Fotografie

Eigentlich will Evans, 1903 in St. Louis, Missouri, geboren, Schriftsteller werden. Er geht zunächst nach Paris und studiert an der Universität Sorbonne französische Literatur. Zurück in den USA begräbt er seinen Schriftstellertraum und entscheidet sich 1927 für den Beruf des Fotografen. Im Laufe seiner fast 50-jährigen Schaffenszeit soll er für Magazine wie Harper's Bazaar, Vogue, Vanity Fair, Life und Fortune arbeiten.

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Durch die Fotografin Berenice Abbott lernt der junge Evans Arbeiten des Franzosen Eugène Atget kennen. Atget, der bereits um die Jahrhundertwende Straßenansichten von Paris, Portraits, Interieurs fotografiert hat, soll seinen fotografischen Stil beeinflussen. Daneben sind es die Portraits von August Sander, die Spuren in seinem Werk hinterlassen haben.

Es sind keine spektakulären Motive, sondern ganz triviale Themen des amerikanischen Alltags, die Evans mit der Kamera einfängt: Architektur und Häuserzeilen, Hafen- und Straßenszenen, Schaufensterauslagen, Passanten, Interieurs von Wohnräumen, Portraits von Freunden. Er entwickelt dabei eine eigene, innovative Bildsprache: nüchtern, objektiv, präzise. Die Bildkomposition ist streng und klar strukturiert, der Blick meist frontal auf das Motiv gerichtet. Die Kamera ist für ihn ein neutrales, die Realität abbildendes Medium, ohne falsche Romantik, Nostalgie und Emotionen. Inszenierte und stilisierte Fotografie lehnt Evans ab "Wenn ich zurückschaue, würde ich meinen Stil als reine Fotografie bezeichnen: unkünstlerisch und nicht schön", erklärt er 1968.

Die in thematischen Kapiteln kuratierte Berliner Ausstellung präsentiert unter anderem frühe Aufnahmen verschiedener Gladiolenarten, Bildern aus New York, Bildserien von seinen Reisen nach Kuba und Tahiti, Exponate der Ausstellung "African Negro Art" im Museum of Modern Art, Arbeiten aus der Zeit als Redakteur beim Magazine Fortune, darunter "The Boom in Ballet". Bemerkenswert ist Evans Fotoserie über die viktorianische Architektur des 19. Jahrhunderts. Im Februar 1931 erhält er den Auftrag, die vom Verfall bedrohten Häuser zu fotografieren. Den morbiden Charme dieser Bauten hält er mit seiner Großbildkamera fest. Oft frontal ausgerichtet, mit seitlichem Lichteinfall komponiert, symbolisieren sie den Niedergang des viktorianischen Zeitalters in den USA. Zu sehen sind Architekturfotografien aus Massachusetts, Boston und dem New Yorker Umland.

Im Auftrag der „Farm Security Administration (FSA)", ein unter Präsident Franklin D. Roosevelt gegründeter Hilfsfond, bereist Evans 1935 den Süden der Vereinigten Staaten, um die sozialen und wirtschaftlichen Lebensumstände der notleidenden Landbevölkerung während der Großen Depression zu dokumentieren. Bei Abschluss des Vertrages weist er auf seine Eigenständigkeit als unabhängiger Fotograf hin: seine Fotografien seien keine politische Propaganda – „no politics whatever". Es entstehen Aufnahmen von stillgelegten Fabriken, standardisierte Holzhäuser von Handwerkern, Minen- und Gerbereiarbeitern, Schwarzen-Ghettos, Straßenszenen und Portraits der schwarzen und weißen Bevölkerung.

