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Thalbach hebt an der Figur Rigolettos u.a. mit Hilfe geschickt eingesetzter Licht- und Schatteneffekte die Ambivalenz unseres irdischen Daseins hervor. Sie beleuchtet den Charakter und die Gestalt von Rigoletto sowohl als einen buckligen, d.h. physisch stigmatisierten und somit sozial randständigen, „gemobbten“ und selbst „mobbenden“, austeilenden wie auch einsteckenden, den Grausamkeiten anderer ausgesetzten und seinerseits traurig leidenden Hofnarr, als auch als ehrlich liebenden, gütigen, alleinerziehenden Vater, der seine Tochter, heimlich unterstützt von einer Magd, vor allem Unheil dieser Welt bewahren will. Dennoch gelingt es Rigoletto bekanntlich nicht, Gilda vor der Vergewaltigung durch den Herzog zu schützen. Stattdessen versucht dieser große, einfache Mann aus dem Volk vergeblich, „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ für Gerechtigkeit zu sorgen. Er bezahlt den Auftragsmörder Sparafucile, dessen sprechenden Namen man auf Deutsch wörtlich mit „Schießeisen“ oder „Schießgewehr“ übersetzen kann, um seinen adligen Dienstherrn zu töten. Aber wie die Liebe so spielt: Das Mädchen hat sich durch die Nacht mit dem Herzog in diesen verliebt und versucht ihn verzweifelt zu retten. Schließlich begibt sie sich freiwillig in die Hände des zwielichtigen Sparafucile und in die Fänge von dessen ebenso halbseidener Schwester Maddalena, und verliert ihr Leben. Die Folgen für den Vater, der den Auftrag zum Mord am Herzog gegeben hatte und der angesichts der Einsicht dessen, was sich nun tragischer Weise schicksalhaft erfüllt, jeglichen Halt im Leben zu verlieren droht, sind verheerend und gleichzeitig in seinem seelisch tiefgreifenden Schlussausbruch musikalisch so grandios, so herzerweichend und zeitlos, dass Rigolettos dramatische Lebenserfahrung am Ende des Dreiakters jeden Zuschauer mit Mitgefühl erfüllt. Gerührt und doch auch vom leisen Frohsinn beseelt, der aus den lebenslustigeren Melodien – wie Rigolettos trällernde und gleichzeitig seufzend abgerissene Gesangslinie in der Arie „Povero Rigoletto! La-rà, la-rà, la-rà...“ (2. Akt, Nr. 9) – noch in ihm nachklingen mag, entlässt ihn Verdis melodiös erzählte Geschichte aus Mantua schließlich aus dem Konzertsaal.

Die hinreißende Musikalität, mit der der Koloratur-Star Nina Minasyan in der Rolle der Gilda und in ihrem Kölner Debüt aufging, kreierte zusammen mit Toffoluttis Bühnenbild und Thalbachs facettenreicher Schauspielregie eine synergetische Hochstimmung – allein architektonisch kam eine festliche Opernatmosphäre im Kölner Staatenhaus, das eher an eine Messehalle als an ein Theaterhaus erinnert, nicht ganz auf. Parallel zu den Kölner Vorstellungen tritt Minasyan als Gilda nicht nur regelmäßig im Moskauer Bolschoi-Theater auf, sondern in dieser Rolle auch in die historischen Fußstapfen einer Maria Callas (1923-1977) oder Anna Netrebko, die die Gilda ebenfalls interpretiert haben. In Minasyans letztem Auftritt, dem Duett „V’ho ingannato... Colpevole fui...“ (dt.: „Ich habe dich betrogen... Ich war schuld...“) in der 10. Szene mit ihrem Vater, bittet ihn Gilda, durch die melodischen Einwürfe der Oboe glaubhaft verdichtet, um Vergebung, weil sie Rigolettos Racheplan gegen dessen Todfeind – den Herzog – durch den eigenen Selbstmord vereitelt, Rigolettos Widersacher entschuldigt und ihn als Vater hintergangen hat, dann stirbt sie. Dieses Finale in Andante, Des-Dur bringt stimmlich und stimmungstechnisch nicht nur Thalbachs Gesamtkunstwerk, sondern auch Verdis Vertonung jener melodramatischen Gefühlswelt auf den Punkt, die der süditalienische Philosoph, Politiker, Publizist und Kulturkritiker Antonio Gramsci (1891-1937) rund 70 Jahre später als typisch italienisch deutet.

