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Litauen ist das süd-westlichste aller drei baltischen Länder und das bevölkerungsreichste mit drei Millionen Einwohnern.

Vilnius (Wilna), Kaunas (Kauen) und Klaipėda (Memel) sind die bekanntesten Städte des Landes mit langen, vielschichtigen Beziehungen und wechselvoller Geschichte. Es ist lange her – ab dem 13. Jahrhundert war das Land ein Großreich, von der Ostsee bis ans Schwarze Meer reichend. Danach litt Litauen im Laufe seiner folgenden Geschichte oftmals unter Auflösung, Angriffen und Okkupation, Repressalien und Unterdrückung (Polen, Russen, Deutsche). Seit 1990 ist die Republik Litauen unabhängig, löste sich in der „singenden Revolution“ von der Sowjetunion und ist seit elf Jahren Mitglied der EU.


Wenn ein Land und dessen Bevölkerung eine derartig wechselvolle Geschichte erlebt haben, dann brauchen sie eine Beharrlichkeit des Glaubens und des Widerstands und Bilder und Symbole dafür. Die sind in Litauen allenthalben zu finden, sichtbare und unsichtbare, hörbare, lesbare, ausdauernde oder schon fast zerstörte. Sie sind Spuren und Überbleibsel, sie sind neugedeutet und althergebracht, sie sind inszeniert und konstruiert. Kurzum, sie sind Kultur und haben sich bis in die Kapillargefäße der Gesellschaft festgesetzt.
Bei allem, was man symbolisch (be)-greifen kann steht aber eines im kulturellen Gedächtnisprotokoll der Litauer verankert: „Selbstbestimmung ist das Instrument der Freiheit!“ Egal ob Akademiker oder Arbeiter, Künstler, Nonne oder Gastwirt – dies gilt für alle gleichermaßen, ob auf dem Land oder in der Hauptstadt Vilnius.

 

Vilnius passt auf eine Porzellankanne
Die heutige Hauptstadt des Landes ist das kulturelle Zentrum Litauens und beherbergt etwas mehr als eine halbe Millionen Einwohner.
An einer Straßenecke in der Altstadt sind in die Fassade einer Hauswand alte Porzellankannen eingelassen. Sie sind verziert, mit Mustern versehen und ragen zur Hälfte aus dem rot-braunen Putz. Eine zeigt einen historischen Stadtplan Vilnius’ aus dem 16. Jahrhundert. „Hier war die Keimzelle der Stadt“, sagt meine Stadtführerin und zeigt in Richtung Ausguss der Kanne: „hier unten am Zusammenfluss der Vilnia und der Neris sind die Straßenzüge noch mittelalterlich, dann dehnte sich die Stadt aus, vor allem gen Osten und Norden und schließlich gen Süden. Hier in der Mitte sind die prachtvollen Barockbauten und gleich im Anschluss daran war das jüdische Ghetto Wilna und da unten, unterhalb des Bodens – jenseits der Neris – ist heute die moderne Stadt mit den Hoch- und Geschäftshäusern, Bürotürmen, Glas- und Betonkuben. Das Geschäftszentrum ist ein Symbol der expansiven Entwicklung des ganzen Landes“, fügt sie noch hinzu.

 

Unter Hammer und Sichel
Seit Ende der 1990er-Jahre ist das öffentliche Tragen von Symbolen und anderer Memorabilien der Sowjetzeit, wie etwa Hammer und Sichel, verboten. Nur wenig erinnert somit auch in der Hauptstadt noch an die Ära und ist dort „gereinigt“, wo es unkompliziert möglich und nötig war: Denkmale und Skulpturen jener Zeit sind außerhalb der Stadt verbannt. Nur einige wenige Statuen können sich Erbe dieser Zeit nennen, wie jene heroischen, Fahnen, Waffen, Ähren und Arbeitsgerät präsentierenden Sowjetmenschen, die seit 1952 bis heute auf beiden Seiten der „Grünen Brücke“ über die Neris zu finden sind – nicht ohne langanhaltende Diskussionen der Bevölkerung, ob sie nicht doch unbedingt verschwinden sollten.
In der Architektur ist das Verbannen schon etwas anderes und komplizierter. Im Gegensatz zu Ost-Berlin, Riga, Warschau oder Moskau ist das stalinistische Wohnhaus (Ecke J. Tumo-Vaižganto- und Goštauto-Straße) eher bescheiden in Höhe und Ausmaß, aber eindeutig als solches zu erkennen. Es wirkt – wie in den genannten Städten – auch hier als Fremdkörper und fällt solitär aus der Zeit.


