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Mit der Premiere, der Krimikomödie „Mr. Holmes“ (Kinostart in Deutschland für Dezember 2015 geplant) des US-amerikanischen Regisseurs Bill Condon – ein weit mehr nachdenklicher, feinsinniger und entschleunigter als lustiger Film – zeigt die Festivalleitung das, was sich auch an den folgenden Festivaltagen gesellschaftlich als höchst relevant suggeriert: Filme, die ergreifen.
MR. HOLMES5_ Ian McKellen in MR. HOLMES_PhotoCredit Giles Keyte_Quelle_Alamode
Mr. Holmes, Ian McKellen Foto: Giles Keyte Quelle: Alamode

Sherlock Holmes, brillant gespielt von Sir Ian McKellen, ist in diesem Film nicht der junge, agile Superdetektiv, der getrieben von Spürsinn, Kombinationsgabe und Dr. Watson, alles aufklärt, was sich im London um die vorletzte Jahrhundertwände so ergab, sondern Condons Holmes ist ein alter Mann, 93 Jahre alt, der abgeschieden auf dem Land, in der wunderschönen Kulisse der Kreidefelsen nahe Dover lebt. Mitch Cullins Roman „A Slight Trick oft he Mind“ (2005) dient als Vorlage. Es ist das Jahr 1947, der Zweite Weltkrieg ist von den Alliierten gewonnen, aber Meister Sherlock gehört nicht wirklich zu den Gewinnern, denn er verliert langsam und altersbedingt seine Erinnerungsgabe, sein Denkvermögen. Alles wird bruchstückhaft, Erinnerungen verwischen mit Visionen und Wunschvorstellungen. Zwischendurch blitzt aber immer wieder seine Genialität auf, die ihn jedoch nicht vor der Demenz retten werden kann. Es ist absehbar, dass Holmes irgendwann nicht mehr Holmes ist. In seiner Welt voller Gewalt, die er mit strukturierter, oft emotionsloser Stoizismus zu erklären und erfolgreich aufzuklären hatte, liegt nun ein invisibler Schleier. Im greisen Holmes erwachen Gefühle, sie quellen an die Oberfläche, bahnen sich ihren Weg trotz aller Widerstände. Hatte er nicht Jahrzehntelang seine Emotionen vollständig unter Kontrolle? Schreitet die Alterssenilität etwa im Gleichschritt mit den sich aufbäumenden Gefühlen? Der Rückblick auf sein Leben, die Erinnerungsausflüge werden zu zerbrechlichen Glasobjekten, die Einsamkeit schützt nicht mehr, sie hat Lücken hinterlassen. Der Mann vermenschlicht im hohen Alter und geht den Weg, den alle Menschen gehen müssen.

Gewalt, Jugend, Alter und Tod – sind die Hauptzutaten vieler der Spielfilme und Dokumentationen auf dem diesjährigen Festival:

Das Thema Gewalt durchzieht den Film „Freistatt“ von Marc Brummund, der bereits 2012, gemeinsam mit Nicole Armbruster den Emder Drehbuchpreis erhielt und in diesem Monat in den deutschen Kinos zu sehen ist. Basierend auf wahren Begebenheiten und Schicksalen von Jugendlichen, gesetzt ans Ende der 1960er-Jahre in eine „Fürsorgeanstalt“ im Kreis Diepholz, schildert der Film die körperliche und psychische Gewalt an ihnen und auch untereinander. Die Spirale aus Gewalt und Rebellion ernährt sich aus sich selbst und der Gruppendynamik. Erschütternd ist die Erzählung einer ebenso erschütternden sogenannten „Fürsorgepädagogik". Das Essensgebet wird zur Farce, die Angst lässt jede Grausamkeit geschehen. Bis heute leidet ein Großteil all jener, die damals schwer und ausbeuterisch schuften mussten. Auch in diesem Film lebt das Drama von den überzeugend herausragenden Leistungen der Schauspieler und der excellenten Arbeit der Kamerafrau Judith Kaufmann.
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"Freistatt" von Marc Brummond mit Louis Hofmann (links). Quelle: Edition Salzgeber