Wenige Monate später reist er mit dem Schriftsteller und Journalisten James Agee erneut in den Süden, nach Oklahoma und Alaba¬ma. Für die Zeitschrift ‚Fortune’ sollen sie einen illustrierten Artikel über das Leben von weißen Baumwollpächtern vorbereiten – der allerdings aufgrund seiner politischen Brisanz nicht veröffentlicht wird. Mehrere Wochen leben die beiden mit den Familien von Bud Fields, Floyd Burroughs und Frank Tingle zusammen. Realistisch, nüchtern und ohne Sentimentalität dokumentiert Evans die unvorstellbare Armut, das materielle Elend der kleinen Farmer und ihre Ausbeutung durch Großgrundbesitzer: Kinder mit ernsten Gesichtern, barfuß und mit zerrissener Kleidung, verhärmte Erwachsene, ärmliche Wohnstuben und Behausungen, verrottete Holzhütten, einfache Holzkirchen, Tankstellen, Friedhöfe, mit Plakaten und Werbetafeln beklebte Holzschuppen. Es sind Bilder, die die visuelle Erinnerung an die Große Depression prägen und das kollektive Bewusstsein der Amerikaner nachhaltig verändern sollen. Erst 1941 publizieren Agee und Evans ihre Arbeiten in „Let Us Now Praise Famous Men". Ein Buch, dass zum Klassiker der Fotografie-Geschichte werden soll.

Bereits im Jahr 1938 widmet das Museum of Modern Art (MoMA) in New York dem damals 35-jährigem Evans eine Einzelausstellung. Gezeigt werden Fotografien aus dem FSA-Projekt und der Reportage mit James Agee. Es ist die erste Soloausstellung eines Fotografen in diesem Haus. Unter dem Titel „American Photographs" und dem gleichnamigen Begleitband werden die Bilder zu Ikonen der Dokumentarfotografie, der Fotograf weltberühmt und das Medium Fotografie neben anderen Gattungen der bildenden Kunst als eigenständige Kunstform anerkannt.

Inzwischen berühmt, realisiert Evans in den Jahren 1938 bis 1941 sein fotografisches Projekt der New Yorker Subway-Portraits. Da in der Subway neben Rauchen und Alkohol auch das Fotografieren verboten ist, arbeitet er mit versteckter Kamera. Er fotografiert sozusagen undercover. Seine 35mm-Contax trägt er unter dem Mantel, das Objektiv platziert er zwischen zwei Knöpfen, der Drahtauslöser ist mit Hilfe eines Kabels im rechten Ärmel versteckt. Trotz ratternder Waggons, wechselnder Lichtverhältnisse zwischen Bahnsteigen und Tunneln entstehen authentische, ungeschönte Schwarz-Weiß-Porträts. Menschen, deren Gesichter Emotionen widerspiegeln, die versunken sind in eigene Gedanken und Stimmungen. Evans selbst versteht sein anonymes Fotografieren als „eine Revolution gegen das Studioportrait [...]. Ich war aufgebracht. Es war ein zum Teil sehr wütender Protest, nicht gesellschaftlich ausgerichtet, sondern vielmehr ästhetisch – gegen jegliche Pose in der Portraitfotografie", erklärt er 1973. Die Fotografien werden übrigens erst 1966 unter dem Titel „Walker Evans' Subway" veröffentlicht.

Evans Faszination für Werbetafeln zeigt „Pabst Blue Ribbon Sign", aufgenommen 1947 für den Artikel „Chicago: A Camera Exploration" in Fortune. Ein riesiges, an einer Autostraße stehendes Stahlgerüst, ragt mit seiner Bier-Werbung in den Himmel. Diese Aufnahme, die seine Vorliebe für Reklameschilder, Werbe- und Filmplakate zeigt, gilt als Vorläufer der sich Mitte der 50er-Jahre entwickelnden amerikanischen Pop Art.

