Film

Das Kino dagegen galt als Kunstphänomen minderer Art, als Freizeitvergnügen für den «g’schupften Ferdl» und seinesgleichen, amerikanische Kaugummikultur, die unschön an den Fußsohlen der Bildungsbürger klebte. Die heimische Filmproduktion bestand größtenteils aus Theaterkomödien, bäuerlichen Schwänken, Fremdenverkehrsfilmen, Wiener musikalischen Komödien und Revuefilmen von Franz Antel. Ein undurchdringlicher Silberwald, der sich bis zum Horizont erstreckte. Zur Förderung der modernen Filmkunst hingegen wurden kaum Maßnahmen gesetzt – abgesehen von punktuellen Initiativen, die sich in französischen oder sowjetischen Programmen, Arbeiterfilmreihen, religiösen Filmwochen und schließlich in der vom Unterrichtsministerium 1956 initiierten «Aktion – der gute Film» manifestierten. Prädikatisierung galt als Wunderwaffe, um die Spreu vom Weizen zu trennen und den deplorablen Massengeschmack zu heben.

Galerie - Bitte Bild klicken
Die österreichischen Filmjournalisten diagnostizierten in jener Zeit einen historischen Tiefstand der Filmkultur und suchten nach Mitteln und Wegen, um aus dieser Sackgasse wieder herauszufinden. Eine Gruppe um Sigmund Kennedy – zu seiner bewegten Lebensgeschichte siehe das Porträt in dieser Publikation –, Fritz Walden von der Arbeiter-Zeitung und den Regisseur und Filmkritiker Edwin Zbonek nutzte eine Kooperation zwischen dem Verband österreichischer Filmjournalisten und dem Künstlerhauskino, um im Jahr 1960 ein Projekt unter dem umständlichen Titel «Internationale Festwoche der interessantesten Filme des Jahres 1959» zu lancieren. Es war eine ziemliche Arte-povera-Veranstaltung, die mit geringem Budget auskommen musste und keine Subventionen erhielt. Gezeigt wurden acht Langfilme sowie zehn Kurzfilme aus insgesamt 17 Ländern.

In dieser frühen Zeit ließen sich disparate Positionen noch unter dem Dach einer gemeinsamen Filmbegeisterung vereinen. Während sich Sigmund Kennedy als moralisierender Medienerzieher verstand, für den Film ein wichtiges Bildungsmittel war, galt Edwin Zbonek, der das Festival später selbst leiten sollte, als Fanatiker des künstlerischen Films. Er machte sich beispielsweise für Vorführungen in Originalsprache stark – was damals noch keine Selbstverständlichkeit war.

Dass sich die Wiener Filmfestwoche als moderater Erfolg darstellen ließ, hatte auch mit einer überaus komfortablen Mediensituation zu tun. In der Dissertation von Rita Hochwimmer über die Geschichte der Viennale heißt es lakonisch: «Besonders jene Medien, für die Zbonek, Kennedy und Walden schrieben, berichteten ausführlich über die Filmwoche, die Mehrheit der Berichte stammten von Fritz Walden, Edwin Zbonek und Sigmund Kennedy.

Festival der Heiterkeit
Das Festival, dessen späterer Name Viennale angeblich vom Wiener Bürgermeister Franz Jonas geprägt wurde, hatte somit einen soliden Start – fiel aber trotzdem im darauffolgenden Jahr aufgrund budgetärer Engpässe gleich wieder aus. 1962 erbarmte sich die Stadt Wien des zarten Pflänzchens und stellte 50.000 Schilling zur Verfügung, woraufhin die Viennale aus der Asche neu erstehen konnte und sich bald darauf als Verein konstituierte.

Die Ziele und Absichten waren bescheiden: Man verzichtete auf einen Wettbewerb und wollte vor allem anderweitig prämierte Filme zeigen – ein Anspruch, dem das Festival im Lauf der Jahre nicht immer gerecht wurde. Außerdem verstand man sich vage als West-Ost- Schnittstelle, um die Situation Österreichs als neutrales Land am Rande des Eisernen Vorhanges mitzureflektieren – die Filme aus sozialistischen Ländern waren im Übrigen leichter zu beschaffen. Damit begab sich die Viennale ins Zentrum ideologischer Debatten und geriet ins Schussfeld eines teilweise hysterischen Antikommunismus.

