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Aber der eigentliche Star ist inzwischen wohl das Festival selber, das bei dem kleinen Fischerort Salacgrivas, etwa 100 Kilometer nördlich von Riga an der Via Baltica nach Tallin, der estnischen Hauptstadt, stattfindet. Von der Hauptbühne fiel Iggy Pops Blick zur Rechten auf den Sonnenuntergang, der sich rot in den Ostseewellen spiegelte, die durch die langen hohen Pinien schimmerten. Bühne und Festivalbesucher stehen auf einem schmalen, hügeligen Dünenstreifen, der das Feld vom Strand trennt. Auf der bewaldeten Düne sah Iggy Familien mit kleinen Kindern in Hängematten oder am Boden sitzend. Zur Linken ein von blauen und roten Lichterketten beleuchtetes Festivaldorf mit kulinarischen und Kunsthandwerks-Angeboten. Drumherum Wald und Wiesen. Und vor sich etwa 25.000 fröhlich hüpfende Zuschauer. Halb ironisch griffen sie Iggy Pops häufigen Four Letter-Schimpfwort-Gebrauch auf und schrien fröhlich „Fuck! Fuck! Fuck!“. Der ‚Godfather of Punk’ zeigte sich amüsiert und stimmte in den Schlachtruf ein. Überhaupt war Iggy Pop besonders gut drauf, der 69jährige Gralshüter der Rock-Avantgarde hüpfte trotz diverser gesundheitlicher Zipperlein wild über die Bühne und suchte den Körperkontakt zum Publikum. Gerade hat er allerdings seinen baldigen Ruhestand verkündet – und ist dennoch musikalisch besser als jemals vorher. Das aktuelle Album „Post-Pop Depression“ ist neben den legendären Einspielungen mit David Bowie ein Glanzstück seiner 50-jährigen Karriere. Und Josh Homme von den Queens of the Stone Age an der Gitarre, Dean Fertita von Raconteurs an Gitarre und Keyboards, Matt Sweeney am Bass und Arctic Monkeys Drummer Matt Helders sind ganz sicher seine bisher beste Band. Das gemeinsame Album ist eine Art Fortsetzung von „Lust For Life“, seinem einzigen wirklich erfolgreichen Album. Von dem 1977 von Bowie produzierten und mitkomponierten Album waren die meisten Stücke des grandiosen Auftrittes in Salacgrivas. Wie eine kollektive Erlösung wirkte die Endlos-Version von „the Passenger“ – da das Stück bereits seit Festivalbeginn an jeder Ecke zu hören war und sich in aller Ohren festgesetzt hatte.

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Ein weiterer Festival-Höhepunkt war der Auftritt eines weiteren fast Siebzigjährigen Wahl-New Yorkers, der wie Pop schon mal das Leben auf der Straße kennen lernen musste. Und beide verbindet eine rohe Urgewalt im Gesang. Doch im Gegensatz zum Wild Child befindet sich Charles Bradley erst am Beginn seiner Karriere. Und betritt er die Bühne, zaubert er ein Lächeln in die Gesichter der Zuschauer. Das Auftreten des spät entdeckten Soul-Stars ist zugleich beeindruckend, denn es gibt derzeit keinen besseren Soul-Interpreten, und anrührend. Bradleys ist die beinahe kindliche Freude an jedem Auftritt anzumerken, nachdem er fast 50 Jahre auf seine Chance im Musikbusiness warten musste. Die Band Extraordinaires, wie immer aus Daptone-Hausmusikern zusammengesetzt, ist perfekt eingespielt. Präzise, scharfe Bläsersätze, die immer wieder zu jubilierenden Fanfaren ansetzen und treibende Grooves von Schlagzeug und Bass, dazu funky Gitarren-Riffs. Alles auf den Punkt. Und Stücke, die klingen, als seien sie alte Klassiker aus Motown-Zeiten, etwa „Heartaches and Pain“. Bradleys kongeniale Version von Black Sabbath’s „Changes“, aus dem er sein Abschiedslied für seine kürzlich verstorbene Mutter machte, war der ergreifendste Moment des Festivals. Ralf Eilands sang begeistert jedes Wort mit. Der hatte seinen großen Auftritt am Vortag auf derselben Bühne. Mit der Latvian Radio Big Band sang er Evergreens des lettischen Komponisten Raimonds Pauls, in Lettland so etwas wie Udo Jürgens und James Last zusammengenommen. Klingt nicht sehr Festival-tauglich. War es aber. Sexy Arrangements, ein sehr dynamischer, harter Big Band-Sound, und Ralfs Eilands großartige zeitgemäße Interpretation des des Crooners mit sehr flexibler Stimme brachten überraschenderweise gerade die jungen Zuschauer zum Toben.

