Theater - Tanz

André Podschun (AP): Worauf gründet sich die Idee für einen dreiteiligen Shakespeare-Abend?

John Neumeier (JN): Zum Jubiläum des 30-jährigen Bestehens des Hamburg Ballett stellten wir als Teil der damals angelegten Retrospektive meine drei großen abendfüllenden sakralen Ballette an einem Abend zusammen, um einen Überblick von dem zu bekommen, was im Laufe der Jahre geschaffen wurde und worin die verschiedenen Hauptakzente meiner Arbeit lagen. Sicher war das, wie bei keinem anderen Choreografen, die Beschäftigung mit sakraler Musik, die 2004 in „Dona nobis pacem“ mit Auszügen aus „Messias“, „Magnificat“ und „Requiem“ zum Ausdruck kam. In der diesjährigen Rückschau auf nunmehr vierzig Jahre Hamburg Ballett wird einer der Akzente auf der jahrelangen Beschäftigung mit Themen von Shakespeare liegen – übrigens mit sämtlichen, sehr unterschiedlichen Fassungen von „Hamlet“. Es begann im Januar 1976 mit „Hamlet Connotations“ für das American Ballet Theatre, dann im November 1976 „Der Fall Hamlet“ als Neufassung in Stuttgart, gefolgt von „Amleth“ 1985 für das Königlich Dänische Ballett in Kopenhagen, basierend auf der Danmarkskronike des Saxo Grammaticus. Aus all diesen Versionen ist 1997 schließlich der Hamburger „Hamlet“ hervorgegangen.
Als vorerst endgültige Fassung verwenden wir in „Shakespeare Dances“ den Kern dieses Werkes, also seinen Mittelteil.

AP: Wie funktioniert der Abend?

JN: Zum Auftakt der diesjährigen 39. Hamburger Ballett-Tage will ich einerseits zeigen, wie wichtig mir Shakespeare als Inspirationsquelle war und immer noch ist, andererseits möchte ich auch verdeutlichen, wie unterschiedlich ich mit seinem Werk umgegangen bin. Die Schwierigkeit, für den Abend eine Kurzform der Stücke zu finden und zu ihrem Kern zu stoßen, liegt darin, dass das Besondere der jeweiligen Inszenierung durch die Komprimierung abgemildert werden könnte. Zum Beispiel besitzt „VIVALDI oder Was ihr wollt“ einen ganz eigenartigen Stil für Ballett. Die Geschichte wird sehr fragmentarisch erzählt, unterbrochen von längeren Passagen mit reinem Tanz. Unwillkürlich denkt man an eine Tanz-Sinfonie, deren Tanzepisoden keiner direkten Handlung folgen. Als ich dieses Ballett wieder sah, hat es mich überrascht, welchen Weg ich damals gegangen bin. 1996 nannte ich das Werk „VIVALDI oder Was ihr wollt“, da mir meine Auseinandersetzung mit Vivaldi genauso oder vielleicht noch wichtiger schien als meine Beschäftigung mit Shakespeare. In der Kurzfassung, die wir jetzt zeigen, kommt das vielleicht nicht so klar zum Vorschein. Dennoch, ich fühle mich vor allem als Geschichtenerzähler und versuche auch in den für diesen Abend erstellten Kurzfassungen, die Handlung wiederzugeben, wobei klar ist, dass manche der Figuren von Shakespeare nicht berücksichtigt werden können. Phebe und Silvius kommen in „Wie es Euch gefällt“ gar nicht vor, ebenso die wichtige Figur des Malvolio in „VIVALDI oder Was ihr wollt“. Nähme man sie auf, würde das den Rahmen für einen Abend, der drei Shakespeare-Werke behandelt, sprengen. Eine Shakespeare-Revue mit nicht zusammenhängenden, fragmentarischen Tanzstücken schien mir nicht die Lösung zu sein.

AP: Wie könnte die jeweilige Zusammenfassung der drei Stücke aussehen? Werden sie vor allem jeweils durch ihre eigene Atmosphäre getragen?