"Der Osten, nicht faul, nutzt seine Chance zur Propaganda und liefert bereitwillig, was er zur Verfügung stellen kann. Die Tschechen schicken gleich zwei Langfilme, Ungarn, Polen, Rumänien und Jugoslawien stellen Kurzfilme bei", schrieb der 'Kurier' bereits 1962.
Die Stadt Wien als nunmehriger Seniorpartner des Festivals – Otto Wladika, der den 1967 verstorbenen Sigmund Kennedy als Direktor beerbte, mischte als Filmkulturreferent schon unter dessen Ägide bei der Programmierung mit – war nicht daran interessiert, sich mit den konservativen Milieus und Medien dauerhaft zu bekriegen. So erhielt die Viennale umgehend eine neue inhaltliche Ausrichtung. In den Jahren von 1963 bis 1967 wurde die Veranstaltung unter dem aus heutiger Sicht eher seltsamen Titel 'Festival der Heiterkeit' veranstaltet. Mit der Konzentration auf Komödien wollte man den Vorwurf einer prokommunistischen Agitation schon im Ansatz aushebeln. Filme aus den Ländern des Ostens wurden freilich weiterhin gezeigt – wenn auch häufig eher an versteckten Programmplätzen. Das offizielle Wien machte sich gar nicht erst die Mühe, die Lächeloffensive programmatisch zu begründen.

Während es bei den großen internationalen Festivals um Glamour und «hochkünstlerisch belichtetes Zelluloid» gehe, meinte beispielsweise Bürgermeister Bruno Marek, zählten bei der Viennale die Heiterkeit und das Lachen im Zuschauerraum. Und warum? "Weil das Lachen die Völker einander näherbringt." Dass dies angesichts der Kuba-Krise, des eskalierenden Vietnamkrieges und der politischen Eiszeit, die wenige Jahre später zum Einmarsch der Sowjetunion in die CSSR und zur Studentenrevolte führte, ein intellektuell eher dürftiges Programm war – im Prinzip eine Verlängerung des Eskapismus der fünfziger Jahre ins darauffolgende Jahrzehnt – wurde auch von den Medien kritisch vermerkt. Mit Spott und Häme fiel ein Großteil der Kritiker über das Festival her. Stellvertretend sei hier die 'Presse' zitiert: "Gewisse Zweifel melden sich bei dem ägyptischen Schwank 'Meine 13. Frau' an, der nur zu beweisen scheint, daß es Antels überall gibt." Dabei mangelte es selbst in der Zeit der großen Heiterkeit nicht an renommierten Gästen: Von Silvana Mangano bis Alberto Sordi beehrte internationale Filmprominenz das kleine Festival.

Aufbruch ins Ungewisse
Im Jahr 1968 hatte es sich dann endgültig ausgelacht. Der Zeitgeist, der zivilen Ungehorsam und studentisches Aufbegehren förderte, setzte auch die Viennale unter Druck – obwohl er sich in Wien nur als 'heiße Viertelstunde' manifestierte.

Otto Wladika, der nach dem Tod von Sigmund Kennedy im Jahr 1967 die alleinige Verantwortung für das Festival trug, stellte die Viennale unter ein jährlich wechselndes Motto – z. B.: "Filme, die uns nicht erreichten" – und versuchte, auch wenn die Handbremse immer angezogen blieb, den politischen Umständen Rechnung zu tragen. Eine neue Kernzielgruppe des Festivals war, gemäß einer Kreisky- Doktrin, 'die Jugend», deren Interessen man bei der Programmierung entgegenkommen wollte, ohne jedoch einen grundsätzlich staatstragenden Habitus völlig aufzugeben. Wladika, der Filmbeamte, propagierte eine liberale Konfrontation mit 'unserer Zeit', achtete aber sorgfältig darauf, dass seine Viennale nicht von radikalen politischen Meinungen unterwandert wurde. Insbesondere distanzierte er sich von den Cineasten, worunter er ein linkes, filminteressiertes Publikum verstand, denn die Viennale, 'according to Wladika', sollte kein Schauplatz der kurz bevorstehenden Weltrevolution sein.

