Architektur
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Unter dem mehrsinnigen Titel „Über die Verhältnisse“ lädt zwischen Mai und Juli die Initiative Hamburger Architektur Sommer e.V. gemeinsam mit 120 Museen, Verbänden, Vereinen, Galerien, Architekturbüros, Fotografen, Künstlern und weiteren Institutionen zu mehr als 200 Veranstaltung im gesamten Hamburger Stadtgebiet ein.
Am 4. Mai wird zum achten Mal das Architekturfestival in Hamburg, das alle drei Jahre stattfindet, in der Universität für Baukunst und Metropolenentwicklung, der HafenCity Universität (HCU) eröffnet.

alt Als 1994 der erste Hamburger Architektur Sommer ins Leben gerufen wurde, hat damals sicherlich niemand vorausgesehen, dass sich daraus eine inzwischen über zwanzigjährige Erfolgsgeschichte entwickeln würde! Er ist das Ergebnis einer Initiative von Einzelpersonen, die sich Anfang der 90er-Jahre in Hamburg gebildet hatte. Zu dieser gehörten u.a. Zdenek Felix (ehem. Direktor der Deichtorhallen), Wilhelm Hornbostel (ehem. Direktor des Museums für Kunst und Gewerbe), Jörgen Bracker (ehem. Direktor des Museums für Hamburgische Geschichte), Hermann Hipp (Professor am Kunsthistorischen Seminar der Universität), Hartmut Frank (Professor an der Hochschule für bildende Künste, heute an der HafenCity Universität), Volker Plagemann (ehem. Senatsdirektor der Kulturbehörde), Egbert Kossak (ehem. Oberbaudirektor) und Ullrich Schwarz (Geschäftsführer der Hamburgischen Architektenkammer). Träger des Architektur Sommers ist ein gemeinnütziger Verein.

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Der Hamburger Architektur Sommer versteht sich als baukulturelle Bürgerinitiative. Er basiert auf dem Engagement und der Eigeninitiative aller Teilnehmer. Von Beginn an bestand die Zielsetzung darin, keine Veranstaltung ausschließlich für ein Fachpublikum anzubieten, sondern durch ein möglichst vielfältiges Programm das allgemeine Publikum zu erreichen. Etwa 300.000 Besucher pro Austragungsjahr sprechen für den Erfolg dieses Konzepts. Hamburg, Europas nicht mehr nur heimliche Hauptstadt der Bautätigkeit, verfügt, anders als Frankfurt, München und Berlin über keinen unabhängigen, institutionellen Ort, der sich schwerpunktmäßig der Präsentation von Architektur widmet. Die Hansestadt hat seinen „Hamburger Architektur Sommer“. Dieser dient mittlerweile anderen Städten und Regionen als Vorbild für ähnliche Formate: jüngste Beispiele dafür sind der Architektursommer im österreichischen Graz, der Architektursommer Rhein-Main (Darmstadt-Frankfurt-Offenbach-Wiesbaden) sowie der Architektursommer Dresden.

Sitz der „Initiative Hamburger Architektur Sommer e.V.“ ist die Hamburgische Architektenkammer im Grindelviertel. Dort laufen die organisatorischen Fäden zusammen. Die Architektenkammer ist als Körperschaft öffentlichen Rechts nicht allein Berufsvertretung, sondern unter anderem auch Initiator für Veranstaltungen und Ausstellungen rund um das Jahr sowie Ausrichter des „Tag der Architektur und Ingenieurbaukunst“ in Hamburg. Selbstredend könnte die Hamburgische Architektenkammer ein Projekt wir den Hamburger Architektur Sommer nicht finanzieren, da hilft die Rechtsaufsicht, die Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt. Es handelt sich bei den Fördermitteln jedoch lediglich um eine Basisfinanzierung, die – schaut man in die Vergangenheit zurück leider ständig gesunken ist. Der Grad zwischen (Über-)Lebensmittel und Sterbehilfe ist schmal und wenn die Stadt weiterhin ein Interesse hat, dieses Architekturfestival zu behalten oder sogar auszubauen, muss sie sich deutlich stärker engagieren! Dass unternehmerische und private Förderer den Hamburger Architektur Sommer unterstützen – und im Jahr 2015 mehr denn je – zeigt, neben den hohen Besucherzahlen, das öffentliche Interesse an der Materie.

