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Claus Friede (CF): Wie kam es zu diesem ungewöhnlichen Theaterprojekt?

Im Gespräch: Claus Friede mit den Regisseuren Madeleine Koenigs und Christopher WeißChristopher Weiß (CW): Dieses Projekt hat sich seit längerem entwickelt. Madeleine und ich waren auf der „Was.Ihr.Wollt-Akademie“, wo wir uns auch kennen gelernt haben und arbeiteten mit Tom Stromberg. Wir probierten unterschiedliche Formen des Theaters und des Theatermachens aus. Irgendwann waren wir an dem Punkt angelangt, dass wir mit Theater ganz nahe am realen Leben sein wollten. Unser Abschlussprojekt namens „Fettschweif“, das wir am Maxim Gorki Theater in Berlin durchführen konnten, war dann auch pures Leben. Wir wollten die kleinen alltäglichen Sünden auf die Bühne bringen und dort verarbeiten...

CF: Was sind denn „kleine alltägliche Sünden“?

Madeleine Koenigs (MK): Wir sind bei dem Stück von der These ausgegangen, dass jeder Mensch, nicht nur jeder Künstler das Recht hat, seine persönlichen und privaten Themen auf der Bühne zu verarbeiten. Eine kleine alltägliche Sünde war, dass jemand einen Liebesbrief geschrieben hatte...

CW: ...es war ein Liebesbrief oder eigentlich eine ausgedruckte E-Mail mit erotischen Inhalt, die uns jemand gab. Die Mail kam nachts bei einem Mann an. Er las die Mail und ging dann schlafen. Am nächsten Morgen war eine zweite Mail von der Frau da, mit der Aufforderung: Lösche die Mail von heute Nacht. Er tat dies aber nicht. Das war seine kleine Sünde!
Er gab uns den Ausdruck und wir haben seine Sünde dann auf der Bühne verarbeitet – für ihn. Das hat aber nicht bedeutet, dass wir die Liebesmail vorgelesen haben, sondern wir griffen das Grundthema auf und haben den Brief auf der Bühne immer wieder ein wenig geheimnisvoll umspielt...

MK: ...ein paar Textstellen haben wir schon vorgelesen und das für uns Interessante war, dass nicht nur der Empfänger der Mail im Publikum saß, sondern auch die Senderin.

CW: Ein anderes und etwas profaneres Beispiel war, dass wir von einer Frau erfuhren, dass sie ihr Auto namens Willi – es hatte einen Namen...

CF: ...viele Autos in Deutschland haben einen Namen...

CW: ...genau! Na, dieses Auto war eine Dreckschleuder. Aber sie hing an ihm, weil es ihr erstes Auto war. Der Konflikt, zwischen gefühlsbetonter Erinnerung und ökologischer Untragbarkeit, war dann für uns das Bühnenthema.
Die kleinen Dinge und Themen auf die Bühne zu bringen und nicht nur die großen war unser Anliegen und ist es auch bei „Treffpunkt Borgfelde“. Wir gehen in den privaten Alltag und dort ist uns zu Beginn der jeweiligen Theaterarbeit kein Thema zu profan.

MK: Darauf folgte dann der nächste Schritt mit einem Theaterprojekt in Frankfurt/Oder. Wir haben uns beim UNITHEA Theaterfestival beworben und ein Konzept eingereicht, in dem wir baten: Sucht uns eine Wohngemeinschaft, dort wollen wir vier Wochen lang mit den Bewohnern leben und deren Themen verarbeiten. Dabei ging es dann nicht mehr um kleine Sünden. Der Ort war diese Wohnung und die Themen waren all jene, die in der WG tagtäglich auftauchen. Es gab keinerlei Einschränkungen. Wir haben zunächst mit den Mitgliedern der WG gearbeitet und am Ende war dort auch die Aufführung. Die Zuschauer sind in die Wohnung gekommen und in jedem Raum hat dann ein Bewohner sein Thema dargestellt.
Hier in Hamburg sind wir dann noch einen Schritt weitergegangen und haben uns gefragt, was man in einer Wohnung machen kann. Das müsste auch mit einem Stadtviertel wie Borgfelde funktionieren. Wir wollten die Vielzahl und Unterschiedlichkeit der Themen fokussieren.

CF: Jetzt ist der Name des neuen Projekts schon gefallen. Was ist „Treffpunkt Borgfelde“ genau?

CW: Wenn man in den Stadtteil kommt, ist er zunächst einmal unspektakulär, relativ klein und relativ unbekannt. Wie auch bei der WG wollen wir, dass die Darsteller die Borgfelder selbst sind. Wir fingen an zu recherchieren und in der Historie zu graben, haben Aufrufe an die Bewohner gestartet und uns nach Institutionen umgeschaut. Bereits nach kurzer Zeit konnten wir feststellen, wie unglaublich vielfältig das Stadtteilleben ist, wie die Vernetzungen sind, welche Kommunikationen stattfinden und welche kreativen Nischen sich die Anwohner geschaffen haben. Wir sind beispielsweise auf einen Internet-Radiosender in einem Wohnzimmer gestoßen, privat betrieben, und wir stellten dann fest, welche unsichtbaren kreativen Potentiale in Borgfelde schlummern. Wir sind dann auch auf einen Gospelchor gestoßen...

MK: ...wir kamen uns vor wie Kommissare. Da geht man zum Bäcker und fragt: Was gibt es hier für Geschichten, wie ist Deine Geschichte, Deine Biographie? Dem Aufruf und der Bitte „Was ist Eure Geschichte“ folgten erstaunlich viele. Neben kleinen Unternehmen, die für sich werben wollten, erhielten wir viele Reaktionen von Privatleuten. Gleich am ersten Produktionstag kam eine alte Dame zu uns. Sie kam mit einem Brief an, in dem sie – oh, jetzt darf ich nicht zu viel verraten – Hm… Also in dem sie ihr Alter und ihre Wohnung zum Thema machte: Und das sehr persönlich...

CW: ...sie hat sich hingestellt und den Brief verlesen. Allein das war einer der großartigen Momente. Sie kam zu uns und sagte: „Ich weiß nicht, ob das überhaupt wichtig genug ist. Sie machen hier ein Theaterprojekt und ich weiß jetzt gar nicht...“ Das war richtig rührend. Und klar, Ihr Thema ist wichtig! Ihre Worte zeigten uns in dem Moment auch die Berührungsangst zum Theater, die erst einmal überwunden werden muss. Ich kam mir in den Gesprächen und der Recherche eher vor wie ein Vertreter für Theater und ich musste den Leuten klarmachen: Eure Geschichten sind hier an der richtigen Stelle...

MK: ...wir mussten wie Vertreter unser Geschichte verkaufen, um deren Geschichten zu bekommen. Wir fordern ja auch sehr viel ein: Geschichten und Spielräume. Wir haben zwei Privaträume, die wir bespielen dürfen und am Aufführungstag insgesamt bestimmt eine Menge Leute, die da durch gehen werden.

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