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Film

Der Tod zerstört von einem Moment zum anderen diese Idylle. Aber bis dahin setzt Regisseur und Autor Matt Ross (“28 Hotelrooms”) alles daran, dass der Zuschauer dem Charme jener wissbegierigen, schlagfertigen kleinen Guerillakämpfer erliegt.  Bodevan, Rellian, Vespyr, Kielyr, Zaja und Nai sind zwischen 7 und 17 Jahren alt. Der Filmemacher weiß, worüber er schreibt, als Kind lebte er selber mit seiner Mutter in Kommunen, Nordkalifornien, Oregon. “In der Mitte von Nirgendwo” nennt er es und bedeutete Verzicht auf Fernsehen und den größten Teil moderner Technologie. Grade die Jüngsten der Cash-Sippe, die hier in der Wildnis aufgewachsen sind, demonstrieren Selbstständigkeit, persönlichen Ehrgeiz und ihren Anspruch auf individuellen Freiraum immer wieder auf höchst verblüffende Weise. Wenn einer unbedingt seine Gasmaske aufbehalten will, dann tut er das. Aber zum Essen darf man auch als Siebenjähriger nicht nackt erscheinen. Regeln gibt es durchaus. Lernen ist in der Einsamkeit der Wälder eine willkommene Herausforderung, perfektes Schutzschild gegenüber den Versuchungen der Konsumgesellschaft, die ihre Bürger angeblich für dumm verkaufen will.

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Das alles erzählt Matt Ross amüsant, sehr anrührend und ohne eine Spur von Sarkasmus. Die Mädchen haben keine Poster von Rockstars an der Wand sondern kommunistische Diktatoren mit Kult-Status. Das kapitalistische System zu demaskieren, hat bei den Cashs Priorität. Es ist eine unerlässliche Form der Selbstverteidigung genau wie die gezielten Griffe beim Zweikampf. Die Kinder müssen gegeneinander antreten. Manches klingt nach neorevolutionärem Kader, und trotzdem ist Ben warmherzig, aufrichtig, fürsorglich, auch wenn er zuweilen arrogant oder ungeduldig wirken mag. Der körperlich gestählte Linksintellektuelle verfügt nicht nur über ein beeindruckendes Wissen, ist auch ein phantastischer Lehrer. Er weiß, wie er seine Zöglinge motivieren (manipulieren?) kann, Floskeln lässt er ihnen nicht durchgehen, Literatur wird bei Ben zur einer existenziellen Begegnung, wo jeder emotional Position beziehen soll, zupacken muss wie bei der Bezwingung eines Berggipfels. Die Protagonisten der Bücher ersetzen den Kids, was ihnen in diesem Paradies fehlt: andere Menschen. Der 12jährige Rellian (Nicholas Hamilton) verabscheut das rigide unerbittliche Training: Als er sich beim Erklimmen einer Felswand verletzt, will er aufgeben, doch Ben lässt es nicht zu. Die Kinder sollen lernen mit Schmerz und Gefahr umzugehen, grade in solchen Ausnahmesituationen müssen sie sich bewähren. Mitleidlos gegen sich selbst sein, ist die Devise. Rellian reagiert mit Feindseligkeit, er sehnt sich nach Normalität, warum können sie nicht Weihnachten feiern wie vernünftige Amerikaner?  

Die Mutter taucht in diesen Szenen nicht auf, nur in den Gedanken von Ben. Ein gerahmtes Hochzeitsfoto zeigt Leslie (Trin Miller) und ihn. Er trägt einen scheußlichen roten Anzug, und sie ist wunderschön. Instinktiv weiß der Zuschauer, diese beiden waren wirklich einmal sehr glücklich, die Kinder sind Beweis genug. In der Stadt am Telefon erfährt Ben, dass seine Frau Selbstmord begangen hat. Sie war wegen ihrer schweren Depressionen in der Psychiatrie. Einst hatten beide gehofft, dieses Refugium weit weg von der Zivilisation und den Eltern würde ihr gut tun, aber nichts half. Der Schwiegervater (Frank Langella), ein reicher Unternehmer in New Texas, macht den Gatten mit seinen verrückten Ideen für alles verantwortlich. Er droht, ihn verhaften zu lassen, falls er wagen sollte, sich auf der Beerdigung blicken zu lassen. Abends als die Kinder im Bett liegen, sagt Ben es ihnen ganz ohne Umschweife: “Eure Mutter ist tot. Sie hat sich umgebracht.” Leslie, als überzeugte Buddhistin wollte verbrannt und dann bitte in einer öffentlichen Toilette hinuntergespült werden. Eine christliche Beerdigung und vom Würmern gefressen zu werden, ist für die Kids unvorstellbar. Ben versucht ihnen zu erklären, dass er das Sorgerecht für sie verliert, wenn er verhaftet wird. Doch die Sechs sind Produkt seiner Erziehung, er selbst hat ihnen seinen Kampfgeist eingeimpft. Und so stehen sie am nächsten Morgen mit gepackten Koffern vor dem Holzhaus. Die Jüngsten erklären: “Wir lassen uns von Opa nicht einschüchtern. Wir wollen uns von Mum verabschieden”.