Hamburg hat immer wieder Initiativen und Engagement aus dem Nukleus der Kultur hervorgebracht, zu der selbstverständlich die Architektur gehört. Im „Plädoyer für Hamburg“ vom Februar 2011 haben führende Kulturvermittler, Künstler, Journalisten und selbstverständlich auch Architekten dazu aufgerufen, die Stadt als Kulturraum neu zu definieren und der Kulturpolitik nicht allein das Feld zu überlassen. In der bereits zuvor ausgeführten Situation ist es kaum verständlich, dass bei einem Projekt wie dem Hamburger Architektur Sommer (und auch vielen weiteren Architekturinitiativen) die Kulturbehörde auf die Nicht-Zuständigkeit verweist. Sie und die Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt missachten damit nämlich etwas, was in den künstlerischen Feldern wieder überaus erfolgreich praktiziert wird, die genreübergreifende Selbstverständlichkeit der Kooperation. Ist es tatsächlich so schwer auch behördenübergreifend ein Projekt zu verstehen und zu fördern? Irgendein juristisches, politisches oder finanztechnisches Gegenargument für die Behörden wird es schon geben. Es schießt dennoch an der Realität vorbei.

Der Hamburger Architektur Sommer ist jedenfalls genreübergreifend – bis hinein in die Kapillargefäße künstlerischer, baukultureller und vermittelnder Denk- und Aktionsräume.

Den aufmerksamen Lesern des diesjährigen Programms wird nicht entgehen, dass sich viele Veranstalter mit ausgesprochener Leidenschaft dem Bestand und der Baugeschichte widmen. Aber steht dies nicht im Widerspruch zum Selbstverständnis einer prosperierenden Stadt mit städtebaulich weitgreifenden Ambitionen? Die Initiatoren des Hamburger Architektur Sommers denken, nein. Wer gleich zu vielen neuen Ufern an Süder- und Norderelbe, an Kanälen und an der Bille aufbricht, der tut gut daran, sich mit den Verhältnissen aus denen er kommt und in denen er lebt und dann zukünftig leben möchte auseinanderzusetzen. Die Rückversicherungen, sozusagen die Schwarzweiß- und Kodachrome-Strecken im Programm, sind keineswegs nostalgisch motiviert. Architekten, Kuratoren, Stadtplaner und Künstler reklamieren darin den Alltag und die Gegenwart für sich und für uns – denn auch die Zukunft wird nicht umhinkommen, auf beides zurückzugreifen.

Zentraler Anlaufpunkt für Architekturbegeisterte und -fans (Die gibt es nämlich auch!) ist der Kunstverein in Hamburg. Zwischen Deichtorhallen und Galerie der Gegenwart der Hamburger Kunsthalle gelegen, bildet er räumlich das Zentrum der sogenannten „Kunstmeile“. Hier stehen sach- und fachkundige Mitarbeiter den Besuchern zur Verfügung, informieren und geben viele gute Tipps. Das Programm liegt als kostenloses Heft im Taschenformat nicht nur hier, sondern auch an den Veranstaltungsorten sowie in Kinos, Restaurants und Buchhandlungen aus, ist zudem auch unter www.architektursommer.de im Internet zu finden. Hier können sich Besucher auch für die Veranstaltungen anmelden und erhalten Informationen über Eintrittspreise und Veranstaltungsorte.

Bei einem nicht kuratierten Festival liegt es in der Natur der Sache, dass die quantitative und qualitative Bandbreite dessen, was an den über einhundert verschiedenen Standorten gezeigt wird, entsprechend vielschichtig ist. Das Programm zeigt allerdings nicht nur irgendeine wie auch immer gestaltete ungeordnete Vielheit, der Hamburger Architektur Sommer macht in seiner Bündelung überhaupt vieles überhaupt erst sicht- und wahrnehmbar, was in der Stadt als Einzelposition kaum auffällt. Somit wird das Architekturfestival einem urdemokratischen Anspruch gerecht: Meinungsbildung mit wenig hierarchischen Belehrungseingriffen. Das Nachdenken und das Präsentieren von Verhältnissen steht also jedermann offen. Neben zahlreichen Ausstellungen bieten die Veranstalter Diskussionen und Vorträge, Architekturführungen, Konferenzen und Symposien, Filmvorführungen sowie Präsentationen unter freiem Himmel an.