So navigierte das Festival in klassischer österreichischer Haltung durch die Jahre des Studentenprotestes, ohne sich jedoch künstlerisch dauerhaft konsolidieren zu können. Schon seit der 'Viennale der Heiterkeit' hatten die Filmkritiker gerne ihre Messer gewetzt und eine fragwürdige Filmauswahl sowie inhaltlich nicht begründete Abweichungen vom komödiantischen Grundtenor konstatiert. Doch wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch. Es kam in Form der Retrospektiven des Österreichischen Filmmuseums, die ab 1966 zu einem wesentlichen Bestandteil des Festivals wurden. Schon der erste Beitrag der von Peter Konlechner und Peter Kubelka gegründeten Institution, eine Präsentation der Werke der Marx Brothers, zu der Groucho Marx persönlich in Wien erschien, löste allgemeine Begeisterung aus. Zumindest in den ersten Jahren der Beteiligung des Filmmuseums übertrumpften die Retrospektiven häufig das Hauptprogramm und lösten jenen Anspruch auf filmkünstlerische Qualität ein, den das Festival von Beginn an gefordert, aber häufig nicht erfüllt hatte. Daran konnte auch eine umfangreiche Schau der Filme Howard Hawks’ nichts ändern, die dem elitär-intellektuellen Milieu missfielen und so gar nicht dem kategorischen Imperativ einer poetisch- politischen Sensibilisierung durch cineastische Meisterwerke entsprachen. In der Zeit der gesellschaftspolitischen und ästhetischen Umbrüche wurde die Viennale auch stärker als zuvor zu einem Forum für filmpolitische Anliegen.

Man veranstaltete etwa Enqueten zum Thema Filmförderung – damals wie heute ein Endlos-Debattenthema –, bei dem sich unterschiedliche Interessensgruppen in Rage reden konnten. Auch wurde erstmals das Festival per se in Frage gestellt und die Hebung der ganzjährigen Filmkultur etwa durch ein kommunales Kino nach Frankfurter Vorbild gefordert. So schrieb beispielsweise die kommunistische 'Volksstimme': "Die Stadt Wien hat sich entschieden, jenen, die nun Zeit und Geld für zwei bis drei tägliche Kinobesuche haben, einmal im Jahr eine Woche lang Wesentliches zu zeigen – und das restliche Jahr den bequemen Weg in Richtung totaler Film-Versumperung zu gehen."

1971 besiedelte die Viennale auf ihrer jahrzehntelangen Nomadenfahrt durch die Wiener Lichtspieltheater das Forum Kino, damals mit 1.146 Sitzplätzen das größte Kino der Stadt, heute längst vom Winde verweht. Zwei Jahre später übernahm mit Edwin Zbonek ein Mann der ersten Stunde die Leitung des Festivals.

Unter seiner Direktion, die, in späteren Jahren im Tandem mit Helmuth Dimko, bis weit in die achtziger Jahre dauerte, setzte eine Phase der Konsolidierung ein. Die Viennale, mittlerweile von der FIAPF (= Fédération Internationale des Associations de Producteurs de Films) anerkannt, expandierte unaufhaltsam: Steigende Subventionen ermöglichten größere kreative Gestaltungsspielräume, das Programm wurde umfangreicher und internationaler, die Zuschauerzahlen stiegen. Auch die Integration eines Kinder- und Jugendfilmprogramms, sozusagen eines Festivals im Festival, im Jahr 1974 konnte als großer Erfolg verbucht werden.

Zum ersten Mal wurde in dieser Zeit das Gartenbau das zentrale Kino der Viennale. Ein bemerkenswertes Ereignis der Ära Zbonek war ein Auftritt des emigrierten österreichischen Regisseurs Otto Preminger, der bei der Eröffnung 1978, statt feierliche Worte zu sprechen, einen Maßnahmenplan entwickelte, wie Wien Mittelpunkt der europäischen Filmproduktion werden könne. Man solle ein Komitee gründen und dessen Mitglieder nach Amerika schicken, um Wien als preisgünstigen, gastfreundlichen Drehort vorzustellen. Er, Preminger, wolle sich selbst als kostenloser Konsulent zur Verfügung stellen.

Unter Edwin Zbonek kam es auch zu einer räumlichen Ausweitung der Viennale: Zusätzliche Kinos wurden bespielt, 1979 wiederholte man Teile des Programmes in den Außenbezirken, um neue Publikumsschichten für den 'künstlerisch wertvollen Film' heranzubilden – eine Initiative, die gut gemeint, aber nicht von Dauer war.