Kein Auftritt passte so perfekt ins entspannte Ambiente wie der von Joss Stone. Wer wie sie bereits mit 17 kommerziell als Zukunft der englischen Pop-Musik galt, muss wohl wie die ein Jahr nach ihr entdeckte Amy Winehouse durchdrehen – oder die Musik-Karriere und den ganzen Hype danach umso entspannter betrachten. Das gelang Joss Stone. Beim Positivus-Festival scherzte und flirtete sie mit dem Publikum und verteilte abschließend Sonnenblumen. Ihr so mühelos scheinender, warmer Gesang verleitet dazu, ihre außergewöhnliche musikalische Leistung zu unterschätzen, die sie etwa bei den Soul-Perlen des zweiten Teils der „Soul Sessions“ eindrucksvoll bewies. Für den Open Air-Auftritt griff sie lieber zu den eigenen Stücken, die poppigen Blue Eyed Soul mit Reggae und zeitgemäßem R’n’B verbinden. Es ist einfach schön, ihr Zuzusehen. Wie sie die Surfer Girl-Mähne schüttelt und (wie immer) barfuß über die Bühne tänzelt, als wäre sie alleine mit Kopfhörern auf der benachbarten Wiese. Tipp an die Festival-Macher: Wieder einladen, jedes Jahr.

Der perfekte Platz, um den französischen Meistern des Wohlklangs AIR zu lauschen, war nicht die erste Reihe sondern der Strand, mit Blick auf den Sonnenuntergang. Die Musik vermischte sich mit dem Rauschen der Wellen und lieferte den Soundtrack für die eigenen Filme im Kopf. Nüchtern betrachtet war der Auftritt ohne die Gastsängerinnen und Klangtüfteleien der Alben etwas blutarm und steril.

Leider verliert auch die seit Jahren durchgehend von der Musikpresse gehypete kanadische Pop-Ikone und Elektro-Soundbastlerin Grimes live an musikalischer Finesse. Ihr Auftritt war für viele Zuschauer eine Enttäuschung. Was im Studio wie der elektrisierende Gesang einer Elfe klingt, erinnert im Konzert eher an Chipmunks-Gequieke. Der Auftritt mit Tänzerinnen, die wie eine Spice Girls 4.0-Version wirkten, geriet eher prätentiös als kunstvoll. Ihr Ruhm ist auch genährt von ihren teilweise sehr originellen Posts als Bloggerin. Vielleicht macht sich die Produzentin, Filmerin und Komponistin etwas zu viele Gedanken über zeitgemäße Pop-Musik zwischen Avantgarde und Mainstream.

Gut, aber ohne die musikalischen Ecken und Kanten der frühen Jahre, waren Mercury Rev. Vom Art Rock à la Flaming Lips haben sie sich weitgehend verabschiedet. Und besonders textlich wirken viele Leider der letzten Dekade leidlich inspiriert. Doch musikalisch ist es immer noch solides Indie-Rock-Handwerk.

