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Direkt zu erfahren, was dieser Satz bei einer der Hörer-Akademien des Festivals sagte, gab es in Hitzacker in diesem Jahr viele gute Gelegenheiten. Die eindrucksvollste bot am Abend der ‚Feltzschen Lecture’ das Konzert des Quatuor Ebène, Schüler und Freunde des Violinisten. Es schloss mit Ravels F-Dur-Quartett, in dem Pierre Colombet und Gabriel Le Magadure (Violinen), Tomoko Akasaka (Viola) und Raphaël Merlin (Violoncello) die Nähe des Werkes zum zuvor gespielten Meisterwerk von Henri Dutilleux, „Ainsi la nuit" („Und jetzt die Nacht"), verdeutlichten. Es entfielen die Melodienlinien, die Motive schichteten sich übereinander – Ravels Werk ist sehr nah an dem von Dutilleux. „Temps suspendu" heißt der Schlusssatz, und ja, im direkten Vergleich von Ravels Quartett mit diesem Werk wurde die Zeit ausgesetzt. Natürlich entfalteten die vier Musiker im Ravel Melos und Farben strahlend, banden die Details der Motivik darin ein – am Ende tobte das Publikum im ‚Verdo’, dem architektonisch von einer eigenartigen Mischung aus Seventies und energetisch optimierter Gegenwart geprägten Ort der Konzerte. Viel mehr Resonanz geht nicht, und manches Rock- oder Popkonzert könnte eine Dosis solcher Begeisterung brauchen.

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Intendant Oliver Wille, Primarius des Kuss Quartetts und als solcher schon in Vorwendezeiten Schüler von Eberhard Feltz, der in orchestral gestimmten DDR-Zeiten an der Musikhochschule Hanns Eisler in Berlin Anwalt der Kammermusik war, hatte das Programm, sein zweites in dem Städtchen rund 150 Kilometer elbaufwärts von Hamburg, „Sommerresidenz Hitzacker“ betitelt. Ein Motto, das nicht unmittelbar einleuchtet und doch bestens geeignet war, die dramaturgische Idee zu beschreiben: Nicht nur, weil die lateinische Wurzel von Residenz auch feiern bedeutet. Residenzen war in der Geschichte Orte des Kommens und Gehens, und im Programm der Sommerlichen Musiktage trafen sich die Künstlerinnen und Künstler in wechselnden Konstellation. Das Konzept sei in ihm gereift, seit klar war, dass er die Intendanz in Hitzacker übernehme, beschrieb Oliver Wille im Gespräch.
Geworden ist daraus ein Programm „durchwoben von ständigem Wandel und Erneuerung“, und dafür stand „Ainsi la nuit“ quasi paradigmatisch. Das wurde deutlich als „Ainsi la nuit“ Thema der Lecture von Feltz war – ein Musterbeispiel dafür, wie Erleben und Analyse bestens zusammengehen. „Musik ist immer etwas, bei dem der Hörer selbst aktiv sein muss. Sonst bleibt sie stumm“. Im Sinne solcher Aktivität macht Analyse Sinn, auch wenn ein „vollkommenes Kunstwerk sich jeder Deutung verschließt“, wie Eberhard Feltz Goethe zitierte. Die Komposition von Dutilleux, der für „Ainsi la nuit“ auf einen Kompositionsauftrag der Staatsoper Hamburg verzichtet hatte, habe einen „anti-zeitlichen Aspekt“, machte Eberhard Feltz anhand der Vorstellung von kompositorischen Details wie Entwicklung der Sätze oder Krebsmotiviken deutlich. Eben „Temps suspendu“: Die Zeit ist ausgesetzt. Nicht verloren. Und darin Prousts ähnlich, auf dessen großes Romanwerk Dutilleux sein Werk bezieht. Es „hält uns an, zu fragen ob es ein anderes Ich als das vom Alltag bestimmte gibt“ (Feltz).

