Musik

Für Cesti waren die Würfel allerdings bereits gefallen. Mit seiner Oper „Orontea“ schrieb er eines der erfolgreichsten Bühnenwerke des 17. Jahrhunderts. Bis heute streiten die Musikwissenschaftler, wann und wo das Werk eigentlich uraufgeführt wurde: Die ältere Meinung datiert „Orontea“ auf das Jahr 1649 und den Uraufführungsort Venedig; neue Forschungen haben dagegen ergeben, dass das Stück wohl erst sieben Jahre später für den damals sehr prächtigen Innsbrucker Hof komponiert wurde. Unstrittig ist jedenfalls, dass Cesti in den 1650er-Jahren in Innsbruck als Kapellmeister wirkte und „Orontea“ dort während der Karnevalssaison 1656 mit großem Erfolg aufgeführt wurde. Die italienischen Theater zeigten Cestis Stück noch bis ins späte 17. Jahrhundert, danach verschwand es für lange Zeit von den Bühnen – wie das ganze frühbarocke Repertoire. Cesti blieb allenfalls in den Musikgeschichtsbüchern mit seiner Krönungsoper für eine Habsburger Hochzeit in Wien präsent: „Il Pomo d’oro“ gilt als die prunkvollste Oper der Barockzeit, mit nicht weniger als 48 Rollen und 23 Dekorationen! Da hatten die Franziskaner ihren theatersüchtigen Mitbruder längst von seinem Gelübde entbunden. Und Cesti verlegte seine geistlichen Resttätigkeiten auf das Dasein als Sänger in der Päpstlichen Sixtinischen Kapelle – was ihn nicht daran hinderte, weiterhin für das Theater zu arbeiten, so dass er beinahe exkommuniziert worden wäre. Sein rastloses Leben endete 1669 mit nur 46 Jahren in Florenz – angeblich vergiftet von seinen Rivalen.

Auf die Theaterbühnen kehrte Cesti erst zurück, als man sich im späten 20. Jahrhundert mit der Wiederentdeckung Claudio Monteverdis auch für dessen Zeitgenossen zu interessieren begann. Nach einer wenig folgenreichen Ausgrabung 1961 an der Piccola Scala in Mailand – immerhin mit Teresa Berganza in der Titelpartie – gelang das bejubelte Comeback der „Orontea“ schließlich durch eine auch auf Tonträger dokumentierte Aufführung 1982 bei den Innsbrucker Festwochen der Alten Musik unter Leitung von René Jacobs. Endlich konnte man Cestis so elegante und flexible Musik wieder adäquat hören.

Wie die Partituren Monteverdis folgt Cestis Vertonung eng der Textdeklamation. Lange virtuose Arien waren im Frühbarock noch nicht verbreitet, der Stil orientiert sich rezitativisch am Textfluss, aufgelockert durch ariose Gesänge und Ensembles. Und wie damals üblich, wurden auch die Noten der „Orontea“ nur sehr sparsam, nämlich dreistimmig, aufgeschrieben. Eine heutige Aufführung dieser frühbarocken Werke muss also Farben und Leben dazugeben, sich für eine Instrumentation und für Verzierungen entscheiden. Dirigent Nicholas Carter hat bereits als musikalischer Leiter der Opernstudioproduktion von Matthesons „Cleopatra“ vor zwei Jahren Erfahrung mit der Musik um 1700 sammeln können. Der Hamburgischen Staatsoper ist der junge Australier seit 2011 als Assistent von Simone Young verbunden, wo er u. a. Werke von Mozart und Rossini dirigierte. Mit „Orontea“ gibt Nicholas Carter seinen vorläufigen Abschied von Hamburg: Mit der neuen Spielzeit wechselt er als Kapellmeister an die Deutsche Oper Berlin. Für Cestis Werk hat er sich intensiv mit den stilistischen Besonderheiten dieser Zeit beschäftigt: „Wir verwenden nur ein kleines Instrumentalensemble, aber dafür auch authentische Instrumente wie Theorbe oder Barockgitarre“, so Nicholas Carter. „Außerdem haben wir kurze Ballettmusiken von Cestis Zeitgenossen Johann Heinrich Schmelzer und auch noch etwas Musik aus Cestis anderen Opern hinzugenommen, um den Abend musikalisch noch reicher zu gestalten.“

Alle Mitglieder des Internationalen Opernstudios wirken in „Orontea“ in dankbaren Partien mit. Die Österreicherin Ida Aldrian hat bereits viel Barockmusik aufgeführt und ist für die Mezzo-Titelpartie denkbar gut geeignet. Auch die israelische Sopranistin Anat Edri ist schon mit Alter Musik von Monteverdi, Caccini und Dowland aufgetreten. Und Manuel Günther hat zuletzt in Neumeiers „Weihnachtsoratorium“ und Händels „Almira“ an der Staatsoper bewiesen, dass ihm Barockes bestens in der Tenorkehle liegt. Für ihn heißt es dann mit dieser Produktion nach zwei Jahren Abschied nehmen aus dem Internationalen Opernstudio, ebenso wie für Solen Mainguené, Sergiu Saplacan und Szymon Kobylinski. Bariton Vincenzo Neri ist erst ein Jahr dabei und bleibt dem Opernstudio daher noch in der nächsten Spielzeit erhalten. Als Gast wirkt in „Orontea“ der Countertenor Michael Taylor mit: Der junge Kanadier feierte gerade große Erfolge in Händels „Rinaldo“ am Staatstheater Mainz, brachte ein eigenes Barockalbum heraus und gibt nun als Corindo sein Hamburg-Debüt.