JN: Ich vergleiche das mit Schülern, die ein Theaterstück als Hausaufgabe lesen sollen und es natürlich nicht gelesen haben, wenn es im Unterricht behandelt werden soll. Sie greifen zu einer knappen Inhaltsübersicht und erfahren schnell etwas über das Essenzielle der Geschichte. Ein wenig ist das an diesem Abend auch so. Ich habe namentlich in den beiden Eckstücken „Wie es Euch gefällt“ und „VIVALDI oder Was ihr wollt“ versucht, das Wesentliche ihrer jeweiligen Geschichte durch Tanz zu erzählen, natürlich verkürzt und ohne Nebenfiguren, die letztlich die tatsächliche Qualität der Stücke ausmachen.
In „Hamlet“ liegt der Fall anders. Der erste Teil des Abends endet mit einer Episode aus Hamlets Vorgeschichte, erzählt wird sein Abschied von Ophelia, bevor er zum Studium aufbricht. Das war mir wichtig, denn für das Verständnis der Handlung ist Hamlets früheres Leben unverzichtbar, gerade für ein Ballett. In meiner ursprünglichen „Hamlet“-Fassung bildete der erste Akt eine lange Vorgeschichte über Hamlets Eltern, seine Kindheit und frühen Prägungen sowie sein Interesse für eine vorbeiziehende Gauklertruppe. Für mich ist seine positive Natur auffallend, bevor er nach Wittenberg an die Universität geht, ebenso seine Beziehung zu Ophelia vor dem Tod seines Vaters.
Der zweite Teil beginnt mit Hamlets Rückkehr nach Dänemark, wo er ein vollkommen anderes Königreich vorfindet. Dieser Akt erzählt zwar nicht die komplette Geschichte, gibt aber die essenziellen Momente des „Hamlet“-Stoffes wieder, ausgenommen den Schluss.
Bei „VIVALDI oder Was ihr wollt“ ist die Musik ausschlaggebend. Für die Premiere 1996 in Hamburg ließen wir den Orchestergraben aus akustischen Gründen hochfahren, obendrein sollten die Musiker sichtbar werden. Ich erinnere mich, dass die Lautenistin auf der Bühne saß und die Musik optisch in den Tanz überging.
In längeren Passagen wurde auf Vivaldis Musik pur getanzt. Die Tänzer verkörperten zwar Shakespeares Figuren, schufen aber in den Momenten des reinen Tanzes eine Stimmung, die wiederum zu Orsino, Olivia oder Viola passen könnte. Es gab aber ganz bewusst Momente, in denen die Handlung nicht durch die Figuren vorangetrieben wurde. In der Kurzfassung ist diese Gestaltung aus Gründen der zeitlichen Begrenzung schwierig durchzuhalten. Doch wollte ich, dass Shakespeares Handlung greifbar bleibt.
Faszinierend an Shakespeare ist, dass seine Figuren selbst dann leben, wenn die Worte ihres Schöpfers fehlen. Die Motivationen seiner Figuren sind klar und tief, gleichzeitig besitzen sie eine interpretatorische Variabilität, die ihresgleichen sucht. Seine Worte, Aussagen und Gedanken sind fantastisch, vor allem in der englischen Originalsprache, doch wiegt für mich der Umstand stärker, aus welchen Gründen sie zur Sprache finden. Sie haben die Kraft, als Anregung für andere Kunstformen weiterzuwirken. Das macht Shakespeares Größe aus.

AP: Wenn „Hamlet“ in der Mitte des Abends steht, ergibt das eine Anordnung von Komödie, Tragödie und Komödie. Die Tragödie im Zentrum strahlt auf ihre Ränder aus. Worin könnte das einigende Band der drei Shakespeare-Werke liegen? Lieben alle den Falschen? Kommt es überall zu Verwandlungen ganz unterschiedlicher Natur?

JN: Die Verwandlungen sind für Shakespeare sehr typisch. Für mich sind die Begriffe „Flucht“ und „Verkleidung“, wie ich sie in „Wie es Euch gefällt“ genannt habe, sehr zentral. In beiden Komödien findet ein Geschlechtertausch statt. Rosalinde verkleidet sich als Junge und wird daraufhin von einem Mädchen geliebt.
In „Was ihr wollt“ gibt es eine ähnliche Situation, wenn Viola, ebenfalls in einen Jungen verkleidet, von Olivia geliebt wird. Dieses Verwechslungsspiel versteht Shakespeare als Spaß, der unsere Liebeseigenschaften spiegeln soll. Er zeigt uns, wie unberechenbar und kompliziert unsere Liebe ist. In „Othello“ sehe ich, wie eine intensive Liebesbeziehung systematisch zerstört wird, weil es immer eine Grenze zwischen zwei Menschen in ihrem Verständnis füreinander gibt. In unseren Rahmenstücken lässt Shakespeare es letztendlich gut ausgehen, er könnte aber auch jeweils einen anderen Schluss finden, der die Menschen durch ihr Verwechslungsspiel nicht zueinander kommen lässt.
In „Othello“ bemerkt Jago: „Ich bin nicht, der ich bin.“ Jagos Einstellung begegnet uns in Sachen Liebe häufig. Wir lieben jemanden, der vollkommen anders ist. Wir verlieben uns in eine Eigenschaft eines anderen und erkennen später, dass er diese Eigenschaft eben nicht verkörpert. Wir haben uns also in ein Bild verliebt, das dem Abgebildeten nicht entspricht. Es ist nur Schein. Es scheint, als ob Viola ein Junge sei, in den sich Olivia verliebt. Indes ist sie eine ganz andere. Die Verwechslung von Mann und Frau ist ein theatral wirksamer Widerschein dessen, was zwischen Mann und Frau „verkehrt“ läuft. Das finde ich von Shakespeare in beiden Komödien leidenschaftlich klug beobachtet. In „Hamlet“ ist das Liebesschema in seiner Konsequenz viel komplexer und tragischer angelegt. Als ich mich zum ersten Mal mit diesem Stück befasste, wollte ich unbedingt die Vergangenheit von Hamlets Mutter Gertrude in Erinnerung rufen. Laut Legende soll sie denjenigen von zwei Brüdern heiraten, der als Sieger aus dem Krieg zurückkehrt. Natürlich ist es nicht der, den sie liebt. Von Anfang an will sie Claudius – und bekommt stattdessen den späteren Vater von Hamlet. Hier liegt der Keim der Tragödie. Meist ist Gertrude als unheilvolle Figur charakterisiert und von Shakespeare womöglich auch so angelegt worden. In der dänischen Chronik erscheint sie allerdings weitaus ambivalenter.