Das hatte auch der erste große Höhepunkt des Festivals deutlich werden lassen, eine Matinee mit dem kanadischen Cellisten Jean-Guihen Queyras, der von den ersten Takten des Präludiums der G-Dur-Suite von J.S. Bach den Kern dessen deutlich machte, was sein Konzert bestimmte: virtuos sicher wie leichthändig gab Queyras seinem Instrument einen Klang, der strahlen konnte ohne kalt und in die Tiefen gehen, ohne unscharf zu werden. Transparent bis in die kleinsten Details. Genauso fesselnd die folgenden Werke von Britten und Kodály.

„Empörung, Anrufung, ein großes Fragezeichen an die Welt“ und „einen neuen Blick auf die Welt“, das, was Eberhard Feltz als die Essenz von „Ainsi la nuit“ beschrieb – es klingt auch in einer Begriffskonstellation an, die auf den ersten Blick paradox wirken könnte: „Romantische Revolution“. Das war Thema des Kissinger Sommers, und damit auch Themenfeld von dessen Liederwerkstatt, die am vorletzten Tag der Sommerlichen Musiktage in die Residenz Hitzacker gekommen hatte.
Diese bis heute vom Berliner Pianisten Axel Bauni konzipierte Werkstatt ist ein Zentrum des zeitgenössischen Kunstliedes, in 14 Jahren hat sie es auf 83 Uraufführungen gebracht, dieses Jahr sind einige dazugekommen. Größen wie Reimann, Rihm, Trojahn haben für sie komponiert. Eingebettet sind die neuen Lieder immer in solche des klassischen und romantischen Repertoires, bis weit in die Moderne reichend, im in Kapitel gegliederten Hitzacker-Programm über Mahler bis zu Hanns Eisler. „Revolution – historisch“ hieß ein Kapitel: Darius Milhauds „Soirées de Pètrograd“, eine Folge kleiner Szenen aus der Zeit, in der aus St. Petersburg erst Petro- und dann Leningrad wurde. Kimberley Boettger-Sollers feinfühlig geführter Mezzosopran und Siegfried Mausers pointierte Klavierbegleitung ließen Werk und Affekte plastisch erlebbar werden.
Das kaleidoskopische Programm der rund vier Stunden Liederwerkstatt sprach zahlreiche weitere Facetten des Themas und Stationen der Musikgeschichte an. Schuberts „Prometheus“ (markant, manchmal mit Härten: Bariton Peter Schöne) stand neben zwei Vertonungen von Georg Heyms „Robespierre“ (von Rihm und Schleiermacher), zwei Liedern von Mahler (mit Glanz: Sarah Maria Sun) oder drei Gesängen auf Nietzsche von Manfred Trojahn (auf den großen Spannungsbögen gleitend: Caroline Melzer). Eine ganze Welt im Lied.

Zusätzlich zu den Uraufführungen aus Kissingen (darunter der Zyklus „Revolutionary Gardening“ von Alexander Muno), gab es drei für Hitzacker geschriebene. Neuauflage von konventionellem ‚Neutönertum’ war David Philip Heftis rätoromanisch getexteter Zyklus „E las culurs dals tuns“, durch den sich der an anderen Stellen markant singende Bariton Peter Schöne mühte. „Tour de Trance“ von Arnulf Herrmann ist ein durchscheinendes, klanglich leichtes Stück, dessen leise und filigrane Vokalisen die Sopranistin Sarah Maria Sun subtil gestaltete, am Klavier von Jan Philipp Schulz mit klanglicher Tiefenschärfe begleitet. „O“ heißt der Beitrag von Rebecca Saunders, die mit diesem neuen Werk ihre Zeit als ‚Composer in Residence’ in Hitzacker erschloss, eine Vertonung eines kurzen Ausschnitts des Monologs der Molly Bloom im Schlusskapitel von James Joyce „Ulysses“, als Reflexion intimer Gedanken und Erinnerungen Lied par excellence. Sarah Maria Sun folgte den komplexen Pfaden des unbegleiteten Stücks elastisch, die Worte ins Schweben singend. „Die Welt wird Traum, der Traum wird Welt“ – was Novalis von der Romantik sagt, macht „O“ auf prosaische Weise zum Thema.
Rebecca Saunders war als ‚Composer in Residence’ mit ihrer bereits in Seoul, Hongkong und Schwetzingen präsentierten Installation „Myriads“ präsent. 1.054 Spieluhren, die vom Hörer betätigt bis zu 54 Melodien (von Volksmusik bis Klassik) abspielen. Aus den Überlagerungen entstehen Netzwerke des Klangs, in denen sich Melodien bilden – bekannte oder neue. Das passt auch gut zur Festival-Disco.