In seinen Briefen aus dem Gefängnis an seine Schwägerin Tatiana (alias: „Tania“) Schucht (1888-1943) beschreibt der erst 37 Jahre nach der venezianischen Uraufführung von „Rigoletto“ auf Sardinien geborene Gramsci seine Leidenschaft für das Theater und die Welt der Musik, insbesondere für die Oper, die er wegen ihrer Publikumsnähe sowie ihrer pädagogischen, politischen und erkenntnisfördernden Funktion besonders schätze. Während im restlichen Europa des 19. Jahrhunderts, so Gramsci, volkstümliche literarische Genres wie Feuilletonromane eines Eugène Sue, Alexandre Dumas d.Ä., Flaubert, Tolstoi oder Dostojewski sowie englische und amerikanische Kriminalgeschichten oder Gesellschaftsromane – wie die Geschichten des Pater Brown von Gilbert Keith Chesterton oder eines „Oliver Twist“ und „David Copperfield“ von Charles Dickens – Hochkonjunktur hatten, blieb dies in Italien vollkommen aus. Stattdessen blühte das „Opernhafte“ auf, wie Gramsci sich ausdrückt, und übernahm in Form des Melodrams die national-populäre Rolle, die andernorts die Literatur spielte. Dabei erwähnt Gramsci explizit die Kompositionen von Giuseppe Verdi: Gramsci zufolge waren Verdis Opern volksnahe Kunstwerke, fähig, Theaterhäuser in offene Austragungsräume zu verwandeln, in denen bedeutende Anteile politischer Konflikte ausgetragen werden konnten. Da das Volk nun einmal „unbelesen“ sei, so folgert der kommunistische Theoretiker, kenne es aus der Welt der Literatur höchstens die Geschichten der italienischen Opernlibretti des 19. Jahrhunderts. Das Opernhafte in der politischen Entwicklung und Kultur Italiens habe so letztlich dazu geführt, dass die Italiener ein ausgeprägtes musikalisches und melodramatisches Lebensgefühl kultiviert hätten. Dass eine solche Mentalität Empathie-Fähigkeit und Menschlichkeit schult, bedarf an dieser Stelle wohl kaum mehr der Erwähnung. So bleibt mit Bezug auf den „Rigoletto“ – zweifelsfrei eine der stärksten Opern von Verdi – schlichtweg dessen Italianität im Sinne Gramscis festzuhalten, die, auch unter Berücksichtigung des kulturell katholisch konnotierten Aspekts der Tragödie, in Köln genau richtig angesiedelt sein dürfte. Dass die Frauen „flatterhaft“ seien („La donna è mobile...“), sollte in diesem Kontext allerdings keineswegs als misogyn verstanden werden. Vielmehr hat Verdi mit dieser Arie das menschlich-allzu menschliche Phänomen der (zeitlich begrenzten) Liebe überhaupt, jenseits aller Geschlechterunterschiede, allegorisch versinnbildlicht durch „die“ Frau an sich definieren wollen – zugegebenermaßen zwar aus Männersicht, doch welche alternative Warte einer Verdi ebenbürtig rezipierten Opernkomponistin kennen wir schon?

Vielleicht hat es die (rare) Bühnenarbeit einer weiblichen Regisseurin wie Thalbach gebraucht, um das „Spiegel“-Cover-Thema (Nr. 2, 5.1.2018) „Frauen, Männer und alles andere: Geschlechterrollen und Sexualität 2018“ als „opernhaftes“ Thema gemäß Gramsci und im Auftrag der gelebten Gleichberechtigung umzusetzen. War Thalbach in den Kritiken der „Rigoletto“-Premiere 2012 noch relativ oft gescholten worden (überwiegend von männlichen Journalisten, aber z.T. wohl auch seitens des Kölner Publikums), so wurde kurz davor Thalbachs schauspielerische Cross-Gender-Leistung als „Alter Fritz“ im TV-Doku-Drama „Friedrich – Ein deutscher König“ (erstmals ausgestrahlt am 7.1.2012 auf Arte und am 16.1.2012 in der ARD) anlässlich des 300. Geburtstages des Preußenkönigs Friedrich II. (1712-1786) als ausgesprochen gelungen gelobt.