AP: Hat sich Ihre Sicht auf die Stoffe von Shakespeare heute geändert?

JN: Wenn ich ein Ballett erarbeite, inspiriert von einem großen Künstler wie Shakespeare, so nimmt die Kreation ihr eigenes Leben an. Das Stück ändert sich. Beim Lesen seiner Werke bin ich manchmal überrascht, wie weit sich meine Ballette von Shakespeare „entfernt“ haben und wie sich ihre Figuren über die Jahre weiterentwickelten – vielleicht in einem anderen Sinne als jetzt, wenn ich ein Stück von Shakespeare neu auf die Bühne brächte. 1985 habe ich „Wie es Euch gefällt“ und „Othello“ kreiert, im selben Jahr fand die Kopenhagener Uraufführung von „Amleth“ statt. Seither schlugen die Figuren ihren eigenen Weg ein. Andererseits besitzen Shakespeares Figuren ihr eigenes Leben.
Wenn ich heute ein neues Ballett über „Hamlet“ machte, so würde ich nach der wiederholten Lektüre von Shakespeares Vorlage vielleicht ganz andere Figuren schaffen als damals. Dennoch bin ich jetzt für die früher entwickelten Charaktere und für den damals entworfenen Tanz-Text verantwortlich. Beide haben über die Jahre Wechsel erfahren. Durch die zahlreichen Besetzungen und verschiedenen Compagnien, die diese Ballette in ihr Repertoire aufgenommen haben, hat sich ein ganz eigenes Weiterleben ergeben. Als wir „Hamlet“ 1997 in einer neuen Fassung für Hamburg herausbrachten, bedeutete das den Kulminationspunkt von allen meinen zuvor erarbeiteten „Hamlet“-Versionen, da Lloyd Riggins in der Formung der Titelfigur sehr wesentlich beteiligt war und an ihrer Figur großen Anteil trägt. Die Rolle des Hamlet ist sehr von ihm geprägt.

AP: Werden Teile für die Wiederaufnahme neu choreografiert?

JN: In Vorbereitung der Wiederaufnahmen schaue ich mir die Stücke immer wieder an und ändere sie, wenn sie mir nicht mehr gefallen. Sicher muss der Anfang neu choreografiert werden im Sinne einer neu hinzugefügten Ouvertüre, die allein für diesen Abend zugeschnitten ist und wahrscheinlich alle Figuren berücksichtigt. Die Übergänge werden neu kreiert werden, doch bleibt vieles original. Sehr interessant ist der unterschiedliche choreografische Stil der drei Ballette.
Eine Figur, die sich durch alle Werke hindurchzieht, ist Jaques aus „Wie es Euch gefällt“. Diese Figur nimmt verschiedene Rollen an und erinnert in ihrer dramaturgischen Funktion an Im’r da aus meinem Ballett „Préludes CV“. Bei Shakespeare ist Jacques in seinem Monolog ein Beobachter der menschlichen Natur und ihrer Wechselfälle. Er hat die Zurschaustellung des menschlichen Daseins im Blick, wenn es heißt: „Die ganze Welt ist Bühne / Und alle Fraun und Männer bloße Spieler.“
In der Schwebe zwischen Spaß und Ernst wird Energie und Lebenswille selbst in der Vertauschung von Leben und Tod sichtbar. Und so könnte man sagen, dass sich auf dem Theater die Kraft behauptet, aus der aller Anfang entsteht.


„Shakespeare Dances“
Szenen aus Skakespeare-Balletten von John Neumeier
Musik: W.A. Mozart, Michael Tippett, Antonio Vivaldi
Choreographie: John Neumeier
Ausstattung: Hans-Martin Scholder, Christina Engstrand, Klaus Hellerstein
Musikalische Leitung: Simon Hewett
Philharmoniker Hamburg

Voraufführung: 8. Juni 2013, 19:00 Uhr
Wiederaufnahme: 9. Juni 2013, 18:00 Uhr
Weitere Aufführung: 28. Juni 2013, 19:30 Uhr

Dieser Artikel erscheint in Kooperation mit dem Hamburg Ballett und der Hamburgischen Staatsoper.

Fotonachweis:
Header: Proben zu „Shakespeare Dances“. Erste Solisten Anna Laudere und Edvin Revazov in den Proben zu John Neumeiers Ballett „Hamlet“. Foto: © Holger Badekow.