Viennale reloaded
1986 übernahm Helmuth Dimko dann die Regie der Viennale in Alleinverantwortung. Dimko war, so wie die Direktoren zuvor, ein kinematographischer 'Jack-of-all-Trades': Kritiker beim 'Kurier' und bei der 'Kronen Zeitung' und, gemeinsam mit Peter Hajek, Erfinder und Gestalter des Magazins 'Apropos Film', das lange Zeit als die spannendste und innovativste Kinosendung im deutschsprachigen Raum galt. Im Gegensatz zu Kennedy, Wladika und Zbonek war Dimko nicht mehr verstrickt in die Ursprungslegenden und Gründungstraumata des Festivals. Und auch der heroische Kampf um die Anerkennung des Films als künstlerische Ausdrucksform musste nicht mehr geführt werden: Diese Botschaft war mittlerweile auch in Österreich angekommen. So konnte Dimko, unbelastet von den Dogmen der ideologisch vorbelasteten Filmwarte, groß aufspielen. Und er nutzte seine Chance: Zwar gab es in seinen Jahren auch die großen Klassiker, wie Retrospektiven zu René Clair und Federico Fellini belegen, doch daneben allerlei Verspieltes und Provokantes, wie die Schau 'Die schlechtesten Filme aller Zeiten', in der Regisseure wie Ed Wood endlich auch zu Viennale-Ehren kamen. François Truffaut, der im gleichen Jahr mit zwei Filmen eingeladen war, ließ übrigens sein Büro vorsichtig anfragen, ob seine Arbeiten für ein Screening in dieser Programmschiene vorgesehen seien.

Das Jahr 1989 repräsentierte dann Glanz und Elend der Direktion Dimko gleichermaßen: Das Volkstheater wurde zum neuen Hauptspielort, das Programm war dicht und divers wie nie: 'Neues Spanisches Kino' in der Urania, 'Der französische Gangsterfilm' im Studio Molière, Jacques Demy und Jean Vigo im Stadtkino, Wim Wenders im Movie und vieles mehr. Mit der Adaptierung des Volkstheaters hatte sich das Festival allerdings einigermaßen übernommen. Das Budget wurde gesprengt und die Viennale im Folgejahr ausgesetzt. Dies ändert aber nichts daran, dass Helmuth Dimko in seiner Zeit als Direktor dem Festival neue Impulse gab und eine Reihe von Elementen und Programmideen einbrachte, die zum Teil bis heute weiterwirken.
Die Stadt Wien hatte ihre Viennale mittlerweile lieb gewonnen und war in einer Zeit, in der Filmfestivals weltweit als kultureller Standortfaktor galten, auch bereit, wie man hierzulande sagt, "ein Geld in die Hand zu nehmen".

Kino als magischer Ort
Auf Initiative von Kulturstadträtin Ursula Pasterk kam es zum ersten und bislang einzigen Versuch, mit Werner Herzog einen bedeutenden Regisseur als Direktor zu gewinnen. Ihm zur Seite stand Reinhard Pyrker, der zuvor schon die Filmtage in Wels zu einem Showroom und Diskussionsforum des österreichischen Films gemacht hatte. Vielleicht mag bei dieser Doppeldirektion der Gedanke mitgespielt haben, Internationalität und die heimische Szene sinnvoll zu verschränken. Die Paarung einer 'internationalen Galionsfigur' mit einem künstlerischen Leiter rief allerdings nicht nur Begeisterung hervor. Die IG Autoren sah darin eine fragwürdige Konstruktion, die "zuallererst der politischen Verlautbarungs- und Ereignistechnik entspricht, aber keinerlei inhaltliche Definition hat. Über eine europaweit unvergleichbare Filmdesolatheit wird der Glamour eines Momentereignisses gestülpt, um die reale Paralyse des Filmschaffens zu beschönigen." Werner Herzog ließ sich von solcher Kritik nicht beirren. Mit dem Akrobatenstück des Seiltänzers Philippe Petit, der die Distanz zwischen Apollo Kino, dem neuen Festivalzentrum und dem Flakturm im Esterházypark hoch über den Dächern von Wien überquerte, gelang ein fulminanter Auftakt.