Das ehemalige Gebäude des NKWD-KGB ist das Symbol der Okkupation und der sowjetischen Repressionen. Einst als Gerichtsgebäude gebaut, wandelten es die Sowjets nach ihrem Einmarsch in Litauen im Jahr 1940 in ein Gefängnis um.
Während der Deutschen Besatzung ging der Terror weiter. Die Gestapo folterte und ermordete dort politische Gegner und jüdische Gefangene. Ab 1944 übernahmen die Sowjets wieder und die litauischen Partisanen, die für die Unabhängigkeit ihres Landes kämpften, wurden während der Stalinzeit das Hauptziel der Verfolgung. Danach alle Dissidenten.
Heute ist das Haus als historisches Monument gelistet und in ihm befindet sich das Museum für Genozidopfer mit der entsetzlichen Statistik der Vertreibungen, Verfolgungen, Inhaftierungen und Ermordungen. Die Ausstellung widmet sich den Widerstandskämpfern gegen die sowjetische Okkupation sowie der erschütternden Gegenwart der Gefängnis- und Folterzellen der Freiheitskämpfer in den Kellern. Kaum ein Besucher den das alles nicht tief berührt!


Symbole dieser Art gibt es zahlreiche weitere im Land wie die „Parkgedenkstätte der Stille Tuskulėnai“. 1994 entdeckten Archäologen Massengräber von 724 ermordeter NKWD-Gefängnisinsassen.

 

Eine Republik in der Republik
Die besagte Selbstbestimmung als Instrument der Freiheit wird in Litauens Hauptstadt besonders im Stadtteil Užupis, am Rand der Altstadt deutlich. Das relativ kleine Terrain ist von drei Seiten vom Fluss Vilnia umschlossen. Es galt vor der Unabhängigkeit als das am meisten vernachlässigte Viertel der Stadt. In den frühen 1990er-Jahren änderte sich der Stadtteil grundlegend und wurde zur Kolonie für Künstler aller Art. Ihre Maxime ist die Freiheit, der Aufbau einer funktionierenden kreativen Gemeinschaft und das Organisieren von Konzerten, Partys und Ausstellungen. Stillstand kennt dieser Stadtteil nicht.


Als Kunstaktion wurde von den Bewohnern die unabhängige „Užupio Res Publica“ (Republik Užupis) ausgerufen, mit eigener Verfassung, Flagge und Präsidenten – und Grenzübergängen am Fluss.


Auf großen Chromtafeln an einer Wand des Viertels ist die Verfassung der Republik  in mehreren Sprachen zu lesen:
1. Jeder Mensch hat das Recht, beim Fluss Vilnia zu leben, und der Fluss Vilnia hat das Recht, an jedem vorbei zu fließen.
2. Jeder Mensch hat das Recht auf heißes Wasser, Heizung im Winter und ein gedecktes Dach.
3. Jeder Mensch hat das Recht zu sterben, aber das ist keine Pflicht.
4. Jeder Mensch hat das Recht, Fehler zu machen.
5. Jeder Mensch hat das Recht, einzigartig zu sein.
6. Jeder Mensch hat das Recht zu lieben.
7. Jeder Mensch hat das Recht, nicht geliebt zu werden, aber nicht notwendigerweise.
8. Jeder Mensch hat das Recht, gewöhnlich und unbekannt zu sein.
9. Jeder Mensch hat das Recht, faul zu sein.
10. Jeder Mensch hat das Recht, eine Katze zu lieben und für sie zu sorgen.
11. Jeder Mensch hat das Recht, nach dem Hund zu schauen, bis einer von beiden stirbt.
12. Ein Hund hat das Recht, ein Hund zu sein.
13. Eine Katze ist nicht verpflichtet, ihren Besitzer zu lieben, aber muss in Notzeiten helfen.
14. Manchmal hat jeder Mensch das Recht, seine Pflichten nicht zu kennen.
15. Jeder Mensch hat das Recht auf Zweifel, aber das ist keine Pflicht.
16. Jeder Mensch hat das Recht, glücklich zu sein.
17. Jeder Mensch hat das Recht, unglücklich zu sein.
18. Jeder Mensch hat das Recht, still zu sein.
19. Jeder Mensch hat das Recht zu vertrauen.
20. Niemand hat das Recht, Gewalt anzuwenden.
21. Jeder Mensch hat das Recht, für seine Unbedeutsamkeit dankbar zu sein.
22. Niemand hat das Recht, eine Ausgestaltung der Ewigkeit zu haben.
23. Jeder Mensch hat das Recht zu verstehen.
24. Jeder Mensch hat das Recht, nichts zu verstehen.
25. Jeder Mensch hat das Recht zu jeder Nationalität.
26. Jeder Mensch hat das Recht, seinen Geburtstag nicht zu feiern oder zu feiern.
27. Jeder Mensch sollte seinen Namen kennen.
28. Jeder Mensch kann teilen, was er besitzt.
29. Niemand kann teilen, was er nicht besitzt.
30. Jeder Mensch hat das Recht, Brüder, Schwestern und Eltern zu haben.
31. Jeder Mensch kann unabhängig sein.
32. Jeder Mensch ist für seine Freiheit verantwortlich.
33. Jeder Mensch hat das Recht zu weinen.
34. Jeder Mensch hat das Recht, missverstanden zu werden.
35. Niemand hat das Recht, jemand anderem die Schuld zu geben.
36. Jeder hat das Recht, individuell zu sein.
37. Jeder Mensch hat das Recht, keine Rechte zu haben.
38. Jeder Mensch hat das Recht, keine Angst zu haben.
39. Lass dich nicht unterkriegen!
40. Schlag nicht zurück!
41. Gib nicht auf!