Bekannt und neu: das sind auch zwei andere Werke von Saunders. Was „Ire“ für Violoncello, Percussion und Schlagzeug mit dem Streichquartett „Fletch“ verbindet, ist dass beide um den Triller kreisen, um dessen Potenziale und die Möglichkeiten, neu zu fassen, was dieser technische Begriff beschreibt. Das US-amerikanische Parker Quartet spielte „Fletch“ eingebettet zwischen einem frischen Mendelssohn und einem kurzweilig-fliegendem, manchmal schon zu luftigem B-Dur-Quartett von Brahms. Dem Hamburger Ensemble Resonanz gelang es im Eröffnungskonzert zusammen mit Jean-Guihen Queyras, die emotionale, dunkle Energie von „Ire“ (in diesem Fall gehobenes Englisch für „Zorn“) zu entfesseln. Ein gelungener Start.

Fast am Tagesende gab es noch einmal Percussion, Johannes Fischer aus Lübeck spielte Open-Air – in der Abendsonne. Mit eigenen Kompositionen, solchen von Xenakis und Cage und anhand von Steve Reichs „Electric Counterpoint“ (im Original für E-Gitarre, in Fischers Bearbeitung für Vibrafon und Audio-Playback) und einer Bearbeitung des Steppenwolf-Klassikers „Born to be wild“ (unter anderem für Kuhglocken) von David Lang gab er dem Schlagwerk eine neue Rolle: die Trommel als "Lautsprecher für Klänge", die normalerweise nicht auf diesem Instrument erzeugt werden. Bis hin zu Vibrati. „Rhythm is it.“ But not alone, stupid.

Die witzig-trockene Art, mit der Fischer sein Programm moderierte, bot Anlass zum Lachen („Kuhglocken sind ja in der Schweiz ein Symbol für Freiheit“) und aufschlussreiches zur Musik. Womit der Dozent an der Lübecker Musikhochschule im besten Sinne für jene Seite des Festivalprogramms steht, in der es um das geht, was heute „Musikvermittlung“ genannt wird und was nur Sinn macht, wenn es der Maxime von Eberhard Feltz folgt, dass „Musik in jeder Faser Bedeutung ist, aber in einem sinnlichen Sinn.“ Die Seitenthemen des Festivalprogramms umfassen Konzerteinführungen, eine vertiefende Hörer-Akademie, einen Laienchor, ein Vokalensemble für ambitioniertere Laien, eine Hausmusik-Akademie und eine für junge Musikerinnen und Musiker am Beginn ihrer Laufbahn, die unter anderem das Festival mit einem Stadtfest eröffneten.

Im kommenden Jahr geht es um Beethoven. Unter anderem ist eine Aufführung aller Streichquartette durch Oliver Willes Kuss Quartett ins Auge gefasst.

Sommerliche Musiktage in Hitzacker

Weitere Informationen


Abbildungsnachweis: Fotos: © SMH / Kay-Christian Heine
Header: Auftakt auf dem Marktplatz von Hitzacker.
Galerie:
01. Eberhard Feltz im öffentlichen Workshop mit der Festival-Akademie mit Publikum
02. Eberhard Feltz und Oliver Wille
03. Jean-Guihen Queyras
04. Axel Bauni und Caroline Melzer
05. Rebecca Saunders
06. altEröffnung der Klanginstallation Myriad
07. Parker Quartet spielt „Fletch“
08. Johannes Fischer. Foto: Thomas Janssen
09. Stimmungsbild
10. Late Night Lounge

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