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Als der Flieger landet, macht das norwegische Bergen seinem Ruf ihrem als regenreichste Großstadt Europas für ein paar Stunden alle Ehre. Der Reporter tröstet sich: In den Theatern, Konzerthallen und Museen ist es schließlich warm und trocken, und beim Bergen International Festival, das am 24. Mai eröffnet wurde, gibt es von allem genug. Für zwei Wochen Ende Mai, Anfang Juni verwandelt sich die Stadt mit der reichen Tradition in eine Kulturmetropole, ist extrastolz auf das, was sie ohnehin hat und holt sich genug dazu, um 250 bis 300 Kulturtermine in dieser kurzen Zeit anzubieten, wie Anders Beyer, ideenreicher Däne, CEO und künstlerischer Leiter des Festivals, gern erzählt.

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Dabei ist Kultur nicht unbedingt das erste, was einem bei Bergen einfällt. Da ist die lange Handelsgeschichte im Rahmen der Hanse, von der die bunten Holzhäuser am Hafen erzählen, die in ihrer langen Geschichte öfter mal abbrannten und immer als exakte Replik neu errichtet wurden, so dass das historische Flair ganz gut zu spüren ist. Nach Bergen kommt man mit Bahn, Flieger oder Kreuzfahrtschiff, die Stadt ist ein idealer Punkt, um Norwegen zu erleben. Der Fischmarkt – ein Muss, es gibt Lachs auf gefühlt 50 Arten, die Arme der riesigen King Crab, Klippfisch, Stockfisch, Meeresfrüchte, viele Sorten Kaviar, Walfleisch zum Probieren, Lachsöl wird mit japanischen und chinesischen Schriftzeichen beworben – es stößt auf reges Interesse der vielen asiatischen Touristen.

Bergen ist zwar die zweitgrößte Stadt Norwegens, aber was man an der Stadt sehen möchte, liegt fußläufig nah beieinander. Bergen ist, besonders abends, wenn es im Sommer erst gegen Mitternacht dunkel wird, eine Stadt der Flaneure, vor allem am Wochenende. Sie sind unterwegs zu einem Restaurant, auf der Suche nach einem Bier draußen – zum Beispiel im Biergarten neben dem Logen Theater. Oder auf einem der vielen Wege zur Kultur.

Zur Festivalkultur: Je mehr es gen Abend hingeht, desto häufiger trifft man in der Stadt Menschen mit dem schwarzen, weiß bedruckten Festival-T-Shirt – freiwillige Helfer, Techniker, Mitarbeiter. Auf dem Torgallmenningen, der breiten Magistrale zwischen Johanneskirche und Hafen, lockt der Ticketpavillon, daneben ist eine kleine Festivalbühne aufgebaut, auf der den Vorübereilenden täglich unüberhörbar Lust auf mehr gemacht wird. Vor dem Festivalhotel werden elegante Weltklasse-Geigerinnen von nicht minder eleganten Tesla-Flügeltürern mit Chauffeur abgeholt und zum Auftrittsort gefahren – selbst der Transportservice der „Festspillene“ verbindet auf lockere Art, aber sichtbar die Ideen Kultur – Festival – Gegenwart und Zukunft.

Treue und Zweifel – das Generalthema für 2018
„Mehr Zeitgenössisches“, sagt Anders Beyer denn auch prompt, als ich ihn frage, in welche Richtung er das Festival weiterentwickeln will, das er derzeit bis 2022 leitet. „Zeitgenössisch, lebendig, mehr Uraufführungen, mehr Auftragswerke.“ Das Generalthema für das kommende Jahr hat er schon: Treue und Zweifel. „Und ich möchte das Festival weiter etablieren als Startpunkt für Diskussionen, die wir ja jetzt schon initiieren.“ Als ‚Composer in residence’ ist 2018 dabei Sofia Gubaidulina – eine direkte Verbindung in die Metropolregion Hamburg.

Bergen ist ein gutes Pflaster für spannungsreichen Umgang mit Kunst: Zehn Prozent der Einwohner sind Studenten, „aber wir haben hier auch viel altes Geld und eine wunderbare Tradition des Mäzenatentums.“ Sein Budget von umgerechnet 7,6 Millionen Euro kommt zu 50 Prozent von Staat und Region, zu 50 Prozent vom Sponsoring und den Tickets. „Unsere Besucher kommen direkt aus der Stadt zu 50 Prozent, 20 Prozent aus der Region, 20 aus Norwegen und zehn Prozent aus aller Welt.“

In diesem Segment kann man in einer Touristenstadt sicher noch wachsen? Anders Beyer nickt, er denkt aber sehr viel weiter und will die Zuschauergrenzen digital sprengen. Er hat einen Vertrag gemacht mit Mezzo, dem französischen Digital-Kanal, der Produktionen, Konzerte und Dokumentationen aufnimmt und digital verbreitet. „Die haben 62 Millionen Zuschauer, davon müssten wir doch zehn Millionen für das interessieren können, was das Bergen Festival tut.“