John Newmans Zuckerbäcker-Pop ist von Allem etwas zu viel und er hat sicher weniger Hipster-Tauglichkeit als Grimes. Vor allem zu viele abgegriffene Synthesizer-Sounds und pathetische Refrains machen den Album-Genuss zu schwerer Kost. Und irgendwie klingen alle Stücke wie eine Variation seiner weltweiten Nummer 1 „Love me again“. Aber der nette Brite von nebenan, bekannt geworden als Sänger der Drum&Bass- Formation Rudimental, trägt seine Wuchtbrummen von Pop-Songs mit so ansteckend guter Laune vor, dass man ihm seine musikalischen Sünden zwischen 1980er Eurotrash, Gospel, Motown und Pub-Rock für eine Auftrittslänge gerne mal nachsieht.

Sehr viel geschmackvoller knüpft die lettische Liedermacherin Alisa Joste ihre wunderbar luftdurchlässigen Klangteppiche. Sie haucht die melancholischen Balladen wie ein warmer Sommerwind zur Gitarre, dezent von elektronischen Klangschnipseln abgerundet. Nachdem sie einige Male auf kleineren Bühnen des Festivals auftrat, bezauberte sie diesmal ein größeres Publikum auf der zweitgrößten Bühne.

Seit Beginn bietet das Festival einen guten Einblick in die lettische und estnische Musikszene (die Grenze ist nah und das estnische Seebad Pärnu nicht weiter entfernt als Riga). Die beiden Länder der Chöre und des singenden Widerstandes gegen die Sowjet-Union eint eine gewisse Vorliebe für Pop mit Folklore-Einflüssen und leisen Tönen. Während die Bühne der Rigaer Musikbar mit Aufnahmestudio und Platten-Label „I Love you“ Newcomern vorbehalten ist, ebenso wie die kleine Bühne der Tallinn Music Week, traten im Zelt der Rigaer Konzerthalle „Palladium“ arriviertere Künstler auf.

Etwa Skyforger, die auch schon mal Headliner auf der Hauptbühne waren. Ihre Mischung aus Varianten des nordischen Metal und lettischer Volksmusik klingt immer noch spannend und ist gut vorgetragen, auch bei mehrstimmigen A capella-Einlagen.

Die meisten Bands stimmen eher leise Töne im Midtempo an. Mal mit etwas 1980er Synthie-Klängen, mal eher akustisch. Der Alt-Meister des ruhigen Tons und eine lettische Antwort auf Leonard Cohen ist der Liedermacher Ainars Mielavs, viele seiner wundervollen verträumten Balladen, könnten, würde er sie auf Englisch singen, auch ein internationales Publikum finden. Schön, dass auch nicht ganz so leicht Zugängliches wie die anspruchsvollen Harfen-Klänge Elisabeta Lāces mit Versatzstücken aus zeitgenössischer Klassik, Jazz und Folklore ins Programm fanden.

Kurz vor dem internationalen Durchbruch steht die Rigaer Band Carnival Youth, die nach mehreren Auftritten auf den Nebenbühnen diesmal die große Bühne eroberte. Und die Herzen der jungen Zuschauerinnen, die alle Lieder der Sonny Boys mitsangen. Die Anfang-Zwanzigjährigen haben das Talent zum Komponieren intelligenter Ohrwürmer mit smarten Texten und sicheres Stilempfinden für die passende Mischung aus Elementen von Neo-Folk, Indie-Rock und Synthie-Pop. Mit geschickt eingestreuten Misstönen, rauen Gitarrenriffs und Tempowechseln brechen sie die eingängigen Harmonien immer wieder intelligent auf. Besonders schön sind die mehrstimmigen Gesangspassagen. „Propeller“ ist erst ihr zweites Album, klingt aber bereits sehr selbstsicher und ausgereift.

