Film

Jules (Philippe Duquesne) tut nur seine Pflicht, davon ist der Leiter des französischen Polizeikommissariats überzeugt, wenn er im Auftrag der deutschen Besatzer Verdächtige verhört, Juden abtransportieren lässt. Daheim spricht er ungern über seine Tätigkeit, und wenn dann flüstern er und seine Frau nur, schicken den Sohn hinaus. Ein gewissenhafter behäbiger Biedermann, der sich freundlich jovial gibt und doch streng ist und vor allem korrupt. Die Schreie der Gefolterten stören, trotzdem, Gewissensbisse kennt er nicht, vielleicht ein leichtes Unbehagen. Die Zusammenarbeit mit dem Feind gegen die Interessen des eigenen Landes garantiert ihm seinen großbürgerlichen Wohlstand. Er selbst braucht sich die Hände nicht schmutzig machen, das erledigen seine Untergebenen. Als eines Tages Olga (Yuliya Vysotskaya) vor ihm sitzt, spürt Jules, sie ist etwas Besonderes. Die schöne Exilrussin, eine Aristokratin, die als Moderedakteurin bei der Zeitschrift Vogue arbeitet, ist während einer Razzia verhaftet worden. Sie soll zwei jüdische Kinder bei sich versteckt haben, so jedenfalls lautet der Vorwurf.

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Olga streitet alles ab, gibt sich charmant, unwissend, leugnet jede Beteiligung. In Wirklichkeit trat sie schon 1941 der Résistance bei. Jules kann ihre Unschuldsmiene nicht täuschen, er stellt weiter geschickte Fangfragen. Notgedrungen geht Olga zum Gegenangriff über, lässt ihre Reize spielen, zieht den Rock hoch, es ist eine Koketterie der Verachtung. Der Kommissar reagiert nur auf das gewagt Verruchte der Geste, gibt zu verstehen, wenn die Rahmenbedingungen stimmen, ließe sich über eine Freilassung oder zumindest mildere Strafe reden. Doch es kommt nicht zu ihrer nächsten Begegnung, auf einem Waldspaziergang erschießen Widerstandskämpfer Jules vor den Augen seines Sohnes. Olgas Hoffnungen sind zerstört, das KZ erlebt sie als eine Hölle, in der nicht nur die Kapos (Funktionshäftling in einem Konzentrationslager), sondern auch die Mitgefangenen in ihrer Verzweiflung zu Bestien werden. Es ist ein Lichtblick in der Düsternis, als sie dort die beiden kleinen Jungen entdeckt, die sie damals versteckt hatte und von nun an wieder versucht zu beschützen. Sie ahnt nicht, dass es noch jemanden im Lager gibt, den sie kennt.

„Paradies” ist Prophezeiung und Vermächtnis zugleich, greift die Themen früherer Werke Konchalovskys auf, verbindet Verzweiflung und Anmut, Schönheit und Grauen auf verstörende Weise. Kernstück des allegorischen Kammerspiels sind die dokumentarisch anmutenden bekenntnisartigen Monologe der Protagonisten. Sie werden in die laufende Handlung eingeblendet und erinnern an Einzelverhöre. Die Fragen scheinen herausgeschnitten zu sein, wer sie stellt, wo sie stattfinden und weshalb, das begreift der Zuschauer erst ganz am Ende. Diese Szenen haben kleine holprige Sprünge, als würde zwischendurch immer wieder eine neue Filmrolle in das Aufnahmegerät eingelegt. Drei konträre Perspektiven auf Krieg, Moral, Gerechtigkeit, Rassismus, Freiheit, Familie, Herkunft, auf das Glück schlechthin. Am meisten verbunden fühlen wir uns mit der aristokratischen Widerstandskämpferin. Die schauspielerische Leistung von Yuliya Vysotskaya ist atemberaubend, wie sie dort auf der Leinwand völlig abgemagert, die Haare kurz geschoren, als Olga zur Kommentatorin ihres Schicksals wird. Sie ist jemand, der nie aufgibt zu kämpfen, sich erniedrigen lässt, alles erduldet, wenn nur eine winzige Chance besteht zu überleben. Das Gesicht spiegelt nicht nur ihr eigenes, sondern das Leid unzähliger gedemütigter Frauen wider, der Zuschauer spürt die Scham, die Qual, ihren Zorn, den sie nie zeigen darf. Manchmal hat die einst so stolze Exilrussin kaum noch die Kraft, den Kopf zu heben, in die Kamera zu blicken.