Der Titel „Nice Places To Die“ des kurz nach Fertigstellung des dokumentarischen Films verstorbenen Regisseurs Bernd Schaarmann ist ein wenig irreführend, denn es geht in den 106 Minuten um Menschen, die ganz nah am Tod leben oder mit ihm leben und nicht auf der Suche nach Orten sind, an denen der Tod besonders schön sei. In verschiedenen kulturellen und religiösen Zusammenhängen suchte Schaarmann Menschen auf, die auf Friedhöfen von Kairo bis Manila leben, er begleitet einen Leichenüberführer in Argentinien und nähert sich dem Totenkult in Indonesien an. Während in der westlichen Welt der Tod überwiegend und möglichst weit weg von den Lebenden sein soll, gibt es Kulturen, die mit Toten leben oder die Quadratkilometergroßen Totenstädte bewohnen. Schaarmann, selbst Sohn eines Bestatter-Ehepaars, bringt in den aus dem Off gesprochenen Texten immer wieder auch seine Erfahrung und Annäherung mit dem Tod ein. Zwischen Gräbern leben Menschen, weil sie kein anderes Zuhause finden und weil – wie es ein Friedhofsbewohner aus Manila erklärt – dort keine Straßengewalt herrscht. Aus der Enge der Gräberfelder und Mausoleen des staubigen Kairos gleitet der Film immer wieder in die majestätisch-erhabene Landschaft Argentiniens über und begleitet den „Fährmann“ Ricardo beim Transport einer Leiche zu den Angehörigen. Ein Helikopterflug über die Gräberstadt Manilas zeigt das gigantische Ausmaß der Totenstadt in der Hauptstadt der Philippinen.
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Nice Places To Die. Quelle: wfilm

Besonders bemerkenswert schildert Schaarmann den Totenkult der Toraja auf der indonesischen Insel Sulawesi, deren Beerdigungen, egal welcher Religion sie angehören, zu einem gemeinsamen kulturellen Ritual werden. Oft werden die Toten zuvor jahrelang in den Häusern als „Schlafende“ mit Formaldehyd einbalsamiert und aufbewahrt bevor sie begraben werden. Auch das hat etwas sehr menschliches, weil der Abschied von den „Schlafenden“ durch die Angehörigen bestimmt wird und nicht durch ein religiöses oder staatliches Gesetz.

„A Thousand Times Good Night“ (Tausendmal Gute Nacht) des norwegischen Regisseurs Erik Poppe beschäftigt sich mit Gewalt und Tod. Auch wenn der Film ein paar Schwächen in seinen stereotypischen Auffassungen hat, so ist die Geschichte mitreißend und gut erzählt.
Juliette Binoche spielt die Kriegsfotografin Rebecca Thomas mehr als überzeugend. Sie wird überall dort eingesetzt, wo Krieg herrscht oder bewaffnete Konflikte lodern. Ihre blutigen Bilder verkauft sie an eine Redaktion in New York. Die Mutter zweier Töchter und Ehefrau eines Meeresbiologen in Irland ist seit Jugendzeit davon getrieben, jene Bilder zu den Menschen zu bringen, die die Unmenschlichkeit zeigen. Sie begleitet eine Selbstmordattentäterin in Kabul und wird selbst bei der Explosion schwer verletzt. Nach Genesung wieder zurück in Irland entbrennt der familiäre Konflikt. Ehemann und Kinder leben in ständiger Angst die Frau, ihre Mutter zu verlieren. Es muss eine Entscheidung erzwungen werden. Rebecca gelobt, nicht weiter als Kriegsfotografin zu arbeiten.
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A Thousand Times Good Night. Quelle: NFI

Doch schon der erste vermeintlich friedliche Einsatz entpuppt sich als Desaster. Gemeinsam mit ihrer ältesten Tochter Stephanie reist sie nach Afrika, um ein Flüchtlingscamp zu fotografieren, doch auch dort entbrennt aus heiterem Himmel ein Konflikt und Menschen werden ermordet. Anstatt bei ihrer Tochter zu bleiben und sie in Sicherheit zu begleiten zieht es sie entgegen jeder Schutzintuition hinein in die Schießerei und schießt eine Aufnahme nach der anderen. Ob die Fotos und deren Abdrucke in Magazinen tatsächlich etwas bewirken, was ihrem eigenen Impetus entspricht und was sie überhaupt bewirken, zwischen Abstumpfung und kurzem Entsetzen, bleibt offen. Sie ist eine Getriebene. Zurück bleibt eine Suche nach Menschlichkeit, die – und das weiß der Zuschauer vor der Protagonistin selbst – sie nur in ihrer Familie findet.

Filmfest Emden-Norderney noch bis zum 10. Juni 2015
www.filmfest-emden.de/



Abbildungsnachweis:
Headerfoto: Filmferst Emden-Norderney