Eines der interessanten Projekte wird im Altonaer Museum stattfinden: Die „Annäherung an Cäsar Pinnau (1906-1988). Person und Werk in kritischer Analyse“ widmet sich einem umstrittenen Architekten, der sein Büro nur einen Steinwurf vom Symposiumsort entfernt inne hatte. Von einem alten klassizistischen Hansen-Haus aus, in der Palmaille, wirke dieser vielseitige und international aktive Architekt. Dass sein Schaffen bislang noch nicht „Gegenstand intensiver Untersuchungen geworden ist, hängt mit seinem Wirken in der Zeit des Nationalsozialismus zusammen: er war unter anderem an der Innengestaltung der Reichskanzlei in Berlin sowie an den städtebaulichen Planungen für „Germania“ beteiligt.“ In der Nachkriegszeit entwarf er Bürokomplexe, Skyscraper und Villen. Auch Ausstattungen für Schiffe und Luxusyachten gehörten in sein Repertoire, bekannteste Beispiele, die „Cap San Diego“ in Hamburg und die Privatyachten von Aristoteles Onassis. (28.5. bis 30.5.)

Die Wiener Künstlergruppe Steinbrener/Dempf & Huber ist mit dem wohl spektakulärsten Projekt am Start: „Capricorn Two“ und „To Be in Limbo“. Das Bismarck-Denkmal in St. Pauli ist das größte seiner Art, nicht nur in Hamburg, sondern in ganz Deutschland, ja weltweit. Errichtet zu einer Zeit, 1906, als sich das Reich erst vor kurzem gefunden hatte und die Nation mit großen Gesten die Ewigkeit ihrer eigenen Größe pries. Martialisch steht der Eiserne Kanzler da und blickt gen Westen. So richtig wahrgenommen wird er von den Hamburger eigentlich nicht mehr, außer es geht um die notwendigen Sanierungskosten dieses Monolithen.

Mit einer animalischen Applikation intervenieren die Künstler in jedwede Bedeutungshoheit. Alles was sich unterhalb des Capra ibexs, des gemeinen Steinbocks, befindet wird zum Sockel. „Bock auf Bismarck“ lässt sich doppeldeutig auch auf den 200. Geburtstag (am 1.4.) des Reichskanzlers Otto von Bismarck in diesem Jahr anwenden. (20.5. bis 2.8.)

„To Be in Limbo“ zu deutsch „in der Luft hängen“ präsentiert einen gigantischen Felsbrocken aus Kunststoff über den Köpfen der Besucher in der Hauptkirche St. Katharinen. Die acht Meter hohe, hohle und 700 Kilo schwere Skulptur soll „das Thema Glauben und dessen bedrohliche Momente“ zeigen. Der Fels verschränkt das „Unglaubliche mit dem Spirituellen“, so die Künstler. (20.5. bis 28.6.)

Beide Interventionen setzen nicht nur die offiziellen und baulichen Genehmigungen voraus, sondern auch die Auseinandersetzung mit der Öffentlichkeit. Für Diskussionsstoff ist hier reichlich gesorgt.

Eine ehe unscheinbar scheinende Ausstellung beschäftigt sich mit Skizzen von Hamburger Architekten und hinterfragt den „Wettbewerb“ zwischen Handzeichnung und Zeichnung am Rechner. Die Skizze ist meist die erste visuelle Idee. Ob diese nun am Rechner oder per Hand hergestellt wird ist für den Bauherren egal – ist aber das Ergebnis das gleiche? Denkt der Architekt überhaupt noch mit dem Stift oder baut der Computer die Zeichnung nach digitalen Vorgaben? Ein Begleitfilm widmet sich ebenfalls diesen Arbeitsweisen. Initiiert wird die Ausstellung von Andrea Nolte Architekten, (Galerie Dorothea Schlueter, Große Bäckerstraße 4, 11.7. bis 27.7.)
Passend dazu beschäftigt sich der Fachbereich Architektur der FH Bielefeld, die zu Gast in der Fachbuchhandlung Sautter + Lackmann mit „Architektur Comics zur Moderne“. Die augenzwinkernden Zeichnungen und Collagen nehmen die Bauikonen der Moderne ins Visier – unbefangen bis anarchisch. (Admiralitätstraße 71-72, 5.6 bis 30.6.)

