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Musik

Frederic Seul heißt nicht wirklich Frederic Seul. Er hat ein Pseudonym angenommen. Trüge er seinen wirklichen Namen, niemals könnte Seul seinem ungewöhnlichen Beruf nachgehen. Frederic Seul ist Privatermittler. Besser gesagt: er war Privatermittler. Denn seit nunmehr zwanzig Jahren hat sich Seul darauf spezialisiert, solchen Menschen, die aus freien Stücken spurlos zu verschwinden gedenken, ebendies zu ermöglichen. Seul hat ein kleines Büro in Villiers-le-Bel bei Paris. Hier klingelte im Frühjahr 1999 eine dunkelhaarige Frau namens Barbara. Sie setzte sich Seul gegenüber an den schweren Holzschreibtisch und berichtete von ihrem Wunsch, ein anderes Leben beginnen zu wollen. Seul hielt sie davon ab, nähere Details ihrer bisherigen Lebensgeschichte preiszugeben. Er fragte lediglich, ob sie sich ganz sicher sei in ihrem Vorhaben, alles hinter sich zu lassen und freiwillig spurlos zu verschwinden. Barbara nickte. Von diesem Moment an nahmen die Dinge ihren Lauf. Seul bat Barbara, sich einen anderen Vornamen zu geben. Den veränderten Nachnamen würde er dann selbst auswählen. Barbara überlegte, erinnerte sich an eine berühmte weibliche Sagengestalt aus längst vergangenen Jahrhunderten und teilte dem Privatermittler ihre Entscheidung mit.

Anschließend erhielt sie einen Umschlag mit verschiedenen Dokumenten. Darin enthalten: Seuls legendäre Verschleierungstaktik mit dem Titel „Sb1xc3+“. Davon hatte Barbara bereits gehört; als sie das Dossier jedoch in Händen hielt, verschlug es ihr den Atem. Die Sache war kompliziert. Seul hatte seine Verschleierungstaktik derart verschleiert, dass zur Entzifferung der Anweisungen zunächst eine genaue Kenntnis der legendären Schachpartie „Die Perle von Zandvoort“ zwischen Max Euwe und Alexander Aljechin aus dem Jahre 1935 erforderlich wurde. Speziell der 38. Zug (tg1–e1 h7–h6 39. Se6–d8. tf5–f2 40. e5–e6 tf2–d2), in dessen Folge sich eine Hängepartie zugunsten Euwes ergab, stellte sich als ausschlaggebend heraus für die Decodierung der von Frederic Seul bereitgestellten Informationen. Barbara machte sich ans Werk. Zurückgezogen in einem verlassenen Badehäuschen im Bois de Boulogne studierte sie die Schachpartie. Und nachdem sie schließlich auch den 41. (und entscheidenden) Zug der Partie gänzlich durchdrungen hatte, fiel ihr ein Muster auf, nach welchem Seul seinen Vorschlag zum spurlosen Verschwinden Barbaras in der „Perle von Zandvoort“ versteckt hatte. Barbara wählte die Telefonnummer von Seul, um sich bei diesem zu bedanken. Die Nummer existierte nicht mehr. Vollkommen auf sich gestellt, spielte Barbara nun Seuls Plan durch. 24 Tage lang durchkreuzte sie die Stadt nach den Vorgaben des 3. Zugs der Schachpartie (g2–g3 Lf8–b4+ 4. Lc1–d2. Lb4–e7). Am 25. Tag (es war der 17. Mai vor 16 Jahren) stand sie vor der verschlossenen Tür eines zweigeschossigen Gebäudes im 18. Arrondissement. Sie klopfte. Es öffnete ein Herr in einem schwarzen Frack, der ihr wortlos eine für die kommenden 12 Jahre gültige Lizenz zum Alkoholausschank nebst Mietvertrag sowie Erlaubnis zum Verkauf kleiner kalter Speisen (wie z. B. Leberwurstbrot) überreichte, ihr kurz zunickte und daraufhin das Haus verließ. Barbara trat über die Schwelle des Hauses. Nun war es geschehen.
Sie war verschwunden. Spurlos.

Barbara bemerkte, wie ein nie gekanntes Glücksgefühl sich ihrer bemächtigte. Und nur der ehemalige Privatermittler Frederic Seul, der Barbara beim Betreten des Hauses aus der Ferne beobachtet hatte, ahnte zu diesem Zeitpunkt, dass dies nicht das Ende der Geschichte sein würde...

Isoldes Abendbrot
Inszenierung: Christoph Marthaler
Bühnenbild: Duri Bischoff
Kostüme: Sarah Kittelmann
Dramaturgie: Malte Ubenauf
Mit: Anne Sofie von Otter, Raphael Clamer, Ueli Jäeggi, Graham F. Valentine, Bendix Dethleffsen


Eine Übernahme vom Theater Basel
Hamburgische Staatsoper, opera stabile
Premiere: 18. September 2015 um 20.00 Uhr
Aufführungen: 20., 22. September 2015, jeweils 20.00 Uhr
Probebühne 1, Kleine Theaterstraße 1, 20354 Hamburg
Preise: 25 bis 61 EUR
Tickets


Dieser Artikel erscheint in Kooperation mit der Hamburgischen Staatsoper. Malte Ubenauf ist Dramaturg und schrieb den Beitrag für das Journal Nr. 1 2015/16


Abbildungsnachweis:
Foto Christoph Marthaler: Dominik Odenkirchen

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