Die Verfassung beschreibt ziemlich gut die Verfassung der Bewohner.
Die Unabhängigkeit wird alljährlich am 1. April gefeiert. An diesem Tag hält Užupis Wahlen und kostümierte Umzüge ab. Außerdem gibt es nur an diesem Tag eine eigene Währung und Grenzkontrollen mit Einreisestempeln. Den Stempel kann man sich ganzjährig im Café „Užupis Kavine" auf jedes Stück Papier, in den Pass oder gar auf den Handrücken stempeln lassen. In einem der Stadtführer steht: „Am 1. April 2001 wurde auf dem Hauptplatz des Viertels ein Denkmal enthüllt, das zu einem neuen Symbol von Užupis geworden ist. Die Skulptur stellt einen Engel dar, der Trompete spielend die Erneuerung und die künstlerische Freiheit des Stadtteils symbolisiert. Seither wird Užupis auch „Engelsrepublik“ genannt“.

 

In dreizehn Tagen über die Brücke von Kaunas
Kaunas ist die zeitgrößte Stadt Litauens und war einst Hauptstadt. Kirchen, Klöster und das einzige Priesterseminar weit und breit sowie alte gotische und barocke Bürgerhäuser prägen das Bild der Stadt. Die reichen Patrizierhäuser sind restauriert, Bars, Cafés, Restaurants und kleine Galerien, Boutiquen und Läden definieren die Kopfsteingassen der Altstadt.
Ein historisches Kuriosum hat Kaunas auch zu bieten und die Geschichte wird bis heute gern erzählt: Einst, so um 1790, war hier an der Memel die "längste Brücke der Welt“. Kaunas gehörte damals zu Russland, während auf der gegenüber liegenden Seite Preußen lag. In Russland galt bis ins 20. Jahrhundert hinein noch der julianische-, in Preußen allerdings der gregorianische Kalender, der um 13 Tage zurücklag. Fuhr also jemand von Russland nach Preußen über die Memel, dann dauerte seine Brückenüberquerung ganze 13 Tage!

 

Der Symbolist
Wohl nur wenige haben hierzulande jemals den Namen Mikalojus Konstantinas Čiurlionis gehört oder gelesen. In Litauen ist er hingegen einer der bekannten großen Künstler. Als Komponist und Maler ist ihm in Kaunas ein eigenes Museum gewidmet. Čiurlionis (1875-1911) schuf ein reiches Oeuvre und kombinierte musikalische Methoden auf die Malerei: „Sonate der Sonne“ beispielsweise besteht aus vier Bildern mit den Untertiteln „Allegro“, „Andante", „Scherzo“ und „Finale“. Seine Zyklen von mystisch und symbolisch aufgeladenen Landschaften zeigen oft biblische oder naturhafte Erscheinungen oder widmen sich den Tierkreiszeichen. Auch werden Märchen und Mythen verarbeitet. Er ist einer der ersten Künstler, der sich dem Medium der Fotografie bedient und Vorlagen für seine Malerei schuf. Das Čiurlionis-Museum zeigt eine kleine Auswahl von Fotos, eine große Auswahl an Bildern und Kompositionen. 280 bildnerischen Werken stehen gut 300 Kompositionen gegenüber.