Mit seinem Viennale-Programm versuchte Herzog unter dem Leitmotiv 'Kino als magischer Ort' die Aufgabe, spannende, aktuelle Filme zu präsentieren, mit seinen persönlichen Leidenschaften in Einklang zu bringen.

Eine Aufstockung der Mittel von "einem Hungerbudget von vier Millionen Schilling zu einem Schmalbudget von zehn Millionen", wie es die APA formulierte, gab dem Leitungsduo gute Karten in die Hand, um die Viennale noch stärker im allgemeinen Bewusstsein zu verankern. Werner Herzog ließ es jedenfalls nicht an persönlichem Engagement mangeln: Er organisierte und moderierte Diskussionen und veranstaltete 'Filmstunden', in denen er über Vorstellungen vom Kino referierte. Trotzdem war das glamouröse Intermezzo nach zwei Jahren wieder vorbei: Herzog sah sich aufgrund künstlerischer Verpflichtungen und zahlreicher Filmprojekte nicht mehr in der Lage, die Rolle des Viennale-Direktors, so wie er sie verstand, auszufüllen. Reinhard Pyrker, der bereit war, das Festival weiterzuführen, überwarf sich jedoch in inhaltlichen Fragen mit der Stadt Wien und scheiterte mit seinen Vorstellungen. Er ist die eigentlich tragische Figur der Viennale-Geschichte: Lange bevor Kommissionen und Verbände sich zu professionellen Lobbyisten des österreichischen Films machten, hatte er sich als einsamer Vorkämpfer für das heimische Kino eingesetzt, nicht ohne dabei mit allerlei Intrigen und Widerständen konfrontiert worden zu sein. Pyrker war engagiert bis an die Grenze des Möglichen, manchmal undiplomatisch, aber ganz und gar seiner Sache verpflichtet. Im Tandem mit dem ein wenig unberechenbaren, aber zugleich charismatischen Werner Herzog konnte Reinhard Pyrker kein Profil gewinnen. Und als nach dessen Abgang die Stunde gekommen schien, endlich seine eigenen Vorstellungen zu verwirklichen, waren die Weichen von einigen schon anders gestellt.

Die neue Welle
Somit wurde die Viennale einmal mehr neu erfunden. Auf die alte Doppeldirektion folgte eine neue Doppeldirektion: Bestellt wurden der ORF-Redakteur Wolfgang Ainberger sowie Alexander Horwath, Filmkritiker des 'Standard'. Alter Hase plus junger Wilder – das müsste doch eine gute Mischung ergeben, war wohl das Kalkül des Kulturamtes. Ainberger hatte sich als Miterfinder und verantwortlicher Redakteur der Kultursendung 'Kunststücke' profiliert und wurde auch mit der Leitung der neu ins Leben gerufenen Wiener Filmförderung betraut. Horwath galt als Verfechter einer popkulturell geprägten Filmkritik, die nicht nur zum wiederholten Male den alten Kanon abschreiten, sondern das Kino grundsätzlicher auf seine gesellschaftlichen und kulturellen Wirkungen hin untersuchen wollte. Die interne Aufgabenteilung sah vor, dass Ainberger das Hauptfestival gestaltete, während Horwath ein Feuerwerk an Specials, Tributes und Sonderveranstaltungen zündete, viele davon auch außerhalb des regulären Viennale-Zeitraums. Das ergab in den ersten Jahren eine spannende Mischung, die interne Konkurrenzsituation erzeugte jedoch schnell eine erhebliche Reibungshitze. Wolfgang Ainberger erwies sich als kompetenter Programmgestalter und machte sich die Devise 'Think Big' zu eigen: 1993 ließ er für die Viennale eine ganze Gebäudeseite des Festivalhotels Hilton mit einer Riesenplane bespannen, die ein von Gottfried Helnwein gemaltes Konterfei Arnold Schwarzeneggers zierte. Ein beachtlicher PR-Erfolg, allerdings mit herben Konsequenzen für das Budget des Festivals.