Helmut (Christian Clauß), ein junger hochrangiger SS-Offizier, wird von Reichsführer Himmler höchstpersönlich abkommandiert, um die Finanzen der Konzentrationslager zu kontrollieren. Seit langem schon kursieren Gerüchte, dass Lagerleitung und Bewacher weniger der nationalsozialistischen Idee dienen, als auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind. Der Schöngeist adliger Herkunft ist ein glühender Verehrer Adolf Hitlers. Früher hat er Slawistik studiert, er spricht fließend Russisch, liebt Brahms und Tschechow. Den Gutshof seiner Vorfahren hat er verkauft, um sich ganz seiner Aufgabe widmen können. Er glaubt an die Vision des Führers, auch als dessen Reich schon längst untergegangen ist, schwärmt Helmut noch: „Wir bauten eine vollkommen neue Welt. Ein deutsches Paradies auf Erden.” Auf einem Gang durchs Lager, trifft er auf Olga: „Mir sprang fast das Herz aus der Brust. Ich sah sie an, aber erst nach einer Sekunde begriff ich, dass sie es wirklich war.” Sofort kehrt die Erinnerung zurück an jenen Sommer in der Toskana vor vielen Jahren. Damals begegneten sich die beiden zum ersten Mal, verbrachten im Kreise wohlhabender Freunde unbeschwerte Tage. Eine traumhafte Villa am Wasser, man alberte herum, die Luft flirrte vor Erotik, im Hintergrund eine heitere freche italienische Melodie. Der Deutsche verliebt sich in die Russin, die seine Gefühle nicht wirklich ernst nimmt. Plötzlich war sie verschwunden. Er hat ihr geschrieben, immer wieder, aber keine Antwort erhalten, nicht einmal eine Postkarte. Der Schmerz darüber hat nie seine Liebe verändert, sie ist so absolut wie die Hingabe für das angeblich Tausendjährige Reich.

Nein, keine rechte Propaganda, wie ein Kritiker fälschlich vermutete, Andrei Konchalovsky und Co-Autorin Elena Kiseleva führen uns die Komplexität des Bösen vor Augen, der SS-Offizier ist kein Sadist, er entspricht nicht dem gängigen Hollywood-Klischee des Nazis. „Ständig träumen Sie vom Paradies, aber es gibt kein Paradies nur eine Hölle. Und diese Hölle habe ich geschaffen,” erklärt der Leiter des KZs unwirsch Helmut. ”Die Gräueltaten des Holocaust zeigen die Tiefe der menschlichen Abgründe. Sie verdeutlichen, zu welch teuflischen Taten wir fähig sind”, schreibt der Regisseur in seinen ‚Director’s Notes’. „Heute ist dieselbe Art der Radikalisierung und des Hasses wieder spürbar” Einzig das Wissen um die Vergangenheit kann eine Wiederholung verhindern. Die Gefahr liegt in „der Verdrängung, der Sehnsucht nach Vergessen und der Ungläubigkeit, dass so etwas wirklich passieren konnte”. Die Worte des deutschen Philosophen Karl Jaspers sind zentrales Thema von „Paradies”. Jede der drei Personen trifft eine lebensverändernde Entscheidung, basierend auf ihrer eigenen Vorstellung von Richtung und Falsch. Konchalovsky will wissen, warum sucht der wohlerzogenen Erbe einer angesehenen deutschen Familie Zuflucht in einem unmenschlichen System? Welche Motive hat eine russische Adlige, ihr sorgloses Dasein und ihre Freiheit für das Leben eines anderen zu opfern? Bewusst verzichtet der russische Filmemacher auf Massenszenen und großflächige Einstellung als direkte Abbildung von Gewalt. Der Schrecken des Faschismus soll sich allein in den Wahrnehmungen und Gefühlen der Protagonisten spiegeln.

Wenn Helmut schildert, was ihn dazu bewegte, sich in den Dienst des Horror-Regimes zu stellen, hat es wenig von verführerischer Rhetorik, sondern etwas erschreckend Anrührendes, fast Naives. Grandios Christian Clauß in der Rolle des blonden hübschen SS-Offiziers mit dem schüchteren Lächeln. Aufgewachsen im Ehrbewusstsein militärischer Tradition, sind Gehorsam, Unterordnung Teil seiner Persönlichkeit geworden. Irgendwie bleibt er ein Außenseiter, wahrlich kein Macho, seine Brutalität ist eine strategisch soldatische, und sogar seine Zärtlichkeit hat etwas Unterwürfiges. Er kann die Verbrechen des Holocaust nicht leugnen, aber sieht sie als historische Notwendigkeit. Selbst nach dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes, fühlt er sich trotz aller Enttäuschung noch als Vorläufer, Prophet einer besseren Welt. Die roten grell geschminkten Lippen 12-jähriger Prostituierter im Berlin der Vorkriegszeit erfüllten ihn mit Abscheu, für den jungen Adligen waren sie Symptom der Dekadenz einer Gesellschaft, die versagt hatte. Wenn er spricht, ist es mit einer Mischung aus Stolz und seltsamer Unsicherheit, sogar in seiner Begeisterung schwingt Melancholie mit, aber jede Form der Skepsis fehlt. Ganz anders sein Freund Dietrich (Jakob Diehl), der sich quält mit Selbstzweifel, Ekel und seiner heimlichen Leidenschaft für Helmut.