Im Rahmen der Fernseh-Gedenkfeier für den deutschen „Friedrich“ (Buch: Yury Winterberg, Jan Peter; Regie: Jan Peter) teilte sich Katharina Thalbach, die den späteren „König“ (schon wieder eine absolutistische Königsfigur wie bei Victor Hugo) in Frauengestalt spielte, vor der Kamera die Rolle mit ihrer Tochter Anna, die den jungen „Fritz“ gab. Nicht nur übernahmen in dem Dokumentationsdrama also zwei Frauen die Rolle eines historisch herausragenden Mannes – besser gesagt: eines Königs, oder: eines „Herren“. Womit die beiden Thalbach-Schauspielerinnen die gewachsenen, patriarchalischen Machtverhältnisse auf der Geschlechterebene gewissermaßen umkehrten. Vielmehr verliehen sie der mindestens ebenso doppelbödigen Figur des Preußenkönigs, wie es die des Rigoletto ist, in der Figurendarstellung des Volkssouveräns aber auch gleich zwei verschiedene, voneinander getrennt existierende Königskörper und manifestierten dadurch optisch seine innere Zerrissenheit, biographische Gespaltenheit oder grundständige Ambivalenz. Zu guter Letzt fällt bei der Analyse eines möglichen Interesses von Thalbach an Verdi auf, dass man den Alten Fritz an seiner krummen Wirbelsäule – d.h. wie den buckligen Rigoletto an seiner gebückten Körperhaltung – erkannte. Thalbachs Regiekonzept folgt demnach der Devise, zwischen der respektablen Gardeschauspielerin Thalbach, die den deutschen Friedrich II. mimt, einerseits und der Regisseurin Thalbach, die das von Verdi dargestellte italienische Hofleben im 16. Jahrhundert einzufangen versucht, andererseits zu vermitteln. Überhaupt scheint es Thalbach ein Anliegen zu sein, die hybriden Intersektionsbereiche zwischen Geschichte und Musik, TV und Theaterbühne, Männer- und Frauenwelten, Generationen und Kulturen herauszustellen und gleichzeitig überbrücken zu wollen. Ihre Inszenierung des „Rigoletto“ bekommt dadurch Seltenheitswert, dass sie den Gender-Aspekt fokussiert und die Stärken des Dramas sowie der Komposition diesbezüglich hervorzukehren weiß. Thalbachs Szenerie kommentiert die Selbstgefälligkeit des Herzogs mit burleskem Unterton ebenso, wie sie etwa der Schlussarie Rigolettos, dessen Vaterliebe an seine Grenzen stößt, und Gildas Scham darüber, dass sie den Vater um einer hoffnungslosen Liebe willen verraten hat, genau die Innigkeit entlockt, die Verdis Stück über Zorn und Schändung, Liebe und Leidenschaft, Selbstgefälligkeit und Aufopferung, Knechtschaft und Schmach, Betrug und Rache zu einem Meilenstein der veristischen Operngeschichte gemacht hat.

Die Einzigartigkeit von Thalbachs Handschrift ist, dass bei ihr die Frauenfrage „zwischen“ den Zeilen und Tönen subversiv anklingt und es ihr somit gelingt, in die männerdominierte Machtsphäre von außen einzudringen. Verdis Opernstoff ist für Thalbach (ebenso wie für Gramsci) nicht nur in der europäischen, insbesondere romanischen Literaturgeschichte zu Hause – die ihrerseits selbstverständlich, bis auf ein paar „Quoten“-Ausnahmen, von den Herren der Schöpfung diktiert worden ist (Verdi, Piave, Hugo, Voltaire, zuvor Mozart, Da Ponte, Beaumarchais, Saintine, Mélesville, u.s.w.) – sondern auch in der Politik. Verdi selbst verstand sich als ein Vertreter des Risorgimento und somit als Sympathisant des französischen „Revolutionärs“ (in theaterkonzeptioneller Hinsicht) Victor Hugo. Seinerzeit blieb ihm keine andere Wahl als die, sich auch künstlerisch der K.u.K.-Zensur in Italien zu beugen: Er verlegte den Ort der Handlung von Paris nach Mantua, machte aus dem König einen Herzog, wodurch er jeglichen Bezug zu Franz I. anonymisierte, nannte einige Familien um und änderte den Titel vom „Fluch“ – des bei Thalbach an einen Rollstuhl gefesselten Grafen Monterone, dessen Tochter ebenso wie später Gilda vom Herzog sexuell missbraucht wird, worüber sich Rigoletto am Anfang des Operndramas mokiert und weswegen ihn Monterone letztlich „verflucht“ – in „Rigoletto“ ab.

