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Film

Alice (Ariane Labed) fährt zur See. Während Félix, ihr Freund (Anders Danielsen Lie) auf dem Festland zurückbleibt, arbeitet sie als zweite Mechanikerin auf einem heruntergekommenen Frachtschiff der französischen Handelsmarine. Sie ist die einzige Frau an Bord. In der Kajüte entdeckt sie das Tagebuch ihres Vorgängers. Er starb, Herzinfarkt oder Unfall, sein Tod hat etwas Mysteriöses. Der alte Mann (Voice-over: Luc Catania) schreibt über technische Probleme im Maschinenraum, erotische Eroberungen, Liebeskummer, seine Einsamkeit. Alice, obwohl jung und attraktiv, kennt diese Gefühle nur zu gut, das Glück und die Traurigkeit auf See in einer Art Parallelwelt zu leben.

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Das fast schon schrottreife Containerschiff hat ein kompliziertes Innenleben, ein dunkler Dschungel voll tückischer Gefahren, mehr Tatort als Arbeitsplatz. Die Menschen sind winzig im Gegensatz zu dem finsteren Ozeanriesen. Alles ist in ständiger Bewegung, die unterschwellige Anspannung wächst, das ohrenbetäubende Stampfen der Maschinen übertönt das Rauschen des Meeres. Die Generatoren sind überlastet, plötzlich ein unheilvolles Zischen, Alice reagiert schnell, kann die Explosion verhindern. Das Risiko, im Ernstfall der Tod, gehört zur alltäglichen Routine. Auf und unter Deck ein Gemisch von Nationen, Durcheinander von Sprachen, oft funktionieren bei dem Lärm nur Zeichen, Gesten, man ist aufeinander perfekt eingespielt. Ein weibliches Wesen im ölverschmierten Overall, das Order erteilt, nicht jeder in der Mannschaft kann es akzeptieren. Derweil wird die Route des Schiffes von den Börsenkursen bestimmt, die Globalisierung hat die Arbeitsbedingungen brutal verschärft. Das Drehbuch schrieb Lucie Borleteau zusammen mit Clara Bourreau und Mathilde Boisseleau.

Alice ist stark und doch verletzlich. Ihr norwegischer Freund Félix zeichnet sie als Nixe. Leidenschaftlich, anhänglich, aufmerksam und mädchenhaft vernarrt in ihn, so sieht er sie. Zum Geburtstag schickt er aus Marseille eine Kiste mit anspruchsvoller klassisch-maritimer Weltliteratur. Die Kollegen spendieren ihr einen Callboy. Das Meer hat eine magische Wirkung auf Alice, es macht sie selbstbewusster, freier, härter, überlegener. ‘Fidelio’ heißt das Schiff, eine ironische Anspielung auf die Treue und Beethovens Oper. Die Protagonistin vermisst den Freund und doch verrät sie ihre Beziehung. Die Männer um sie herum sind ausgehungert nach Sex, aber ihre rüden Sprüche sind oft nur nervige Provokation oder liebevolle Hänselei. Der Ton innerhalb der Mannschaft ist rau, signalisiert Vertrautheit. Alice klinkt sich ein, gibt zu verstehen: ich gehöre zu Euch trotz Hierarchie. Ein schwieriger Balanceakt: Flirten, Befehle geben, sich durchsetzen, Distanz wahren und Kumpel sein. Die abfälligen höhnischen Jokes, sie weiß sich zu wehren, selbst als ein Matrose sie in einer der ersten Nächte zu vergewaltigen versucht. Daraus macht die Mechanikerin kein Drama. Sie kann zupacken, das verschafft Respekt, hält mit bei den Besäufnissen, Landgängen, beim Kartenkloppen.

An Bord gelten andere Regeln als auf dem Festland. ‘In jedem Hafen eine Braut’ gehört zum trügerischen Mythos der Seeleute. Gilt das im Zuge der Gleichberechtigung auch für eine Frau wie Alice? „Was auf dem Meer geschieht, bleibt auf dem Meer”, heißt es im Film. Die Protagonistin begreift, das Sprichwort kann nicht stimmen. Als sie ihren Dienst auf der Fidelio antritt, stellt sie mit Schrecken fest, dass der erste Offizier ihre verflossene große Liebe Gaël (Melvil Poupaud) ist, damals war er noch Kadett. Die Leidenschaft entflammt wieder, lässt sie nicht mehr los. Nur kann eine solche Beziehung Bestand haben, wenn auf beide an Land ein Partner wartet? Alice liebt das Meer und seine unendliche Weite, doch sie spürt, die Freiheit hat ihre Grenzen. „Mein Partner ist auch mein Freund, aber ich will auch, dass er mein Liebhaber ist, mein Bandit, mein Bruder,” hatte die Französin den Kollegen irgendwann erklärt. „Du willst alles”, sagt einer von ihren. „Für mich ist das die Definition von Liebe. Sie ist alles.” Alice ist kein Typ für Kompromisse und dank Skype ist Félix jederzeit präsent. Das macht den Betrug noch unerträglicher. Es geht nicht nur um die Treue dem Freund gegenüber sondern auch um die eigenen Ideale. Das Meer kann am Ende zum Gefängnis werden.

