Theater - Tanz

„Napoli“ ist der spätromantische Reflex einer Reise des großen dänischen Tänzers und Choreographen Bournonville nach Italien, wo ihn vor allem Neapel faszinierte. Auf der Rückfahrt entwarf – ständig die Melodie einer Tarantella im Ohr – er die Geschichte vom Fischer und dessen Braut. Drei Akte: das Werben des Fischers Gennaro (Alexandre Riabko) um Teresina (Siliva Azzoni), deren Mutter (Laura Cazzaniga) sie lieber mit wohlhabenden Händlern verkuppeln möchte. Schließlich die Zustimmung zur Heirat und eine romantische Ausfahrt aufs Meer, die in einem Sturm ein jähes Ende findet. Gennaro wird lebend gerettet, Teresina bleibt verschollen.

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Sie wurde – zweiter Akt – in die legendäre Blaue Grotte getrieben, wo der Meeresdämon Golfo (offenbar abonniert auf maritime Bösewichte: Otto Bubenicek) mit den von ihm gefangenen Seelen ertrunkener Mädchen haust. Auch Teresinas Seele will er sich aneignen – doch Gennaro fährt dazwischen, er rettet Teresina aus der Zwischenwelt zurück in die Wirklichkeit.

Bei der Rückkehr nach Napoli wird Teresina verschreckt angeschaut wie ein Geist. Doch rasch löst sich alles in einer großen Freudenfeier auf.
Bournonvilles Choreographie ist weitgehend erhalten, nur der mystische zweite Akt in der Grotta Azurra ging im Zuge vieler nachträglicher Bearbeitungen fast ganz verloren. Er wurde von Lloyd Riggins neu choreographiert und erzählt sehr dicht und eindringlich die Geschichte von Teresinas wachsender Faszination für den Dämon, vor dessen Welt sie keine Scheu empfindet. Denn Golfo, der wilde Mann, ist in Wahrheit ein Melancholiker par excellence, der die toten Seelen zu Najaden umwandelt, weil er – so verzweifelt wie vergeblich – das Leben sucht.

Teresina erlebt in der Grotte ganz wie Bournonville selbst bei seiner Erkundung der Blauen Grotte, die erst 1826 wiederentdeckt worden war, eine „mysteriöse Stimmung, die alle Gedanken an die äußere Welt – gut oder schlecht – plötzlich verfliegen lässt.“ Der Däne schreibt: „Ich bin ein paarmal rein- und rausgeschwommen zwischen dieser Welt der Seelen und dem Sonnenlicht und kehrte mit einem Sack voller Erinnerungen und Eindrücke in die Wirklichkeit zurück.“

Teresina wird von Gennaro zurückgeholt, dem wundersame Kräfte eines Marienmedaillons beistehen, musikalisch gebündelt in „O sanctissima“, der Hymne der Fischer und Seefahrer, in Deutschland besser bekannt als „Oh du fröhliche“. Was zur Vorweihnachtszeit passt, beim Hamburger Publikum aber verwundertes Raunen auslöste.

Bühnenbild und Kostüme (Rikke Juellund) bieten ein in südlichen Pastellfarben leuchtendes stilisiertes Neapel; die geheimnisvolle Blaue Grotte ist aus hängenden, durchsichtig fließenden Schnüren nachgebildet, die zusammen mit magischem Licht eine fragile, blau phosphoreszierende Wunderwelt bilden.
„O sanctissima“ ist nicht die einzige Besonderheit der Partitur, durch die Markus Lehtinen die Philharmoniker mit sicherer Hand führte. Gleich vier Komponisten hatte Bournonville einst für „Napoli“ engagiert, damit das Ballett schneller fertig würde. Sie wiederum haben vielfältige Anleihen in ihre Musik integriert: italienische Volksweisen, neapolitanische Tänze wie die Tarantella und die Tammuriata, Förmlicheres wie eine Polonaise, mal lässt Rossini grüßen mit einer Orchesterfassung der Verleumdungsarie aus dem „Barbiere di Siviglia“, dann Meyerbeers „Robert le diable“ und zum Psychodrama in der Grotte schluchzt die Solo-Violine François H. Prümes zur Entstehungszeit von „Napoli“ populäres „La Mélancholie“.

Muss man noch sagen, dass Silvia Azzoni und Alexandre Riabko so inspiriert tanzen, als wären sie gerade frisch verliebt? Dass Laura Cazzaniga eine Mutter spielt, zurückhaltend in ihrer Freude, aber geradezu mörderisch in ihrem Leid und im Zorn auf Gennaro? Dass Christopher Evans ein mitreißendes Solo im dritten Akt tanzt? Und das Otto Bubenicek, optisch irgendwo zwischen Bob Marley und „Pirates of the Caribbean“, dem Dämon großartig und bewegend Kontur verleiht?

Und dass die Ensembleszenen in eleganter Selbstverständlichkeit Bournonvilles Vorgabe erfüllen: dass beim Tanz noble Einfachheit immer schön bleibt. „Freude ist Kraft“, schreibt der „Napoli“-Schöpfer in romantischer Dezenz, „Rausch ist Schwäche“. Poesie, Leichtigkeit, stille Harmonie, Anmut – all diese Leitbegriffe samt der Virtuosität, die ganz in ihrem Dienst stehen soll, lässt Riggins großartig auf der Bühne aufglänzen. Sie führen die Grundlagen des Tanzens vor, aus denen das Hamburg Ballett in anderen Werken schöpfen kann.

Kein Wunder, dass die Dänen dieses Ballett lieben. Oder liegt es vielleicht doch an der, wie Ole Nørling es im Programmheft schreibt, Sehnsucht des Nordens nach dem Gemüt und der Humanität der vom Süden erwärmten Musik, der das Tanzen den körperlichen Ausdruck gibt?


Hamburg Ballett: „Napoli“ von Auguste Bournonville.
Hamburgische Staatsoper, Dammtorstraße.
Nächste Aufführungen: 10., 13. und 31. Dezember 2014, 10., 11., 13., 15. und 16. Januar 2015, jeweils 19:30 Uhr.
Karten unter (040) 3568 68 oder im Internet unter www.hamburg-ballett.de


Abbildungsnachweis: Alle Fotos © Holger Badekow
Header: Szene aus Napoli 2. Akt: Silvia Azzoni, Otto Bubenícek und Ensemble
Galerie:
01. Szene aus Napoli 1. Akt: Laura Cazzaniga, Cartsen Jung, Silvia Azzoni, Konstantin Tselikov und Ensemble.
02.-03. Szenen aus Napoli 3. Akt: Alexandre Riabko, Silvia Azzoni und Ensemble.