Alexander Horwath wiederum setzte etwa mit einem Tribute für den Giallo- und Slasher-King Dario Argento einen Akzent, der die Öffnung des Festivals für neue und spannende Trends in den darauffolgenden Jahren ankündigte. Die anfänglich durchaus konstruktive Zusammenarbeit von Ainberger und Horwath wurde bald durch inhaltliche und persönliche Dissonanzen gestört, bis es zum Bruch kam. Ainberger kündigte die Direktorenschaft vor Ablauf seines Vertrages auf, unter anderem auch, um sich auf seine Tätigkeit beim Wiener Filmfonds zu konzentrieren. Alexander Horwath leitete das Festival bis 1996 im Alleingang. Er war aufgrund seines jugendlichen Alters der erste Viennale-Direktor, der den Muff der Nachkriegszeit, den selbstverordneten Provinzialismus der fünfziger Jahre und die rabiaten politischen Auseinandersetzungen des darauffolgenden Jahrzehnts nicht mehr erlebt hatte. So konnte Horwath frisch und undogmatisch an die Sache herangehen. Unter seiner Leitung gab es Programme wie 'Breathless! Pop Musik Filme 1956–95', 'Cool – Pop. Politik. Hollywood 1960–68' oder die Mitternachtsschiene 'Twilight Zone', bei der Horror, Suspense und Crime präsentiert wurden und Filme wie TETSUO von Shin’ya Tsukamoto für hitzige Debatten sorgten. In der Rückschau stellt sich seine Direktion als längst fälliger Bruch mit bestimmten Werthaltungen dar. Mit der daraus folgenden Konsequenz, dass ein bestimmtes Genre- und Gebrauchkino genauso würdig erachtet wurde, beim Festival vorgestellt und diskutiert zu werden, wie die vielfach prädikatisierte und kanonisierte 'Filmkunst'. Auf die wollte Horwath allerdings auch nicht verzichten.

Alte Meister wie Michelangelo Antonioni und John Cassavetes hatten in der poppig-aufgefrischten Viennale weiterhin ihren Platz. Ein besonderes Verdienst war die Schau 'Aufbruch ins Ungewisse', in der erstmals die Arbeit und das Schicksal emigrierter österreichischer Filmschaffender umfassend gewürdigt wurden. Die Apotheose der Direktion Horwath war wohl der Besuch von Martin Scorsese, dessen OEuvre das ästhetische Programm der neuen Viennale wohl am reinsten repräsentierte.

Play it dirty, play it class
1995 kündigte Horwath nach fünf Jahren seinen Rücktritt an. Dies stellte die Wiener Kulturpolitik vor die Aufgabe, wieder einen Direktor aus dem Hut ziehen zu müssen, der schließlich mit Hans Hurch gefunden wurde. Der ehemalige «Falter»-Kritiker, gelegentliche Kurator von Retrospektiven und künstlerische Leiter der Initiative 'hundertjahrekino' war seit Jahren eine fixe Größe im Wiener Kulturbetrieb. Bei den Filmtagen in Wels hatte er sich durch polemische Auftritte den Ruf erworben, ein genauer und manchmal gnadenloser Kritiker des österreichischen Films zu sein. Gleichzeitig galt er als Apologet eines radikalen und minoritären Kinos, was einen Kritiker anlässlich Hurchs Bestellung zum Direktor der Viennale zur Aussage veranlasste: "Und was uns jetzt noch passieren kann: Jean-Marie Straub im Gartenbaukino."

So schlimm wurde es dann aber doch nicht: Hurch spielt zwar tatsächlich regelmäßig Filme von Straub/Huillet im zentralen Festivalkino, baute jedoch im Wesentlichen auf die bewährte Grundstruktur des Festivals auf. Zugleich setzte mit ihm nach der eher popkulturellen Öffnung der Viennale eine deutliche Politisierung ein. Um etwa zehn Jahre älter als sein Vorgänger, verlagerte Hurch langsam, aber nachhaltig die Akzente. Experimentelles und dokumentarisches Kino sowie der Kurzfilm fanden vermehrt Eingang in die Programmierung, wobei in manchen Jahren der Dokumentarfilm nahezu ebenso stark vertreten war wie ein klassisches erzählerisches Kino. Die zahlreichen Viennale-Specials während des Jahres gab Hurch sukzessive auf und konzentrierte die Viennale wieder ganz auf das Festival selbst. Mit einer gewissen Entdeckungslust widmete er innovativen, aber wenig bekannten Filmemachern erstmalig Personalen und erinnerte an wichtige politische Figuren des Kinos. Getreu seinem Motto "Pflege das, was man dir vorhält", suchte Hurch auch immer wieder den Konflikt mit dem heimischen Kino, was hin und wieder zu unproduktiven Querelen führte. Auch in Richtung Genre- und Gebrauchskino erlaubt sich der Direktor ein vorsichtig distanziertes Verhältnis. Auf Stars mussten die Besucher der Viennale trotzdem nicht verzichten: Lauren Bacall, James Coburn, Tilda Swinton und Jane Fonda waren ebenso zu Gast wie die Rocklegende Lou Reed oder zuletzt der Entertainer und politische Aktivist Harry Belafonte.