Es wäre schwer, dieses Festival auf einen Punkt zu bringen, auch wenn das Generalthema für 2017 das in schöner Allgemeinheit versucht: Identität. Aber die Angeln, die Anders Beyer auswirft, um Zuschauer zu fangen, sind deutlich vielfältiger, die „Identität“ hat im Programm dann gleich drei Unterabteilungen, die mit den englischen Begriffen Festivities – Foundations – Friction etikettiert werden. Zu Festivities gehört Entertainment und Überraschungen für Jung und Alt, Erfahrungen für Kopf, Herz und Füße. Foundations sind Aufführungen und Konzerte mit einer Geschichte – das Beste aus den Traditionen klassischer Künste. Und Friction will unbekümmert sein und frech, experimentell und erforschend.

Exkursion in die Untiefen menschlichen Wahns
Was da alles dazugehören kann, spürt man schnell, selbst wenn man nur ein paar Tage hineinschnuppern kann. Bob Wilsons „Shakespeare’s Sonnets“ haben zwar schon acht Jahre auf dem Buckel, die poetischen, skurrilen und frappierenden Traumbilder mit der Musik von Rufus Wainwright machen aber als Eröffnungsvorstellung mit dem Berliner Ensemble im 1.500-Plätze-Halbrund der fast vierzig Jahre alten Grieghallen immer noch eine verblüffend frische Figur.

Fast schon 800 Jahre – mit ruinösen Zwischenzeiten und Wiederaufbauten – hat die Håkonshallen überstanden, da hat die Elbphilharmonie noch einiges vor sich. Der gotische Saal mit einer feinen, nicht zu halligen Akustik ist am nächsten Abend Spielort der Cellistin Alisa Weilerstein und des Pianisten Jonathan Biss, klassische Kammermusik, zu der auch mal das junge Streichquartett Opus 13 stößt.

Im ‚Logen Teater’, einem Fest- und Konzertsaal aus dem Jahr 1883, zelebriert das quirlige Norwegische Kammer Orchester seinen 40. Geburtstag – ganz Barock mit Telemann und Purcell, und in der zweiten Hälfte des Konzerts atemberaubend intensiv mit Peter Maxwell Davies’ „Eight Songs for a Mad King“, eine experimentierfreudige Exkursion in die Untiefen des menschlichen Wahns, anrührend, bewegend, fordernd, grandios gesungen und gespielt von Tenor Nils Harald Sødal. Am selben Abend, zweites Konzert, verbinden die Musiker Schönbergs „Verklärte Nacht“ und Bachs „Goldberg Variationen“ in einer faszinierenden Fusion im Grenzland von Klassik und Jazz, arrangiert von Bugge Wesseltoft.

Abschied für die Kurztour ist ein Konzert im Troldsalen, da, wo auf dem Troldhaugen (Trollhügel) Edvard Griegs Villa steht, hier hat er gelebt und komponiert. Der Konzertsaal hat die Anmutung der Aula der Bucerius Law School, nur dass man durch das Fenster hinter der Bühne direkt auf Griegs Komponistenhütte und aufs sonnenüberglitzerte Wasser schaut. Das muss natürlich gesagt werden: Noch in der ersten Nacht unseres Kurzbesuchs trollten sich die Wolken, und ein dreitägiger Minisommer trieb die Temperaturen auf fast 25 Grad, die Regenjacke hatte für den Rest der Reise ausgedient.

Zeitgenössische Musik neben Griegs Komponierhütte
Hier im Troldsalen singt die große schwedische Sopranistin Anne Sofie von Otter, begleitet vom Streichquartett Brooklyn Rider Musik von zeitgenössischen Komponistinnen und Komponisten – der Eindruck ist nicht falsch: In Bergen traut man sich was. Vorbildlich für Elbphilharmonie-Frühaufsteher: Kein einziger Zuhörer verlässt vorzeitig den Saal. Ist aber auch zu spannend, dieses Konzert, ungezwungen, humorvoll und voller neuer Eindrücke.

Die Bandbreite des Bergen Festivals reicht noch viel weiter, und während man im Programmbuch blättert, möchte man am liebsten Dauerkunde im Ticketcenter werden, um ja nichts zu verpassen. Spontanbesucher haben durchaus Chancen, nicht alles ist komplett ausverkauft. Norwegischer Folk, ein Opernpub zum Selbstsingen. „Patina“ eine hochgelobte und weit getourte Performance von 30 Frauen zwischen 64 und 83, Ballett mit Acosta Danza, Vorstellungen von und für junge Menschen, Beatles für Babies, Zirkus, Benjamin Brittens Oper „Peter Grimes“ mit dem Bergen Philharmonic. Das rituelle Muss in jedem Jahr, Griegs Klavierkonzert a-Moll, spielt diesmal Joachim Carr im Abschlusskonzert des Festivals. Lang Lang musste sein Konzert absagen; aber Richard Goode; Klavierlegende aus New York, kommt und spielt Bach, Beethoven und Chopin. Violinistin Janine Jansen schaut für zwei Kammerkonzerte vorbei, Andreas Scholl und Tamar Halperin balancieren zwischen Bach, Berg, Britten und Zeitgenossen.

