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„Dieses Buch musste ich einfach schreiben“, sagt sie. „Ein rätselhafter Titel“, forderte Prof. Dr. Hans Wisskirchen, Leitender Direktor der Lübecker Museen die Autorin zur Antwort heraus und fügte hinzu, „mit einer Inhaltsangabe kommt man bei diesem Buch nicht weit“. Das Titelrätsel löste die Autorin sofort. Die Sache mit dem Inhalt klärte sich im Laufe des Abends.

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„Engelherd ist eine Vorrichtung zum Fangen von Engeln, vergleichbar mit dem Vogelherd“, so Olga Martynova. Der Vogelherd habe im 19. Jahrhundert als Freizeitvergnügen gedient, erklärte sie dem Publikum. Wie der von ihr erdachte Engelherd funktioniert, und was es mit Engelsüchtigen und Engelsammlern auf sich hat, das wird im Roman auf phantastische, märchenhafte Weise erzählt. Doch wozu braucht man überhaupt Engel in einem Buch?
„Es gibt manche Dinge, bei denen ich nicht wüsste, wie ich anders darüber sprechen könnte. Ich wollte keine starken Gefühle gebrauchen und missbrauchen.“ Es gehe in dem Buch auch um Schuldgefühle, erklärt Olga Martynova. Doch über Schuld zu sprechen, das sei schwierig. Also habe sie „kleine Figuren“, kleine Engel zu Hilfe genommen. „Ich verwende auch keine Phantasie in der Sprache, wenn es um Euthanasie geht“, nennt sie ein weiteres Beispiel, warum es Engel in ihrem Buch geben muss und fügt nachdenklich hinzu, „das Thema Sterbehilfe ist immer präsent, auch heute.“

Drei Jahre lang hat Olga Martynova an ihrem Roman „Der Engelherd“ gearbeitet. Sie hat zu Themen wie Drittes Reich und Euthanasie recherchiert, hat Fachbücher und Biografien gelesen. Zum Beispiel über die Kunsttänzerin Lucia Joyce, der Tochter von James Joyce, die vierzig Jahre in der Psychiatrie zubrachte. Sie hat sich mit dem Leben der Lyrikerin Christine Lavant befasst, für die der Aufenthalt in der Psychiatrie zum traumatischen Ereignis geriet.

Olga Martynova wollte jedoch kein Fachbuch, sondern einen Roman schreiben. Denn: „Jedes Wissen ist begrenzt. Wissen allein genügt nicht. Kunst kann mehr. Ich glaube, dass ein Schriftsteller der Wahrheit näher sein kann, wenn er ein literarisches Kunstwerk schafft.“ Außerdem, so berichtet sie, habe sie den Protagonisten Caspar und seine Geliebte Laura näher kennenlernen wollen. Die beiden spielten bereits im letzten Buch der Autorin eine Rolle, allerdings nur eine sehr kleine. „Ich hatte Caspar nur schlecht dargestellt. Ich dachte, er muss doch auch noch andere Seiten haben.“ Diese anderen Seiten wollte sie aufdecken, freilegen. Das war der Anfang, das war die Idee, so entstand der Roman, der zu einem vielstimmigen Werk angewachsen ist. Ein Werk, das uns viel zu sagen hat.
Es geht um Liebe, um Schuld, Familie und Verantwortung, Vergangenheit und Gegenwart. Es geht um Fragen wie: Was ist normal und was ist verrückt? Sind wir frei oder gefangen? Sind wir gut oder schlecht? „Wir können nicht sagen, es gibt gute und schlechte Menschen. Wir können nur sagen, es gibt gute und schlechte Zeiten. Das Leben ändert sich nicht schlagartig, sondern allmählich“, sagt Olga Martynova.

Leser von „Der Engelherd“ können auf wundersam eindringliche Art miterleben, wie sich Menschen ändern, wie sich Zeiten ändern. „Ich verzichte das ganze Leben lang auf das Leben, um Bücher zu schreiben, die immer weniger Menschen in der Lage sind zu lesen“, sinniert der Protagonist, der Schriftsteller Caspar Waidegger zu Beginn des Romans und fragt sich, ob das richtig sei. Oder sollte er doch lieber leben, nur leben? Wer weiß. Vielleicht wissen es die Engel. Die allerdings können uns Menschen letztendlich auch nicht helfen, sagt uns Olga Martynova. „Warum, wenn es Engel gibt, obliegt keinem die Aufgabe, Dinge, die erst in der äußersten Hölle vorkommen dürfen, hier auf Erden zu verhindern?“ Diese Frage stellt Christine Lavant in einem der Zitate, die dem Roman vorangestellt sind.

Olga Martynova: „Der Engelherd“
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016
Gebunden, 368 Seiten

ISBN 9783100024329

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Vita
Olga Martynova, 1962 bei Krasnojarsk in Sibirien geboren, wuchs in Leningrad auf und studierte dort russische Sprache und Literatur. 1991 zog sie nach Deutschland. Sie schreibt Gedichte (auf Russisch) und Essays und Prosa (auf Deutsch). Mit ihrem Romandebüt ›Sogar Papageien überleben uns‹ (2010) kam sie auf die Longlist des Deutschen Buchpreises und auf die Shortlist des Aspekte-Preises. 2011 erhielt sie den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis und den Roswitha-von-Gandersheim-Preis. Für ein Kapitel aus ihrem Roman ›Mörikes Schlüsselbein‹ gewann sie 2012 den Ingeborg-Bachmann-Preis. 2015 erhielt sie den Berliner Literaturpreis und hatte die Heiner-Müller-Gastprofessur für deutschsprachige Poetik an der FU Berlin inne. Olga Martynova lebt mit ihrem Mann, dem Autor Oleg Jurjew, in Frankfurt am Main. Quelle: S. Fischerverlage


Abbildungsnachweis:
Header: Olga Martynova. Foto: © Jürgen Bauer
Galerie:
01. Buchumschlag. S. Fischer Verlag
02. Olga Martynova bei der Lesung im Buddenbrookhaus, Lübeck. Foto: Marion Hinz