So hat sich in den letzten Jahren etwas entwickelt, was man vorsichtig 'Modell Viennale' nennen könnte: ein sorgfältiges Navigieren zwischen den wesentlichen Momenten des aktuellen Kinos, die Auseinandersetzung mit einer lebendigen Kinogeschichte und ein gewisser Instinkt für das Populäre. Neben der Programmierung eines unabhängigen Festivals ist es die erklärte Absicht von Hans Hurch, die Viennale ein wenig aus der eigenen Milieu-Selbstgefälligkeit herauszulösen und das Programm in einem größeren gesellschaftlich-kulturellen Kontext zu diskutieren. Dazu tragen auch seine Eröffnungsreden zwischen Geißelung und Weihrauchkessel bei, die gerne am Beispiel von Tagesaktualitäten grundsätzliche Kritik an den politischen Verhältnissen üben. Nicht ohne dabei das Ritual der Eröffnung manchmal zu einer Art Therapiesitzung unter Beteiligung des Publikums umzufunktionieren.

Die Persönlichkeit des seit 1998 amtierenden Präsidenten, Eric Pleskow, verleiht der Viennale eine biographisch beglaubigte, moralische Autorität: Der Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie musste auf der Flucht vor den Nazis in die USA emigrieren, wo er nach zahlreichen lebensgeschichtlichen Wendungen bei United Artists zum erfolgreichen Filmproduzenten wurde. Pleskow verkörpert ein österreichisches Schicksal unter den Unrechtsbedingungen des 20. Jahrhunderts und ist zugleich Repräsentant jener österreichischen Filmintelligenz, die mit Regisseuren wie Erich von Stroheim, Fritz Lang und Josef von Sternberg im Hollywood-Exil das moderne Kino wesentlich prägte.

Die Viennale ist, wenn man sie über den gesamten Zeitraum von 50 Jahren betrachtet, eine veritable Erfolgsstory. Wobei das Kunstwerk gelungen ist, sowohl Filmangebot als auch Zuschauerzahlen immer wieder zu steigern, ohne deshalb den expliziten Anspruch auf inhaltliche und ästhetische Qualität zu relativieren. Große Momente entstehen durch intellektuelle Leidenschaft und programmatischen Wagemut, nicht durch inszenierten Glamour aus der PR-Abteilung oder populistische Anbiederung. So ist die Viennale heute sowohl für viele Kritiker als auch für das zahlreiche Publikum zum Lieblingsfestival geworden. Stellvertretend sei hier Fritz Göttler zitiert, der in der 'Süddeutschen Zeitung' begeistert schrieb: "Die Viennale, gerühmt als das schönste Cineastenfestival der Welt, war immer auch politisch orientiert – kein politisches Festival machen, sondern ein Festival politisch machen."


Bildnachweis: Alle Fotos © Viennale
Header: Viennale 2012
Galerie:
01. Plakat der 50. Viennale
02. Urania-Kino in den 1960er-Jahren
03. Otto Wladika (Mitte) im Viennale-Büro in der Urania, 1968
04. Forum Kino, Wien
05. Gartenbaukino-Foyer 1977
06. Federico Fellini und Bürgermeister Helmut Zilk, 1988
07. Michelangelo Antonioni und Billy Wilder
08. Martin Scorsese
09. Jean-Marie Straub, Danièle Huillet und Hans Hurch
10. Festival-Direktor Hans Hurch und Michael Caine bei der Ankunft im Hotel. Foto: Robert Newald
11. Leinwand des Gartenbau-Kinos

KulturPort.De dankt der Viennale für die Zuverfügungstellung dieses Beitrags.