bildende Kunst nahm mittelalterliche Motive und Formen wieder auf. Die Formensprache der Neugotik orientierte sich an einem idealisierten Mittelalterbild.
Ihre Blüte hatte sie in der Zeit von 1830 bis 1900. Unter der Auffassung, an Freiheit und Geisteskultur mittelalterlicher Städte anzuknüpfen, errichtete man in neugotischem Stil vor allem Kirchen, Parlamente, Rathäuser und Universitäten, aber auch andere öffentliche Bauten wie Postämter, Schulen oder Bahnhöfe.

Die zweite Entdeckung der mittelalterlichen Kultur – namentlich der Musik und ihrer Rekonstruktion fand Mitte des 20. Jahrhundert statt und das sogenannte ‚finstere’ Mittelalter wurde in seiner ganzen spannenden Klangvielfalt und Schönheit neu belebt.
Dazu die Meinung der Musikhistorikerin Annette Kreutziger-Herr zum Abschluss unserer Klassik Kompass Serie über die Musik des Mittelalters natürlich mit Empfehlung dieses Buches zum weiteren Studium dieses hochinteressanten Themas: „Mittelalterliche Musik ist seit der Renaissance verklungen und wurde erst im frühen 20. Jahrhundert umfassend wiederentdeckt und erforscht. Da es jedoch keine aussagekräftigen Quellen über Aufführungspraxis und tatsächliche akustische Bedingungen dieser Musik gibt, ist diese Entdeckung ebenso Rekonstruktion wie Erfindung, die auf Vorstellungen früherer Zeiten basiert.
Stationen der neuzeitlichen Geschichte mittelalterlicher Musik sind im 19. Jahrhundert die Mittelalterrezeption der Frühromantik, die Wiederbelebung der Musik Palestrinas und der künstliche Minnesang, wie er uns etwa in Richard Wagners Bühnenwerken begegnet.
Im 20. Jahrhundert erleben wir die systematische Entdeckung und Erfindung mittelalterlicher Musik und beobachten den Einfluss, den diese ‚neue Musik’ auf die musikalische Entwicklung der Moderne nimmt.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist mittelalterliche Musik integraler Teil unseres musikalischen Weltbildes, ein postmodernes Phänomen der Vergegenwärtigung von Geschichte, die nur existiert als Imagination, als Traum...“

Auszug aus dem Buch von Annette Kreutziger-Herr ‚Ein Traum vom Mittelalter -
Die Wiederentdeckung mittelalterlicher Musik in der Neuzeit.
Erschienen im Verlag Böhlau, Köln unter ISBN : 978-3-412-15202-4.

Was bleibt? – Der Traum – der mit dieser uralten, archaischen Musik immer neu belebt wird. Der Traum des ‚Jedermann’ auf Erlösung von der Erdeschwere – geführt an der Hand des Glaubens – der niemals stirbt und durch Musik seine menschliche und schließlich seine himmlische Dimension erhält.

Glaube
Nun hat er vollendet das Menschenlos,
Tritt vor den Richter nackt und bloß
Und seine Werke allein,
Die werden ihm Beistand und Fürsprech sein.
Heil ihm, mich dünkt es ist an dem,
Daß ich der Engel Stimmen vernehm’,
Wie sie in ihren himmlischen Reih’n
Die arme Seele lassen ein.


Ihr Herby Neubacher


Zum Abschluss der Mittelalterserie auf KulturPort.De erhalten Sie hier sämtliche CD- und DVD-Empfehlungen als PDF-Datei (siehe Anhang-Datei).


Abbildungsnachweis:
Header: Detail aus Aquarellkopie des Basler Totentanzes von 1806 (Johann Rudolf Feyerabend). Original aus dem 15. Jahrhundert mit späteren Überarbeitungen, Temperafarben auf Putz, 200x6000cm.
Galerie:
01. Albrecht Kauw, 1649. Nachbildung der zerstörten Originale des Totentanz' von Niklaus Manuel (Bern, 1484-1530).
02. CD-Cover ‚Zeit der Dämmerung’
03. Mittelalterliche Tänzer, Italien, um 1580
04. CD-Cover „The Ancient Miracles“ mit dem ‚Ensemble für frühe Musik Augsburg’
05. Rattenfänger-Darstellung als Kopie einer Glasmalerei in der Marktkirche Hameln (Reisechronik des Augustin von Moersperg 1592, Aquarell)
06. Lukas Cranach der Ältere: Portrait Martin Luther, 1529, Galleria degli Uffizi, Florenz
07. Arzt in Pestschutz-Bekleidung, Mitte des 17. Jahrhunderts. Die langen Nasen der Masken wurden mit Riechstoffen gefüllt, um die Atemluft vom Gift der Pest zu reinigen. Eine Kristallbrille sollte vor einer Ansteckung durch Blickkontakt schützen.
08. Bauern im Aufstand in Geismar – ihr Widerstand wurde blutig niedergeschlagen. Holzschnitt

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