Mit einem uralten ungebauten Schulbus namens Steve geht die Fahrt quer durch die USA. Noch insistiert Ben: ”Wir müssen tun, was sie sagen. Die Mächtigen kontrollieren das Leben der Machtlosen”.  Am Ende aber gibt er nach: “Ach, Scheiß drauf!” Die Truppe ist ein perfekt eingespieltes Team, gedrillt für alle Eventualitäten des kapitalistischen Alltags. Ein freundlicher Polizist hält das klapprige Gefährt an, kontrolliert die Papiere, zu beanstanden gibt es einiges. Da stimmen die Kinder plötzlich mit missionarischem Eifer ein Lied an. Aus scheinbar tiefster Überzeugung wird laut Jesus gepriesen und gelobt. Der Ordnungshüter ergreift die Flucht. Homeschooling in Verbindung mit christlichen Fanatikern ist in Amerika unverdächtig, das weiß Ben, Kommunisten dagegen können schnell im Knast landen. “Power to the People. Stick it to the Men,” so fühlen die Cashs und handeln auch. In einem Diner machen sie halt. Die kleine Zaja (Shree Crooks) will wissen, was das sei “Cola”. “Giftwasser,” erklärt der Vater. Die Älteren wären schon gern geblieben auf ein Hot Dog, aber Ben stürmt davon in Richtung Supermarkt. Aktion Meisterdiebe startet. Der Vater fingiert einen schweren Anfall, die Jüngste lenkt gekonnt die Angestellten ab, die anderen schleppen weg, was die Familie an Lebensmitteln braucht. Das Ganze ist mit erschreckender Professionalität organisiert. Beim nächsten Rastplatz wird gefeiert, Torte und Sahne, der Noam-Chomsky Feiertag samt Geschenke wird vorgezogen, die Kids sind entzückt über ihre Bowie Messer. Welch seltsamer Mix aus Idealismus, Verachtung für das Gesetz und bezaubernder Unschuld, Komödie und Tragödie.

“Opa und Oma sind faschistische Kapitalisten”, verkündet der Jüngste im Brustton der Überzeugung. “Weißt Du überhaupt, was ein Faschist ist?” fragt die ältere Schwester. “Gewalttätige nationalistische Militaristen unterstützt vom Großkapital und glühende Anhänger von Diktaturen”. Die sogenannten Normalbürger erscheinen nicht nur Bens Sprösslingen wie groteske Gestalten. In der Bank fragt eins der Kids entgeistert: “Was ist mit den Menschen los? Sind die krank? Die sind alle fett. Fett wie Nilpferde.” “Wir verspotten niemanden,” ermahnt der Vater. “Außer Christen”, ergänzt die Tochter. Auch Regisseur Ross bewahrt seine Protagonisten vor der Lächerlichkeit. Die Pointen werden nie als Waffe gegen sie gerichtet. Am Abendbrotstisch bei Verwandten kommt es zum Showdown der Wertvorstellungen. Nike kennen die beiden Söhne von Bens Schwester nur als Marke von Sportschuhen, für die Cash-Kinder ist es die Siegesgöttin der griechischen Mythologie. Hochkultur trifft auf Popkultur. Ben prahlt gern mit seiner intelligenten Rasselbande. Schon die Jüngsten können über die Bill of Rights plus Zusatzartikeln referieren, aber keiner von ihnen weiß, was es mit “Star Trek” auf sich hat. Bo, der Älteste (George MacKay) ist gleich von mehreren Elite-Unis angenommen worden. Doch seine Sozialkompetenz (social skills) lässt zu wünschen übrig, auf dem Zeltplatz macht er schon nach dem ersten Kuss seiner Angebeteten einen Heiratsantrag. Irgendwann erwacht sein Zorn auf den Vater: “Du hast uns zu Freaks gemacht”. Dass man ein Huhn nicht selber töten muss, um es zu braten, ist neu für die Kleinen. Und doch schlägt grade deshalb unser Herz für die Hinterwäldler, und nicht für die beiden Jungen, deren Interessen sich vorrangig um Computerspiele und iPhone drehen. Das mit den Unis hatte Bo übrigens nur seiner Mutter anvertraut.

Als Ben mit seinen Kindern die Kirche betritt, trägt er wieder jenen scheußlichen roten Anzug, den wir von dem Hochzeitsfoto her kennen und schon deshalb könnte man heulen. Ab jetzt wird es dramatisch. Für viele mag “Captain Fantastic” eine wilde phantastische Geschichte sein, völlig unvorstellbar, für Andere ist es ein Nostalgie-Trip, der sie an die Siebziger und Achtziger Jahre erinnert. Leslie und Ben waren wahrlich kein Einzelfall. Grandios als gescheiterter Weltverbesserer mit all seinen Widersprüchen: Viggo Mortensen (“The Two Faces of January”,“Herr der Ringe”), er steuerte viele Ideen und eigene Musik zum Film bei. Doch auch die Darsteller der Cash-Zöglinge sind einfach umwerfend, jedes der Kinder hat seine ganz eigene Geschichte und Entwicklung. Dafür hat Matt Ross als Schauspieler (“Aviator”,“American Psyco”) ein besonderes Gespür genau wie sein französischer Kameramann Stéphane Fontaine (“Rust and Bone”). “Captain Fantastic” (mit dem kläglichen Untertitel “Einmal Wildnis und zurück”) zeigt Amerika aus den unterschiedlichsten Perspektiven, und irgendwie sehnt man sich zurück an das Lagerfeuer, um noch einmal ganz ungestört “Die Brüder Karamasow” zu lesen. Der Regisseur und zweifache Vater soll übrigens daheim auch den Geburtstag von Noam Chomsky feiern.

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Originaltitel: Captain Fantastic    
Regie / Drehbuch: Matt Ross  
Darsteller: Viggo Mortensen, Frank Langella, George Mackay, Nicholas Hamilton, Annalise Bass, Shree Crooks, Samantha Isler, Charlie Shortwell
Produktionsland: USA, 2016  
Länge: 120 Minuten  
Verleih: Universum Film GmbH   
Kinostart: 18. August 2016  

Fotos & Trailer: Copyright Universum Film

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