Eine unglaublich lebendige Bildsprache haben die ausgestellten Portfolios von Schaufensterauslagen und Interieurs von Hotels und privaten Wohnräumen. „Gelegentlich gefällt es mir, Menschen durch ihre Abwesenheit anzudeuten", erzählt Evans 1971 in einem Interview mit Paul Cummings. Dieselbe Lebendigkeit gilt auch für seine zahlreichen Portraits von Prominenten, Künstlerkollegen und Freunden, darunter die New Yorker Gesellschaftsdame Trini Barnes, James Agee, der Komponist Samuel Barber, der Fotograf Carl van Vechten, die Journalistin und Schriftstellerin Caroline Blackwood.

Kurz vor seinem Tod im Jahr 1975 beginnt er mit der Polaroid-Kamera SX-70 zu experimentieren. Einige seiner Farbfotografien werden im letzten Kapitel der Ausstellung vorgestellt. Die in den Vitrinen präsentierten Originale von Fortune-Ausgaben runden die Schau ab.

Ohne Frage ist Walker Evans einer der bedeutenden Künstler in der Geschichte der Fotografie. Sein Stil hat Generationen von amerikanischen und deutschen Fotografen beeinflusst, nicht zuletzt das Ehepaar Bernd und Hilla Becher mit ihren Schwarz-Weiß-Typologien von Industriegebäuden. Mitte der 50er-Jahre ist er allerdings auf dem Tiefpunkt seiner Karriere. Das Museum of Modern Art, einst sein größter Förderer, ignoriert ihn, da er sich mit dem Direktor Edward Steichen überworfen hat. Für die Kunstwelt, die ihn 20 Jahre zuvor euphorisch gefeiert hat, existiert er nicht mehr. Dann, unter dem neuen Direktor John Szarkowski seine „Wiederentdeckung". Die erste große Walker Evans-Retrospektive im Jahr 1971 wird ein riesiger Erfolg und festigt – bis heute – seinen Ruf als objektiven Dokumentaristen. In Deutschland werden erstmals 1997 Fotografien von Evans auf der ‚documenta X’ in Kassel ausgestellt. Seine in der Berliner Ausstellung präsentierten Fotoarbeiten, die sich nicht nur auf die spektakulären Aufnahmen der 1930er-Jahre konzentrieren, sind für den heutigen Betrachter unwiederbringliche Zeitdokumente.
Eine sehenswerte Ausstellung, für die der Besucher aufgrund der kleinformatigen Fotografien Zeit mitbringen sollte.


Die Ausstellung „Walker Evans. Ein Lebenswerk" ist bis zum 9. November 2014 im Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstraße 7, 10963 Berlin zu besichtigen.
Öffnungszeiten bis 24. August täglich 10 - 20 Uhr. Ab 25. August Mittwoch bis Montag 10 - 19 Uhr, Dienstag geschlossen.
Der Katalog „Walker Evans Decade by Decade" ist im Verlag Hantje Cantz erschienen.
www.gropiusbau.de


Abbildungsnachweis:
Header: Walker Evans: Crowd In Public Square; 1930er, 143 x 248 mm. Lunn Gallery Stamp (1975). © Walker Evans Archive, The Metropolitan Museum of Art
Galerie:
01. Walker Evans: Pabst Blue Ribbon Sign ; Chicago, Illinois, 1946. Collection of Clark and Joan Worswick © Walker Evans Archive, The Metropolitan Museum of Art
02. Walker Evans: Barn Nova Scotia, 1969-71. Collection of Clark and Joan Worswick © Walker Evans Archive, The Metropolitan Museum of Art
03. Walker Evans: Interior View of Robert Frank’s House; Nova Scotia, 1969-71. Collection of Clark and Joan Worswick © Walker Evans Archive, The Metropolitan Museum of Art
04. Walker Evans: Girl In French Quarter; New Orleans, Februar-März 1935, 117x178 mm. Lunn Gallery Stamp (1975). © Walker Evans Archive, The Metropolitan Museum of Art
05. Walker Evans: Young Women Outside Clothing Store; 1934-35, 114x184 mm. Lunn Gallery Stamp (1975). © Walker Evans Archive, The Metropolitan Museum of Art.