Kameramann Alexander Simonov eröffnet dem Zuschauer die Abgründe und Sehnsüchte der Protagonisten, beherrscht die Kunst des ‚Chiaroscuro’, jenes Spiel von Schatten und Licht meisterhaft. Das philosophische Schwarz-weiß-Epos im strengen ‚Academia Ratio’-Format, 4:3 erinnert daran, hier ist keiner frei in seinen Entscheidungen, Gefangenschaft wird zum Leitmotiv. Wieder ist es Helmut, der die Nähe zu Olga sucht, er holt sie als Haushälterin zu sich in die Dienstvilla. Selbst unter den entsetzlichen Umständen des Krieges glaubt er fest daran, dass eine Beziehung zwischen ihnen möglich sein kann. Es beginnt ein gefährlicher wie hoffnungsloser Pas de deux, von dem niemand etwas erfahren darf. Anders als in dem italienischen Film „Der Nachportier” (1974) von Liliana Cavani haftet dieser Bindung nichts Perverses an, nur der Wunsch zu überleben und eine heimliche tiefe Liebe. Pervers ist allein die Hingabe für Hitler, die Glorifizierung seiner Ideen. Helmut sitzt neben dem Bett, beobachtet die schlafende Olga, sie hatte eben zum ersten Mal seit ihrer Verhaftung ein heißes Bad genommen, gleich muss sie wieder zurückkehren in die überfüllte Baracke, die anderen Frauen hassen sie wegen ihrer privilegierten Stellung, rächen sich. Helmut stellt in Aussicht, bei der nächsten Gelegenheit gemeinsam mit ihr zu fliehen. Sie beharrt darauf, die beiden kleinen Jungen mitzunehmen.

Beide werden in dieser noch immer so einseitigen Liebe zu Verrätern ihrer Überzeugungen. „Seit ich bei ihm war, ging es mir viel besser,“ gesteht Olga widerwillig der Kamera: „Wie schnell man sich von einem Tier in einen Menschen zurückverwandelt. In eine Frau.” Doch Liebe ist unmöglich in Zeiten des Terrors, das muss auch Jules erkennen, wenn er in Panik gerät, weil sein Sohn erklärt: „Ich mag weder Deutsch noch die Deutschen”. „Sag das nie wieder,” fährt er ihn harsch an. Wenig später schon fallen die Schüsse. Die Monologe nach dem Tod Jules offenbaren die posthume Natur der Verhöre. „Paradies” ist Konchalovskys 23. Film, er wurde bei den Festspielen in Venedig mit dem Silbernen Löwen für die Beste Regie ausgezeichnet genau wie 2014 „The Postman’s White Nights”. Begonnen hatte die Karriere 1965 mit „Der erste Lehrer”, einer Adaption des Romans von Tschingis Aitmatow über die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, die Sowjetführung akzeptierte sie wohlwollend, aber schon sein zweiter Film, die Liebesgeschichte „Asjas Glück” wurde von den Machthabern in Moskau zensiert und blieb lange unter Verschluss. 1988 erhielt er schließlich auf der Berlinale den FIPRESCI-Preis. Auch Hollywood wurde auf den russischen Regisseur aufmerksam. 1984 drehte er „Maria’s Lovers” mit Nastassja Kinski in der Titelrolle.

„Paradies” hat ein unerwartetes fast chaplinesk tragisches Finale. So hinreißend, dass man sich wünscht, es gäbe eine höhere Gerechtigkeit, ähnlich wie sie uns Andrey Konchalovsky präsentiert. Beeindruckend grade bei dieser metaphysischen Dimension, das Ausmaß und die Präzision der Recherche. Ein Beispiel: Als Vorbereitung auf die Dreharbeiten bat man Christian Clauß sich eingehend mit dem entsprechenden historischen Zeitabschnitt zu befassen. Er bekam eine Liste von mehr als 40 Büchern, die er unbedingt lesen sollte. „Die Vorbereitung dürfte der schwierigste Part sein. Am Set wird es dann leichter”, sagte Konchalovsky zu dem Schauspieler.

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Originaltitel: Рай / RAJ
Regie / Drehbuch: Andrey Konchalovsky
Darsteller: Yuliya Vysotskaya, Christian Clauß, Philippe Duquesne, Victor Sukhorukov
Länge: 132 Minuten
Produktionsländer: Russland, Deutschland, 2016
Verleih: Alpenrepublik GmbH
Kinostart: 27. Juli 2017

Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright Alpenrepublik GmbH