Seine beste musikalische Zeit hat ein DJ am Stand der Tallinn Music Week schon hinter sich, der ganz im Trend nur Vinylscheiben dabei hatte. Der estnische Präsident, Toomas Hendrik Ilves, ist seit seiner Heirat mit einer lettischen Spitzenbeamtin häufig, gern und oft gesehener Gast im Nachbarland und stellte seine (nicht mal schlechte) Compilation eigener Lieblings-Rocksongs vor. Ob er wohl auch mal unter Berufskollegen so kenntnisreich über den frühen Punk der New York Dolls fachsimpelt? Eine schöne Vorstellung jedenfalls.

Auch unter den internationalen Acts dominierte die ruhige Gangart und viele Synthie-Sounds und Samples im Midtempo. C Duncan begeisterte mit kunstvoll verschachtelten Perlen des Dream Pop. Das britische Duo Oh Wonder beschreitet gerade mit der Veröffentlichung eines Songs jeden Monat als online-Download neue Wege des Vertriebs, und, obwohl eine derart kurze Vermarkungszeit jeder Musikmarketing-Theorie widerspricht, finden sie damit eine kontinuierlich wachsende Käuferschaft. Die klassisch ausgebildeten Denn ihre spärlich, aber raffiniert arrangierten, im Duett mit klarer Stimme gesungenen, melancholischen Stücke sind wie ein warmer nächtlicher Sommerregen. Die zweite Gruppe französischen Klangtüftler, M 83 kamen live weniger raffinert, aber dafür sehr partytauglich rüber. Die jüngeren Zuschauer vermissten dabei sehr ihre Spiele-Konsole (M 83 wurden auch durch Game-Soundtracks bekannt).

Positivus ist für deutsche Besucher noch immer ein gut gehütetes Geheimnis. Für Balten und Schweden ist es längst ein Höhepunkt des Musiksommers. Als das Festival 2007 startete, entwickelte sich gerade eine entspannte, kulturell nach Norden und Westen orientierte urbane Mittelschicht in den baltischen Städten. Und das Positivus Festival wurde schnell zu ihrem sommerlichen Treff. Theater und Kinovorführungen, Lesungen und kulinarisches und Kunsthandwerks-Angebot kamen im Lauf der Zeit dazu. Und immer mehr Bühnen, inzwischen sind 6 über das Gelände verteilt. Mit etwa 25-30.000 Zuschauern hat das Festival eine gute Zuschauerzahl erreicht. Würde es weiterwachsen, droht die ganz besondere Stimmung verloren zu gehen.

Charles Bradley umarmte noch immer Zuschauer, als hinter ihm längst der Soundcheck für die folgende Band begann. Magische Momente wie bei den Auftritten von Stone, Iggy Pop oder Bradley kann man nicht planen. Aber das Verdienst der Positivus-Macher ist, dass sie durch das Schaffen eines wundervollen Rahmens derartige Glücksmomente wahrscheinlicher machen. Joss Stone fühlte sich jedenfalls so wohl, dass sie am darauffolgenden Tag auf Facebook spontan lokale Musiker zur Session in einem Rigaer Park lud. Entspannt sang der englische Popstar, bei dem Robbie Williams, Rod Stewart, Lenny Kravitz, Solomon Burke oder James Brown für eine Kooperation Schlange standen und für die Mick Jagger und Dave Stewart die Band SuperHeavy gründeten, auf der Wiese sitzend im kleinen Kreis lettische Lieder.

Positivus Festival takes place in Salacgriva’s Fisherman’s park

Sporta street 6, Salacgriva; GPS coordinates: 57.76759910000001; 24.35229419999996.
Weitere Informationen


Abbildungsnachweis: Alle Fotos: Ieva Jurkele
Header: Blick von der Düne auf die Festvalbühne
Galerie:
01. Positivus am Strand
02. Am Strand
03. Im Festival-Dorf
04. Abenddämmerung am Strand
05. Iggy Pop
06. Charles Bradley
07.-08. Joss Stone
09. Festivalstimmung im Zelt
10. Air
11. Sonnenuntergang

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