Dieser neue, durchaus sensible Männertypus personifiziert als verkrüppelte Hauptfigur einen tragischen aber auch liebenswerten Helden namens „Rigoletto“, der vergeblich gegen die Mauer von Herrschaftsinteressen und des Geldes ankämpft. Indem er zum Titelhelden avanciert, zollt ihm Verdi insofern Respekt, dass Rigoletto gegen die „anderen“, gegen Macht, Geld, Unrecht und Korruption rebelliert und sich gleichzeitig für die Tochter als Inbegriff des traumatisierten Geschlechts einsetzt. Obgleich er es letztlich nicht schafft, Gildas Sprachlosigkeit zu überwinden (denn Gilda wird sterben, d.h. verstummen), so will er ihr nicht nur zur Flucht als einer möglichen Lösung und Heilung ihrer Not verhelfen. Vielmehr ermutigt Rigoletto Gilda auch, wenngleich unbeabsichtigt, ihre Lebensträume – versinnbildlicht durch ihre Liebe zum Herzog – zu verfolgen. Hier stehen männliches und weibliches Opfer am Ende des Stücks auf einer Stufe, gewissermaßen gleichbenachteiligt nebeneinander, wenngleich aus vollkommen unterschiedlichen Gründen.

Entscheidend bleibt, dass Verdi besonders realistische, sozial signifikante Nuancen durchscheinen lässt, wodurch „Rigoletto“ zum Vorläufermodell jener Musikströmung wird, die sich als „Veristische Oper“ in die Kulturgeschichte einschreibt. Bislang haben Musikhistoriker den Beginn dieses Genres erst mit Verdis „La traviata“ angesetzt. Liest man „Rigoletto“ aber aus der kulturgeschichtlichen Perspektive des Vergewaltigungsprivilegs seitens des mittelalterlichen und neuzeitlichen Adels gegen, d.h. erkennt man zunächst das standesgebundene Vorrecht auf den ersten Beischlaf mit der Braut eines Untertanen in der Hochzeitsnacht an, und folgert dann daraus, dass hier Legitimationstechniken sexueller Gewalt am Werk sind, werden die politische Brisanz und geschichtliche Tragweite der auf den ersten Blick bizarr, pikaresk und äußerlich schlicht glücklos wirkenden Opernfigur Rigolettos aus dem Jahr 1851 evident. Die „Ius primae noctis“ sanktionierte demnach aus heutiger Sicht wahrscheinlich Jahrhunderte lang nichts Geringeres als ein juristisch gut verpacktes und verschleiertes Vergewaltigungsrecht, welches ein Adliger anlässlich einer jedweden Hochzeitsnacht in seinem Land geltend machen durfte.