Ein umfangreiches Kinder- und Jugendprogramm ist ebenfalls wichtiger Bestandteil des Architekturfestivals. In diesem Zusammenhang kann der Hamburger Architektur Sommer jedoch auch nicht darüber hinweg täuschen, dass in Sachen Architektur, Stadt- und Raumplanung noch viel zu tun ist und die öffentliche Aufmerksamkeit für alles was uns heute in Städten und Ballungsräumen umgibt, noch gehörig steigerungsfähig ist. Das fängt bereits in der Schule an und man fragt sich, warum der architektonischen Gestaltung von Raum, der Baukultur an sich, eigentlich, bis auf wenige Ausnahmen, gar kein Platz eingeräumt wird.

Eine positive Ausnahme bildet die sogenannte „Schulbau-Messe“, ein internationaler Salon und Messe für den Bildungsbau mit seinen Schüler-Wettbewerben. Nutzerbeteiligung ist das Stichwort und die Frage: Wie können partizipatorische Prozesse gefördert und im Hinblick auf die gesteigerten Anforderungen an eine lebendige Architektur beim Schulneubau und -umbau durchgeführt werden?

Die Freie und Hansestadt Hamburg investiert nämlich, neben der Landeshauptstadt München große Beträge in den Schulbau, jedoch fokussierten die Verantwortlichen bislang auch hier immer die Kostenersparnis und gaben den ästhetischen Fragestellungen kaum glaubhaftes Interesse.

Hamburg bot die Messe im April, München wird sie im November durchführen. Die Schulbau-Messe ist noch kein Partner des Hamburger Architektur Sommers. Bis jetzt...

8. Hamburg Architektur Sommer

Mai bis Juli 2015
Zentraler Ankaufpunkt: Kunstverein in Hamburg, Klosterwall 23, 20095 Hamburg
Weitere Informationen: Hamburger Architektur Sommer
Informationen zur Hamburgischen Architektenkammer
Informationen zur Schulbau-Messe


Abbildungsnachweis:
Header: Titelmotiv des Hamburger Architektur Sommer 2015. Till Nowak, Habitat, 2012, Computergrafik. Courtesy Claus Friede Contemporary Art Hamburg
Galerie:
01. Architektur-Visionen # 3. Foto: © Julien Donada
02. Annäherungen an Cäsar Pinnau (1906–1988). © Hamburgisches Architekturarchiv, Nachlass Cäsar Pinnau, M. Müller & Sohn, 1939
Veranstaltung: Annäherungen an Cäsar Pinnau (1906–1988): Person und Werk in kritischer Analyse. Bild: Reichskanzlei, Farbfoto, Arbeitszimmer des Staatsministers Dr. Meißner
03.
Annäherungen an Cäsar Pinnau (1906–1988). © Hamburgisches Architekturarchiv, Nachlass Cäsar Pinnau, Fotograf: Bo Parker
Veranstaltung: Annäherungen an Cäsar Pinnau (1906–1988): Person und Werk in kritischer Analyse
Bild: Olympic Tower, New York City, 51st Street, 52nd Street, 1971, Architekten: Skidmore Owings & Merrill Architects, Professor Cäsar Pinnau Consulting Architect
04.
und 05. © Steinbrener, Dempf & Huber
06. Raumstudie Converter Home. Skizzen von Hamburger Architekten – Handzeichnung versus Zeichnung am Rechner. © Merle Zadeh, june architects
07. Skizzen von Hamburger Architekten – Handzeichnung versus Zeichnung am Rechner. © Tim Hupe Architekten
08. Comic: T. Ohliger, N. Diekmann, J. Agushi; Architektur Comics zur Moderne. © Rouli Lecatsa
09. Gasometer in Tiefstack, 1929, Fotografie von Ernst Scheel. Petra Vorreiter – Courtesy: Archiv Ann und Jürgen Wilde
10. Audimax Universität Hamburg, Rohbau bei Nacht, 1957, Architekt: Bernhard Hermkes, Fotografie von Ernst Scheel. Petra Vorreiter – Courtesy: Archiv Ann und Jürgen Wilde.

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