Simon Beaufils’ Breitwand-Kompositionen sind von exquisiter puristischer Eleganz, das Spiel aus Licht und Schatten erinnert an Michelangelo Antonioni. Er selbst erzählte in “L’Eclisse (1962) von einer Frau zwischen zwei Männern, der Liebesunfähigkeit des modernen Menschen, von Entfremdung, Skepsis und Trostlosigkeit. „Fidelio, l’odyssée d’Alice” ist der Originaltitel des Films und Lucie Borleteaus Regie-Debüt. Homer, Lewis Carroll, sie müssen nicht bemüht werden, die fragile robuste Protagonistin braucht keine Allegorien, feministische Doktrin oder andere Art der Schützenhilfe. Spätestens nach einem desaströsen Besuch bei ihrer Schwester steht die Entscheidung fest, sie wird weiterhin zur See fahren, selbst wenn es den Verzicht auf feste Bindungen bedeutet. Ein hoher Preis für die Freiheit der sexuellen Selbstbestimmung. Ihren 'Heimathafen', so hatte sie Félix, den Graphic Novel Künstler, einst genannt. Die Sehnsucht danach wird immer bleiben. Vom ersten Moment an ist der Film von fast schmerzhafter dramatischer Intensität, fern jeder Sentimentalität. Die Regisseurin entwickelt zwischen den verschiedenen atemberaubenden Blautönen eine Bildsprache von melancholisch suggestiver Poesie, eine raue archaische Art von Romantik. Der Mix aus Sinnlichkeit und Sachlichkeit ist verblüffend. Alice glaubt weiter an die Kraft der Liebe, die philippinischen Crewmitglieder an böse Dämonen.

Ariane Labed („Lobster”, „Alps”) ist eine der spannendsten Schauspielerinnen des gegenwärtigen Independent Cinema. Niemand anders könnte diese Rolle zwischen Orientierungslosigkeit und Entschlossenheit so meistern wie sie. Als Kind französischer Eltern verbrachte sie die ersten sechs Lebensjahre in Athen, lebte dann in Deutschland. Erst mit 12 Jahren kam sie nach Frankreich, studierte dort später Theaterwissenschaft an der Universität Provence Aix-Marseille. Als Ariane Labed nach Griechenland zurückkehrte, hatte sie die Sprache inzwischen verlernt. Ursprünglich wollte sie nur neun Monate im Land verbringen, doch dann erhielt sie das Angebot für die Hauptrolle in „Attenberg” (2010). Wie „Alice und das Meer” handelt auch dieser Film von der Suche nach sich selbst: Menschen sind eine befremdliche wie unbegreifliche Spezies für die 23jährige Marina (Ariane Labed). Ihr Wissen über Verhalten und Sexualität beschränkt sich allein auf die Tierdokumentationen des Anthropologen Sir David Attenborough. Resultat: Sie imitiert Gorillas oder Raubkatzen zur Perfektion, ein Zungenkuss dagegen gerät zur grotesken Pirouette. Ihr Vater stirbt mit charmanter Würde, die beste Freundin tanzt an ihrer Seite, während Marina mit wissenschaftlicher Akribie sich daran macht die Liebe zu entdecken. Athina Rachel Tsangari inszeniert die Selbstfindung ihrer scheuen Protagonistin vor dem Hintergrund industrieller Tristesse als bizarres Musical und rätselhaft verstörendes Melodram. Es ist als wäre die Regisseurin bei Jean Luc Godard, Monty Python und Pina Bausch in die Schule gegangen, hätte dann aber ihren ganz eigenen unverwechselbaren Stil gefunden. Sprache und Bewegungen sind streng choreographiert, kühl und leidenschaftlich wie der Soundtrack der New Yorker Prä-Punk-Band „Suicide”. Eine brillante, ungewöhnliche Gesellschaftsanalyse voll absurder Komik und verhaltener Zärtlichkeit.

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Originaltitel: Fidelio, l’odyssée d’Alice    
Regie: Lucie Borleteau   
Darsteller: Ariane Labed, Melvil Poupaud, Anders Danielsen Lie, Pascal Tagnati  
Produktionsland: Frankreich, 2014 
Länge: 97 Minuten
Verleih: Film Kino Text   
Kinostart: 22. September 2016

Fotos & Trailer: Copyright Film Kino Text

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