Kommen wir zurück zum Kampf zwischen Pflicht und Liebe: den muss nämlich auch Orontea ausfechten. Genauer gesagt, den zwischen Kopf und Bauch. Eigentlich hat sie nämlich beschlossen, sich niemals zu verlieben. Aber dann kreuzt der schöne Alidoro ihren Weg. Und Orontea entdeckt ganz neue Seiten an sich...

Das Libretto von Giacinto Andrea Cicognini entfaltet die Liebeswirren um die Paare Alidoro und Orontea, Corindo und Silandra mit Witz, Tiefgang und einer erstaunlichen Figurenpsychologie. Regisseurin Anja Krietsch will diese Konstellationen deutlich herausarbeiten und verzichtet auf den ägyptischen Hofstaat, dem Orontea eigentlich als Königin vorsteht. „Auch die allegorischen Figuren des Prologs, Amore und Filosofia, werden bei uns aufgelöst. Der Prolog springt schon gleich in die Handlung“, so die Regisseurin, die seit 2005/06 als Spielleiterin an der Hamburgischen Staatsoper engagiert ist und hier zuletzt Rameaus „Les Indes galantes“ für das Opernstudio in Szene setzte. Anja Krietsch, die 2012 auch „Madama Butterfly“ in Chemnitz inszenierte, übersetzt Cestis exotisches Setting ins Heute: Gemeinsam mit Bühnenbildnerin Nora Husmann und Kostümbildnerin Gisa Kuhn schickt sie die Figuren in das strahlende Licht der Bühne und stellt sich die Frage: »Wieviel ist man bereit von sich aufzugeben, um sich dem hinzugeben, was doch das absolute Glück sein könnte?« Gleich drei Frauen verlieben sich in Alidoro – neben Orontea auch noch Silandra und Giacinta. „Was für ein Mann schafft es, innere und äußere Strukturen mehrerer Frauen innerhalb von Sekunden zu irritieren?“, fragt sich Anja Krietsch. „Was hat Alidoro, dass er so wirkt – und was treibt ihn als eigene Sehnsucht an, dass er so unstet von einer Frau zur nächsten flattert?“

Im Kontrast zu Alidoros Offenherzigkeit steht Oronteas hoher Anspruch: „Sie sucht in Alidoros Unbeschwertheit den Ausbruch aus den selbstgesetzten Zwängen. Das pure Leben überwältigt sie in der Begegnung mit diesem Mann“, sagt die Regisseurin. Die Balance zwischen Intuition und Ratio zu finden, sei eine Lebensaufgabe – und muss auch von Orontea ausgetestet werden. Ein Herz hat Anja Krietsch ebenfalls für die Außenseiter: Gelone ist eigentlich der narrenhafte Diener, Aristea eine Amme. Beide stehen in der frühitalienischen Operntradition als komische bzw. Travestie-Figur. „Aus den Rollen ist aber viel mehr herauszuholen als eine derb-volkstümliche Unterbrechung der Liebeshandlung“, so Anja Krietsch. „Gerade diese beiden Außenseiter sind für mich die moralischen Wegweiser durch den Gefühlsdschungel.“ Und so kann man sicher sein, dass das Happy End in „Orontea“ überraschende Paarkonstellationen hervorbringt.


Antonio Cesti: „Orontea“
Inszenierung: Anja Krietsch
Bühnenbild: Nora Husmann
Kostüme: Gisa Kuhn
Dramaturgie: Kerstin Schüssler-Bach
Sa, 5.07.2014 18:00 Uhr
Opera stabile, Kleine Theaterstraße, 20354 Hamburg
Preise: 12,- bis 18,- € (Stabile)

Weitere Vorstellungen:
MO, 7.07.2014 19:00 - 21:30 Uhr
DI, 8.07.2014 19:00 - 21:30 Uhr
DO, 10.07.2014 19:00 - 21:30 Uhr
FR, 11.07.2014 19:00 - 21:30 Uhr
SO, 13.07.2014 19:00 - 21:30 Uhr


Dieser Artikel erscheint in Kooperation mit der Hamburgischen Staatsoper. Frau Dr. Kerstin Schüssler-Bach arbeitet dort als Leitende Dramaturgin und schrieb diesen Beitrag für das Journal Nr. 6 2013/2014.


Abbildungsnachweis Header: Foto: Werner Hinniger. © Hamburgische Staatoper