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Film

Einige werden ihn für wahnsinnig halten, andere für mutig, wieder andere werden aus ihrer Schockstarre heraus nicht gleich reagieren können.
In der Tat, Emmerich greift ein Thema auf, das bei einigen Experten englischer Literatur schon seit langem brodelt. War William Shakespeare (1564-1616) wirklich der Urheber so vieler brillanter Stücke? Es gibt Zweifel und die sind durchaus berechtigt und teilweise nachvollziehbar. Die Stücke basieren, so weiß die Forschung mittlerweile, auf viel älteren Büchern und Texten aus Frankreich und Italien sowie auf Märchen und Sagen. Der oder die Autoren der Shakespeare zugeschriebenen Werke müssen zudem weit gereiste Personen gewesen sein, mit vielerlei Sprachkenntnissen und einer gewissen Vertrautheit ausländischer Sitten und höfischer, politischer und juristischer Verhältnisse. Das war und konnte Shakespeare wohl nicht, er kam aus der Provinz, über seine Schulbildung weiß man nichts, man vermutet, er habe die Grammar School in Stratford besucht, und auch sonst ist sein Lebens weniger als nur lückenhaft bekannt.

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts stellt sich jedenfalls die Frage nach der Autorenschaft intensiv, und die ist bis heute virulent und heiß diskutiert. Allerdings wird andererseits innerhalb der internationalen akademischen Shakespeare-Forschung diese Urheberfrage nicht als legitimes Forschungsthema angesehen, und die „Stratfordianer“ haben sowieso ihre feste, unwiderrufliche Haltung.

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Roland Emmerich hat sich dieses Themas angenommen und lange daran gearbeitet, über 10 Jahre. Sein Film bezieht sich auf Kurt Kreilers Buch „Der Mann der Shakespeare erfand“, 2009 erschienen. Regisseur Emmerich stellt in einem geradezu atemberaubend spannenden Film die Elisabethanische Welt des frühen 16. Jahrhunderts auf den Kopf. Sein Shakespeare ist ein unangenehmer, gieriger, trinkender und wollüstiger Vorstadtschauspieler, der durch Zufall, Intrige und Erpressung nie zu dem werden wird, was wir alle zu wissen scheinen, zu einem Autor vom Format Weltliteratur, nicht wegzudenken aus den Bibliotheken und Theatern, ein sprachliches Genie. Bei Kreiler und Emmerich ist das schriftstellerische Genie Edward de Vere, der 17. Earl of Oxford (Rhys Ifans). Er steckt hinter allem, ist analytischer Kritiker und Beobachter seiner Zeit, kann aber durch die Nähe zum Hof und zum Hause Tudor seine Werke nicht veröffentlichen. Also muss ein Strohmann her, und den findet er im Film zunächst in einem anderen damals bekannten Autor, Ben Jonson und dann später in William Shakespeare. Aber zunächst zum Anfang des filmischen Historiendramas.

Emmerich bedient sich gleich zu Beginn eines Tricks, er macht einen gewaltigen Zeitsprung von einer New Yorker Theaterbühne im Jahr 2010 ins London des Jahres 1604. Der britische Schauspieler Derek Jacobi spricht den Prolog im Scheinwerferlicht der modernen Bühne und am Ende noch das Nachwort. So weiß der Zuschauer, es handelt sich um eine Geschichte oder ein Theaterstück, ob wahr oder erfunden, Märchen oder Realität, das bleibt dadurch offen. Das Theater, nicht die Wissenschaft, kommentiert somit die Theatergeschichte. Schlägt Emmerich hier wohlmöglich Shakespeare mit dessen eigenen Mitteln?