 

Der Berg der Kreuze
Der Wallfahrtsort, im Norden des Landes bei Šiauliai (Schaulen) ist das, was man als den katholischsten bezeichnen könnte, den das baltische Land zu bieten hat. Unzählige Kreuze, Rosenkränze, Madonnen- , Heiligen- und Christusfiguren von riesig bis winzig klein sind von Pilgern, Gläubigen und Angehörigen Verstorbener auf dem Doppelhügel aufgestellt, hingehängt und gelegt worden. Heute sollen es weit über 50.000 Kruzifixe sein.
In der Zeit der sowjetischen Okkupation und der Deportation von mehr als 100.000 Litauern in die Gulags nach Sibirien, wurden von den Angehörigen Kreuze zum Gedenken ihrer aufgestellt. Somit wurde der „Berg der Kreuze“ auch zum politischen Symbol des Widerstands gegen die kommunistische Herrschaft. Die kommunistische Partei und deren Kader versuchten mehrmals zwischen den 1950er- bis 70er-Jahren die Hügel mit Bulldozern zu zerstören, da aber immer wieder über Nacht unzählige Kreuze aufgestellt wurden, blieben die Aktionen erfolglos.
Seit der Wiedergewinnung der Unabhängigkeit Litauens 1990 und insbesondere nach dem Papstbesuch von Johannes Paul II gilt der Kreuzberg auch über die Landesgrenzen hinaus als heiliger Ort für Katholiken und ist zudem touristischer Anziehungspunkt, was man an den vielen Kreuzen mit Inschriften aus aller Welt erkennen kann.


Litauen

- Weitere Informationen zu Litauen

- Weitere Informationen zu Vilnius

- Weitere Informationen zu Kaunas (engl.)

- Weitere Informationen zu Mikalojus Konstantinas Čiurlionis (engl.)

 


Abbildungsnachweis:
Video: © Vilnius Tourism & Convention Bureau
Galerie:
01. Porzellankanne mit historischem Stadtplan von Vilnius. Foto: Claus Friede
02. Karte der Stadt Vilnius (als Vilna Lituaniae, Metropolis), 1576 von G. Braun (1541-1622). Quelle: Wikipedia
03. Vilnius Ostrobramska © Vilnius Tourism & Convention Bureau
04. Blick vom Gediminas-Hügel auf das moderne Vilnius, südlich der Neris. © Vilnius Tourism & Convention Bureau
05. Altstadt © Vilnius Tourism & Convention Bureau
06. Kathedrale Sankt Stanislaus. (Marcin Szala) Quelle: Wikipedia
07. Das Moderne Vilnius © Vilnius Tourism & Convention Bureau
08. und 09. Skulpturen an der „Grünen Brücke“ aus der Sowjetzeit. Quelle: Wikipedia
10. Museum für Genozidopfer, Vilnius. © Vilnius Tourism & Convention Bureau
11. Opfernamen am Sockel des Gebäudes. © Vilnius Tourism & Convention Bureau
12. und 13. Ausstellung zum Widerstand. © Vilnius Tourism & Convention Bureau
14. Erschießungsraum im Keller des Gebäudes. © Vilnius Tourism & Convention Bureau
15. Parkgedenkstätte der Stille Tuskulėnai. © Vilnius Tourism & Convention Bureau
16. „Užupio Res Publica“ (Republik Užupis). © Vilnius Tourism & Convention Bureau
17. Konstitution der Republik Užupis. © Vilnius Tourism & Convention Bureau
18. Engelsdenkmal in Užupis. © Vilnius Tourism & Convention Bureau
19. Blick auf Kaunas am Zusammenfluss von Memel und Neris
20. Neue Galerie des Čiurlionis-Museum. Quelle: Wikipedia
21. Mikalojus Konstantinas Čiurlionis Portrait, um 1900
22. Mikalojus Konstantinas Čiurlionis „Rex“, 1909
23. Mikalojus Konstantinas Čiurlionis „ Sonate der Sonne“ (Andante), 1907
24. Berg der Kreuze. Quelle: Wikipedia.

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