Dass es dabei nicht nur um das sklavenähnliche, nämlich auf Abhängigkeit, Leibrecht und Fronarbeit basierende Verhältnis zwischen Grundherrn und Bauern, um Macht, Ausbeutung und erpressten Sold ging, sondern selbstverständlich auch die – vollkommen ausgeklammerte d.h. unbeachtet gebliebene – Würde der Frauen keinerlei Berücksichtigung fand, sagt uns eigentlich der gesunde Menschenverstand. Tatsache aber ist, dass solch ein Recht in Europa lange geherrscht hat und dem „Recht des Herren“ umfangreiche Forschungen und Debatten, im 19. Jahrhundert gar ein regelrechter Historikerstreit, gewidmet wurden. Es stritten – natürlich – Männer um diese Sache, vor allem auch Deutsche. Lange Zeit wegweisend blieben die Thesen des deutschen Rechtshistorikers Karl Schmidt, der 1881 das erste, auf umfassendem Quellenmaterial basierende und somit möglichst objektive Werk zum Thema „Jus primae noctis. Eine geschichtliche Untersuchung“ (Herder, 1881) veröffentlichte. Ihm folgten verschiedene weitere Studien, darunter das Buch über „Das Herrenrecht der ersten Nacht. Hochzeit, Herrschaft und Heiratzins im Mittelalter und in der frühen Neuzeit“ (Campus, 1998) von Jörg Wettlaufer. Bis heute hält sich Karl Schmidts Schlussfolgerung, dass das „Ius“ wohl als eine „Sage“ zu bezeichnen sei, die sich im Laufe des 15., Anfang des 16. Jahrhunderts herausgebildet habe. Dies würde im Umkehrschluss bedeuten, dass die Ausbeutung des Körpers und der Psyche von Milliarden von Frauen über Jahrhunderte hinweg auf sehr tönernen Füßen steht, da es allein auf Mythen und Legenden basiert. Nachdem das ebenso moralische wie juristische Problem in weit entlegene Zeiten verlagert blieb, kann es noch heute mit vermeintlich aufgeklärten Zeiten theoretisch kaum mehr viele Berührungspunkte haben. Dieser Selbstberuhigungstaktik nach hätte die nicht egalitäre Gesellschaftsstruktur dann unbehelligt ad infinitum unverändert bleiben können, wie sie war, denn nichts Genaues wusste „Mann“ schließlich nicht. Hätten sich die Frauen nicht ab Anfang des 20. Jahrhunderts zunehmend militant zu Wort gemeldet.

Denn die soziale Wirklichkeit sieht 2018 ganz anders aus. Der Mensch als Ware und die Frau als Ware haben nach wie vor Konjunktur – so lange sind weder Deutschland noch Italien noch Europa in Wahrheit aufgeklärt, d.h. menschen-, männer- und frauenemanzipiert. Mit der Gleichberechtigung der Frau scheint es außerdem gerade im (katholischen) Köln auch nicht sehr weit her zu sein, denkt man an die Massenangriffe und -vergewaltigungen, die in der Silvesternacht 2015/2016 mitten in einem der reichsten Industrieländer der Welt unter den Augen der (überforderten) Obrigkeiten und (medialen) Öffentlichkeit stattfanden. Immerhin verhalf diese von den männlichen Beschuldigten – darunter zahlreiche Einwanderer, Flüchtlinge und wohl vorwiegend Nordafrikaner arabischer Herkunft – beigebrachte Erfahrung der deutschen Öffentlichkeit zu einer rasanten Sensibilisierung für das Thema „sexuelle Nötigung“, worunter von Stund an sowohl „Beleidigungen auf sexueller Basis“ (à la Brüderle), als auch Handgreiflichkeiten bis hin zu systematischen Übergriffen als Straftatbestand zu verstehen waren. Erfreulich, dass in Hamburg in der aktuellen Silvesternacht 2017/2018 zwar ein gutes Dutzend „Beleidigungen auf sexueller Basis“ zur Anzeige gebracht werden mussten, aber insgesamt deutlich weniger Übergriffe als in jener Silvesternacht 2015/2016 registriert wurden, in der Hunderte von Frauen nicht nur in der Hansestadt Opfer von männlichen Attacken wurden.
 

Dank der Großaufgebote der Polizei, Personenkontrollen, Straßenabsperrungen und zusätzlicher Straßenbeleuchtung, der Einrichtung von Schutzzonen – sogenannter „Safety Areas“, die als Rückzugsbereich für sexuell belästigte Frauen dienen und in denen dieses Jahr etwa auf der Festmeile in Berlin für Krisen geschulte Helfer des Deutschen Roten Kreuzes bereitstanden – sowie dank einer gezielten Videoüberwachung hat es 2018 insgesamt in deutschen Großstädten „nur“ vereinzelte sexuelle Übergriffe auf Frauen gegeben. Berlin meldete sieben Festnahmen, Köln drei. Also viel Lärm um nichts? – Wohl kaum angesichts der hier aufgerollten Geschichte und Geschichten. Gerade in Köln ist den Menschen die berüchtigte Nacht zum 1. Januar 2016 noch sehr präsent, als es auf der Domplatte zu Zusammenrottungen von mehreren Hundert Personen kam und viele Frauen von Männergruppen sexuell bedrängt und bestohlen wurden. Dieser rechtsfreie Raum ist den Kölnerinnen und Kölnern als schockierend in Erinnerung geblieben. Nachdem im Schutz der Dunkelheit unzählige Straftaten begangen worden waren, kam es in über tausend Fällen zur Anzeige, zu einem Urteilsspruch jedoch lediglich in gut dreißig Fällen.
 

