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Ausdrücklich heiliggesprochen wurde Hildegard von Bingen (1098 bis 1179) nie. Das Verfahren, das unter Papst Gregor Papst IX. im 13. Jahrhundert eingeleitet wurde, fand nie seinen Abschluss. Erst der deutsche Papst Benedikt XVI. nahm sie 2012 en passant offiziell in das Verzeichnis der Heiligen und Seligen auf, wo sie seit dem 16. Jahrhundert auch ohne Heiligsprechung aufgeführt war. Und sprach ihr im Oktober desselben Jahres – nach nur drei anderen Frauen – den noch viel rareren Titel „Kirchenlehrerin“ zu. Damit steht sie jetzt neben Katharina von Siena, Theresa von Avila und Thérèse von Lisieux auf einer Stufe.
Inzwischen nagt auch die moderne Wissenschaft am Ruf der großen Mystikerin, Heilkundlerin, Gelehrten und Musikerin: Migräne habe sie geplagt, meint der Psychologe und Bestsellerautor Oliver Sacks und leitet das aus Ähnlichkeiten der von ihr beschriebenen Bilder mit denen ab, die von modernen Migräne-Kranken stammen. Andere verdächtigen die Heilkräuter-Expertin, selbst bewusstseinserweiternde Drogen konsumiert zu haben.
 
altDem Ensemble VocaMe – mit den Mittelalter-erfahrenen Sängerinnen Sigrid Hausen, Sarah M. Newman, Petra Noskaiova und Gerlinde Sämann und ihrem Leiter und Instrumentalisten Michael Popp ist das herzlich egal, wenn sie sich der Musik Hildegards von Bingen annehmen. Ein einzigartiges Oeuvre, entstanden zu einer Zeit, als Frauen häufig noch unter männlichen Pseudonymen komponierten. Es enthält 77 geistliche Gesänge – Antiphonen, Responsorien, Hymnen, Sequenzen, ein Kyrie, ein Alleluja sowie zwei Symphoniae – und „Ordo virtutum“, auch bezeichnet als „Symphonia armonie celestium revelationum (Symphonie der Harmonien der himmlischen Erscheinungen)“ – was unmittelbar einleuchtet, wenn man die vier Frauen mit ihren glasklaren Stimmen in einem weiten Kirchenraum hört.
Hildegards musikalisches Werk ist das größte, das aus Mittelalter mit dem Namen eines Urhebers verknüpft bis in unsere Tage überliefert ist. Sie habe es, ist von Hildegard überliefert – in „Auditiones“, in akustischen Visionen, direkt vom Himmel empfangen., „Posaunenklang vom ewigen Licht“.
Es sei die Musik aus der Seele des Menschen, denn jedes Geschöpf trage einen besonderen Klang in sich, und in den Menschen singe und spiele der heilige Geist. In der Musik könne der Mensch wieder den verlorenen Gleichklang mit den Stimmen der Engel, wie Adam ihn im Paradies noch besaß, erreichen. Hildegard versucht, in ihrer Musik diese verlorene Einheit wieder herzustellen, die Musik füge zu den Texten den unsagbaren Teil des Geschauten und Gehörten sind. Und die verschiedenen Instrumente mit ihrer jeweiligen durch Material und Form bedingten Klanggestalt stünden für die verschiedenen Weisen der Hingabe der Menschen an das Göttliche.
 
Ein hoher Anspruch, dem sich das 2008 gegründete Ensemble VocaMe stellt. Sigrid Hausen benennt das Besondere in Hildegrads Werk: die elaborierten, langen Stücke, geschrieben auf gregorianischen Grundlagen. Ihre sehr genaue Ausdeutung der lateinischen Texte, den enormen Tonumfang.
Wie aber interpretiert man Musik, die 900 Jahre alt ist, wie viel von dem, was VocaMe erklingen lässt, ist original Hildegard. „Na ja“, sagt Sigrid Hausen, „man sucht da schon unter der Staubschicht der Jahrhunderte. Und wir versuchen, den ungeheuren Eindruck neu erlebbar zu machen, den Hildegards Musik zu ihrer Zeit auf die Zuhörer gemacht haben muss.“ Zum Beispiel? „Wir verwenden etwa die Bordun-Praxis – bei der über einem fest liegenden Ton sich die Melodie entfaltet. Oder die antiphonale Form des abwechselnden Singens. Oder parallel geführte Stimmen in Quinten oder Quarten, improvisierte Zweitstimmen. Wir singen weitgehend ohne Vibrato und suchen äußerste Klarheit für die Intonation im gemeinsamen Singen. Wir setzen aber nicht, wie andere Aufnahmen, auf ein weitgehendes Unisono, und wir wollen Hildegards Musik auf keinen Fall in einen musealen Raum stellen.“
Wie erarbeitet man sich Musik, die noch nicht mit der Präzision heutiger Notenschriften notiert ist? „Die Schwierigkeit ist, ein eigenes Maß zu finden, es ist ja nicht rhythmisch notiert. Wir sprechen anfangs oft die Texte gemeinsam, erarbeiten die Betonungen, die Längen, den Gehalt des Textes, probieren unterschiedliche Tempi aus.“
Hildegard hat ja keine Notationen hinterlassen. „Sie ließ niederschreiben, was sie empfangen hat – eine relativ spirituelle Herangehensweise“, erklärt Sigrid Hausen. Manchmal wird gemutmaßt, die Musik stamme gar nicht von Hildegard selbst. „Haben wir auch schon gehört – das wäre ihr aber wohl gar nicht so wichtig gewesen, sie will ja als Mystikerin hinter ihrem Werk und der Welt zurücktreten.“
 
So entsteht ein faszinierende Hörerfahrung, die zurückführt in völlig andere seelische und spirituelle Räume – ein fantastisches Mittelalter-Erlebnis, in dem spürbar wird, wie ungewöhnlich, wie andersartig und aufregend die Musik Hildegard von Bingen in den Ohren ihrer Zeitgenossen geklungen haben muss.


VocaMe mit seinem Hildegard-von-Bingen-Programm ist zu hören am Freitag, 10. Oktober im Marien-Dom zu Hamburg (St. Georg), 20.00 Uhr, Eintritt 16/10 Euro, und am
Sonnabend, 11. Oktober in den Kreuzgangkonzerten von Walkenried im Südharz, Eintritt 19 bis 31 Euro.

VocaMe: Inspiration – Hildegard von Bingen: Lieder und Visionen.
CD Berlin Classics
Nr. 0300425BC


Videos:
VocaMe über Hildegard
Aer enim
Studium divinitatis
O tu illustrata

 
Abbildungsnachweis:

Header VocaMe. Foto: Severin Schweiger
CD-Cover

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