Überhaupt ist „Anonymus“ zeitlich sehr verschachtelt, Handlungssprünge und Rückblenden sind für das Kinopublikum Herausforderungen und Spannungsmomente zugleich. Sieht man von dramaturgischen Schwächen einmal ab, hat der Hollywoodianer Emmerich einen wortgewaltigen, mitreißenden und glaubwürdigen Film auf die Leinwand gebracht. Sicherlich liegen die Reize auch in den Kostümen, der Ausstattungen und den technischen Raffinessen, was aber grundlegend fasziniert ist die Kraft und Macht des damaligen Theaters. Das Wort der Bühne war ein mächtiges, die Bürger Londons liebten ihre zahlreichen Theater, Schauspieler und Autoren und auch die protestantische Königin Elisabeth I (Vanessa Redgrave) war wohl dem Sprechtheater zugeneigt. Ihre Berater allerdings fürchteten die ungeheure Kraft der Dia- und Monologe und so kann das düstere und emotionale Filmdrama seinen Gang gehen: Machtspiele, Intrigen, Gewalt, Verrat, Geld- und Geltungsgier, Leidenschaft und Liebe – das ganze Repertoire wird bedient. Und wie bei einem guten, zeitgenössischen Thriller enthüllen sich viele Details erst am Schluss. Der Meister des cineastischen Weltuntergangs schafft eine erstaunliche Dekonstruktion, an dessen Ende der Untergang einer weltbekannten Ikone steht.

Zum Schluss bleiben Fragen, die auch Emmerich nicht beantworten will: Haben wir uns so lange an eine vermeintliche Lüge oder an die Vermutung gewöhnt, dass wir die Wahrheit, Shakespeare sei nicht der geniale Autor, nicht wissen wollen? Ist die Geschichtsschreibung wirklich wahr? Wollen und können wir nicht mehr anders denken? Die Diskussionen sind eröffnet! Aber entspannt, es ist nur ein Film!

Meine Empfehlung: Schauen Sie sich den Film in der englischen Originalfassung an, die klare Sprache ist eine Freude, auch für alle glühenden Shakespeare Verfechter.

 

(ca. 0.59 Min.) Rhys Ifans ("Edward De Vere, Graf von Oxford") über seine Rolle
 


 

(ca. 5.39 Min.) Roland Emmerich - Pressekonferenz am Set
 


Anonymus (Anonymous, 2011)
GB, D, 129 Min.
Regie: Roland Emmerich
Drehbuch: John Orloff

Mit: Rhys Ifans (Earl of Oxford), Vanessa Redgrave (Queen Elizabeth I), Sebastian Armesto (Ben Jonson), Rafe Spall (William Shakespeare), David Thewlis (William Cecil), Edward Hogg (Robert Cecil), Xavier Samuel (Earl of Southampton), Sam Reid (Earl of Essex), Jamie Campbell Bower (der junge Earl of Oxford), Joely Richardson (die junge Queen Elizabeth I), Paolo De Vita (Francesco), Trystan Gravelle (Christopher Marlowe), Robert Emms (Thomas Dekker), Tony Way (Thomas Nashe), Julian Bleach (Captain Richard Pole)

Angesiedelt in der politischen Schlangengrube des elisabethanischen Englands, spekuliert Anonymus über eine Frage, die schon seit vielen Jahrhunderten zahlreiche Wissenschaftler und kluge Köpfe von Mark Twain und Charles Dickens bis hin zu Henry James und Sigmund Freud beschäftigt hat, nämlich: Wer war der Autor der Stücke, die William Shakespeare zugeschrieben werden? Zahlreiche Experten haben darüber diskutiert, Bücher wurden geschrieben und Gelehrte haben ihr ganzes Leben der Aufgabe gewidmet, die Theorien, die die Autorenschaft der berühmtesten Werke der englischen Literatur umgeben, zu bewahren oder zu zerstreuen. Anonymus gibt eine mögliche Antwort und konzentriert sich dabei auf eine Zeit, als sich politische Intrigen, verbotene Romanzen am Königlichen Hof und die Machenschaften habgieriger Aristokraten, die die Macht des Throns an sich reißen wollten, an einem der ungewöhnlichsten Orte widerspiegelten: der Londoner Bühne.

Kinostart: 10. November 2011

Copyright Fotos & Videos: Sony Picturesalt

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