Es ist genau dieser symptomatische Missstand der „Kölner Silvesternacht“, der uns die berechtigte Frage vor Augen führt, wie weit der feministische Fortschritt in Deutschland eigentlich gediehen ist? Denn sicherlich hingen die frauenfeindlichen Übergriffe auf der Kölner Domplatte mit der massiven Flüchtlingswelle nach Deutschland im vorausgegangenen Jahr 2015 zusammen. Dass es jedoch die Frauen traf, hat Methode und zeigt die ganze menschliche Hilflosigkeit, emanzipatorische Rückständigkeit und die politische Notwendigkeit, für die eigenen, auch geschlechtsspezifischen Rechte einzutreten, soziale Schieflagen unmissverständlich zu artikulieren und sich entsprechend sozial zu engagieren. Diese Einsicht entspringt genau den archaischen Angriffen auf das (weibliche) Persönlichkeitsrecht, die eine „Ius primae noctis“ duldete und die in der Kölner Silvesternacht plötzlich eruptiv in ein Massenphänomen umschlugen. Sie lässt uns die Entwicklungslogik der Protestbewegung der Frauen verständlich werden. Bei der traditionell in Frankreich und den USA ab dem 19. Jahrhundert starken Emanzipationsbewegung der Frauen angefangen, über den europäischen Feminismus der 1960/70er Jahre und den mit Femen im Westen wieder erstarkten Neo-Feminismus der 2000er Jahre, bis hin zu nationalen Ausformungen wie die Hashtags #Aufschrei in Deutschland oder #MeToo in den USA. Die rezente „Time’s Up“-Bewegung der weiblichen Schauspielerinnen-Zunft aller Nationen in Hollywood oder globale Aktionen wie „Die Waffe der Frau“ und „Frauen in Deutschland für Mädchen weltweit“, mit denen das internationale Kinderhilfswerk „Plan International“ insbesondere von Deutschland (Hamburg) und der Schweiz (Zürich) aus Bildungsbewegungen in Entwicklungsländern etwa unter dem Schlagwort „Because I am a Girl“ fördern, machen deutlich, dass der Weg für Frauen weiterhin „weg von der Kinderbraut“ und „hin zur Kinderärztin“ führen muss.
 

Andererseits muss das Nachdenken über Geschlechterfragen ja nicht notwendigerweise bedeuten, dass wir es den behördlichen Einsatzkräften im eigenen Land gleichmachen müssen. So meldete die Berliner Polizei per Twitter-Nachricht unter den Hashtags #Welcome2018, #Festmeile und #Berlin am Silvesterabend „leider vereinzelt sexuelle Übergriffe“ und schob sogleich den zu Recht abschreckend formulierten Kommentar nach: „Wir haben zivile Kolleg. auf der #Festmeile, die gegen diese Taten vorgehen“ (Berlin, 31.12.2017, 23:31 Uhr). Die Formulierung der „Kolleg.“-schaft, die durch die Setzung des Punkts in einer Wort- und Satzmitte die Wortendung substituiert, um in politisch korrekter Form beide Geschlechter zu inkludieren, signalisiert durch eben diesen Punkt – ebenso wie die derzeit parallel um sich greifende Sternchen-Lösung für Kolleg* (-innen und Kollegen) – eine grammatikalische Neutralisierung, die Einsparung des Geschlechts oder Negation des kleinen aber feinen Unterschieds zwischen weiblich und männlich. Können wir das paritätische Missverhältnis zwischen Mann und Frau durch Weglassungen, Unaussprechbares, pures Ausradieren von Wortendungen ausmerzen? Unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist, dass wir uns auf dem Weg, aber noch lange nicht am Ziel befinden. Muss an dieser Stelle die Genderfrage also – egal ob mit einem Punkt oder Sternchen versehen – zum Jahresanfang 2018 ungelöst bleiben?

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