Ingfrid Breie Nyhus spielt Hardanger Fiedel-Melodien ganz feenhaft auf dem Konzertflügel, in Griegs Villa, auf dem Flügel des Meisters – mehr geht nicht, oder? Bach-Kantaten? Eine Meisterklasse bei der Komponistin in Residenz, der Finnin Kaija Saariaho, oder eine bei Richard Goode? Ein szenischer „Messias“, Regie: Netia Jones, im alten Jugendsstil-Theater „Den Nationale Scene“ (vor dem ein steinerner Ibsen grimmig wacht) mit den leidenschaftlichen „Barokksolistene“, ein Konzert des „London Sinfonietta“, eine Reise in die Erinnerung von und mit Robert Lepage? Die Tiger Lillies mit „Edgar Allan Poe’s Haunted Palace“? Saariahos Kammeroper „La Passion de Simone“?

Lammrücken? Gebackene Kalbszunge? Oder Plukkfisk?
Oder doch lieber Ausstellungen? Die Festival Ausstellung ist Norweger Jan Groth gewidmet, eine zweite ist zum 80. Geburtstag der norwegischen Königin Sonja gewidmet – ihre erste Solo-Ausstellung in einem großen Museum (in KODE 1). Zur Eröffnung reist sie selbstverständlich an. Nebenan, in KODE 3, wird die großartige Munch-Sammlung gezeigt, in KODE 4 die vielschichtigen und verrätselten Gemälde des wiederentdeckten norwegischen Malers Nikolai Alstrup.

Wer sich in Bergen und der Festivalkultur umgesehen hat, sollte sich am Abend einen Besuch bei der Bergener Esskultur nicht versagen. Etwa in der Bare Vestland, wo wunderbar urige und feine regionale Küche in Knapp-über-Tapas-Portionen auf den Teller gebracht wird, gerade so übersichtlich, dass man durchaus auch den dritten nicht verschmäht. Wie wär’s mit Gebratener Kalbszunge, eine ultrazarte Delikatesse? Oder mit Lammrücken? Oder superfrischem Fischtartar? Oder, ganz traditionell, mit Plukkfisch: zerpflückter Klippfisch in Kartoffelpüree mit Speck und Gemüsen? Köstlich. Tradition und Zukunft auch auf den Tellern. Bergen kulturell ist auf jeden Fall etwas für Entdecker.

Initiiert wurde das Festival von der Opernsängerin Fanny Elstad, 1953 wurde es zum ersten Mal realisiert. Vorbild: Salzburg. Und irgendwie passt das, auch wenn die ganz große Oper in Bergen keine Rolle spielt: Genau wie Salzburg und Bayreuth strahlt Bergen etwas charmant Kleinstädtisches aus, kurze Wege, offene Fenster, Musik überall – manchmal bekommt man zur Mittagspause das finale Training des abendlichen Streichquartetts kostenlos dazugeliefert. Und nach den Vorstellungen, jedenfalls bei Sommerwetter, ist Draußensitzen angesagt. Und tagsüber wird gleich im kühlen Meer gebadet – so wie der Hamburger mit offenem Cabrio-Verdeck fährt, sobald die letzten Schneeflächen auf den Straßen auf die Größe von Bierdeckeln geschmolzen sind. Die Nacht ist kurz, gegen halb drei in der Früh wird es langsam wieder hell.

Und sollte sich das Bergener Wetter doch mal wieder darauf besinnen, dass es einen Ruf zu verteidigen hat: Nirgendwo in Europa habe ich so viele hübsche Läden mit überaus modischer und anmutiger Regenkleidung gesehen – in allen Farben, denen man sonst nur in den KODE-Museen und auf den Festivalbühnen begegnet.

Bergen International Festival 2018
23. Mai bis 6. Juni 2018.
Informationen und Tickets gibt es rechtzeitig


Abbildungsnachweis:
Header: Blick auf Bergen. Foto: Hans-Juergen Fink
Galerie:
01. und 02. Crescendo. Fotos: Magnus Skrede
03.
und 04. Shakespeare's Sonnets. Foto: Lucie Jansch
05. Shakespeare's Sonnets. Foto: Leslie Sprinks
06. Anne Sofie von Otter. Foto: Thor Brødreskift
07. Troldhaugen. Foto: Bergen International Festival
08. Installationsfoto JAN GROTH, Selected works 1990-2012. Foto: Thor Brødreskift

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