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Kaum ein Schleswig-Holsteiner weiß noch um die Bedeutung dieser Villa im heutigen Stadtteil Düsternbrook. Im Zweiten Weltkrieg wurde sie dem Erdboden gleichgemacht und danach nicht wiederaufgebaut. Im 19. Jahrhundert jedoch war dieses Haus so etwas wie Kiels gesellschaftlicher Mittelpunkt: Bei dem Großindustriellen Meyer gaben sich zahlreiche bedeutende Persönlichkeiten aus Kunst, Wissenschaft und Politik die Klinke in die Hand, unter ihnen Johannes Brahms, Clara Schumann, Karl August Möbius, Julius Stockhausen. Und eben jener Schriftsteller, Journalist und Theaterkritiker, der sich mit einer Ode an die Kieler Buch für die Gastfreundschaft bedankte. In der Septemberwoche 1878, die Fontane bei den Meyers verbrachte, führte er nicht nur angeregte Gespräche im großen Park mit Blick auf die Kieler Bucht. Er nahm sich auch Zeit, die Stadt selbst zu besichtigen – und fand wenig Gefallen an ihr: Kiel „fehlt alles, was architektonisch interessieren könnte“, nörgelte der Feingeist aus dem Brandenburgischen: „Schloss, Kirche (stattlich, aber rohgotisch), Universität, Patrizierhäuser, alles alt, rumpelig, unbedeutend“.
Guter Fontane, wenn er wüsste! Wie glücklich wären die Kieler heute über diese „alte, rumpelige“ Stadt, wie sie sich vor bald 140 Jahren noch präsentierte.

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Gegründet als „Holstenstadt tom Kyle“ durch Graf Adolf IV von Holstein im Jahr 1233, also als „Holsteins Stadt am Keil“ (aus Kyle entwickelte sich Kiel) kann die ehemalige Hansestadt (1283-1544) auf eine bewegte Vergangenheit zurückblicken, in der ständig um die Vorherrschaft im Ostseeraum gekämpft wurde. Erwähnt sei hier nur der Deutsch-Dänische Krieg von 1864: Österreich und Preußen vereint gegen Dänemark, unter dessen Verwaltung Schleswig-Holstein jahrhundertelang gestanden hatte. Am Ende war Kiel eine geteilte Stadt: Halb preußisch, halb österreichisch. Die abstruse Situation dauerte jedoch nur neun Monate, dann gab es 1866 wieder Krieg und zwar zwischen Deutschland und Österreich. Bekanntermaßen gewann Preußen und annektierte Schleswig-Holstein 1867 als preußische Provinz. Während diese beiden Bruderkriege des 19. Jahrhundert fast vergessen sind, ist der Kieler „Matrosenaufstand“ 1918 im kollektiven Gedächtnis fest verankert. Mit ihm begann die Revolution, die den Ersten Weltkrieg beendete und zur Gründung der Weimarer Republik führte.
Jeder Krieg veränderte Kiel, doch keiner so dramatisch wie der Zweite Weltkrieg.
Als Haupthafen der deutschen Kriegsflotte, Standort dreier Großwerften und Endpunkt des Nord-Ostsee-Kanals (im internationalen Sprachgebrauch „Kiel Canal“), war Kiel seit Beginn des Luftkrieges im Juli 1940 Angriffsziel der Briten.

Bis Mai 1945 fielen allein eine halbe Million Brandbomben, die das über Jahrhunderte gewachsene Bild der Altstadt in Schutt und Asche legten. „Wer die Altstadt vom Bootshafen her betrachtete, konnte die natürliche flache Hügelform der Altstadt erkennen, so wie sie etwa in den Tagen der Gründung Kiels ausgesehen haben muss“, notierte die Stadtarchivrätin Hedwig Sievert nach der Kapitulation.

Heute ist Schleswig-Holsteins Landeshauptstadt vor allem durch die Kieler Woche international bekannt. Gegründet 1885 hat sie sich im Laufe der Jahre zum größten Segelsportwettkampf der Welt gemausert. Und während dieser Woche ist Kiels Vergangenheit immer noch präsent – allerdings nur auf dem Wasser: Höhepunkt und Schlussakkord ist seit den 1990er Jahren die Windjammerparade mit weit über hundert historischen Großseglern und Dampfschiffen.
In der Stadt selbst hingegen lassen sich historische Bauten an zwei Händen abzählen. Erhalten geblieben sind die Nikolaikirche, der Turm des ehemaligen Franziskanerklosters, der Rantzaubau (Teil des alten Kieler Schlosses) und ein paar Patrizierhäuser in der Dänischen Straße.
Das Kiel, durch das Theodor Fontane einst spazierte, führen uns nur noch alte Stadtansichten aus der Frühzeit der Fotografie vor Augen. Historische Aufnahmen, wie sie der Hamburger Fotograf und Sammler Werner Bokelberg in den vergangenen Jahrzehnten zusammengetragen hat. Eine Auswahl der schönsten Ansichten aus der Zeit um 1900 sind nun neu erschienen und in einer Weißblechbox zusammengefasst. Jede dieser 48 Fotografien ist eine Entdeckung und man reibt sich immer wieder verwundert die Augen, wie attraktiv die „graue Stadt am Meer“ einst war, der Theodor Storm ein regelrechtes Liebesgedicht widmete.
Ja, dieses alte Kiel ist in der Tat liebreizend - und wirkt mitunter wie einer nordischen Sage entsprungen. Man wandelt durch idyllische Gässchen und Winkel, bestaunt die windschiefen Fachwerkhäuser, wie sie am Kütertor entlang der Hansastraße und rund um den Klosterkirchhof, Kiels Keimzelle, stehen. Man hört förmlich die Pferdefuhrwerke über das Kopfsteinpflaster rattern, hin zum Marktplatz und den stolzen, mit Giebeln, Erkern und Gesimsen verzierten Bürgerhäusern, die noch von Hanse-Zeiten erzählen.
Und man spürt den Stolz der Kieler auf ihre florierende Stadt, die im Jahr 1900 die Einwohner-Zahl von 100 000 überstieg und sich fortan Großstadt nennen durfte. Dieser Stolz manifestiert sich in den schmucken Fassaden, den prächtigen Miets- und Geschäftshäusern am Fleethörn, am Sophienblatt, an der Brunswiker-, der Holsten-, und der Holtenauer Straße. Er zeigt sich an der großzügig-eleganten Strandpromenade, den unzähligen Segelschiffen am Handelshafen, den prallgefüllten Fischerbooten am Schuhmachertor und selbstredend auch in den Industrieanlagen, wie der Krupp’schen und der Kaiserlichen Werft, durch die Kiel nach der Reichsgründung 1871 einen so rasanten Aufschwung nahm.
Von diesem Kiel gibt es so gut wie keine Zeugnisse mehr. Was bleibt sind diese Fotografien – als Erinnerung an alte Zeit, die sicher nicht immer gut war aber architektonisch weit anspruchsvoller als heute.

Werner Bokelberg „Unser Kiel vor 100 Jahren“
48 Postkarten (17x11cm) mit Motiven aus dem alten Kiel in einer attraktiven Weißblech-Box (18x12cm) gibt es für 19,80 Euro im Buchhandel oder direkt online im Bokelberg-Shop.
ISBN 4260241480405


Abbildungsnachweis: Bokelberg.com
Header: Weißbleck-Box von oben Zu Kiel
Galerie: Stadtansichten