Film

Mit „Mr. Holmes” ist ein zauberhafter elegischer und hintergründiger Film entstanden. Er basiert auf dem Roman von Mitch Cullin „A Slight Trick of the Mind” (2005). Das Drehbuch schrieb Jeffrey Hatcher („Die Herzogin”). US-Regisseur Bill Condon („The Twilight Saga: Breaking Dawn”) und der Brite Ian McKellen („Der Herr der Ringe”) hatten bereits 1998 zusammen „Gods and Monsters” gedreht. Auch jenes ungewöhnliche Biopic über James Whale schildert das Schicksal eines alternden Einzelgängers. Leinwand-Pionier Whale schuf mit „Frankenstein” (1931) und „Frankensteins Braut” (1935) Klassiker des Horrorfilms. Wegen seiner Homosexualität wurde der Regisseur von vielen Seiten angefeindet. 1957 beging er Selbstmord. Ian McKellen erhielt für seine schauspielerischen Leistungen in dem facettenreichen Künstlerporträt den Oscar in der Kategorie „Bester Hauptdarsteller“.

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Der kleine Roger hat seinen Vater im Krieg verloren, er verehrt Holmes und bewundert dessen unverändert brillante Kombinationsgabe. Nichts wünscht er sich sehnlicher, als so zu sein wie der einst gefeierte Detektiv. Der 11jährige hat durchaus Anlagen dazu, ist extrem aufgeweckt, schnüffelt gern und mit Erfolg herum zwischen den Unterlagen im Arbeitszimmer des Meisters. Sherlock Holmes weiht ihn ein in das analytisch-rationale Denken und in die Grundkenntnisse der Bienenzucht. Die Witwe Munro missbilligt die seltsame Freundschaft. Vielleicht verständlich, denn ihr gegenüber verhält sich der griesgrämige Arbeitgeber extrem rüde. Freundlichkeit im Umgang mit seinen Mitmenschen scheint ihm fremd zu sein. Ein Lob über den intelligenten Sohn kommt eher einer Beleidigung gleich: „Außergewöhnliche Kinder sind oft das Produkt wenig bemerkenswerter Eltern”. Auch die Fürsorge des Arztes quittiert er nur mit einem ärgerlichen Knurren. Der Detektiv vertraut allein auf den Gelee Royale seiner Bienen oder exotische Naturheilmittel. Er ist grade von einer beschwerlichen Reise aus Japan zurückgekehrt. Dort hat er einen Mann namens Tamaki Umezaki (Hiroyuki Sanada) getroffen, der ihm helfen sollte auf den noch schwelenden Hügeln Hiroshimas nach einer besonderen Pflanze zu suchen, dem japanischen Pfeffer. Der Zuschauer muss bald schon erfahren, dass die Markenzeichen des Detektivs, Pfeife, Deerstalker-Mütze und Cape, nur eine Erfindung des mittlerweile verstorbenen Dr. Watson waren. Der Freund und zeitweilige Mitbewohner hatte damit den Helden seiner Kriminalgeschichten ausstaffiert. Für solch triviale Literatur empfindet Holmes nur Verachtung, er hat die Stories grade zum ersten Mal gelesen. Ein Titel jedoch weckt sein Interesse. Der Fall Kelmot, er erzählt Rogen davon. Der betagte Gentleman will jetzt selber aufschreiben, wie sich alles in Wirklichkeit zugetragen hat. Jeder Satz wird eine fast unüberwindliche Hürde.

Mit großer Leichtigkeit und Eleganz gleitet der Film vor und zurück zwischen den Jahrzehnten, während Holmes jeder einzelne Schritt Mühe bereitet. Die drei Zeitebenen sind kunstvoll verschachtelt, bewusst ein wenig umständlich erzählt, so wie es vielleicht ältere Herren an sich haben, wenn sie ihre Erinnerungen wieder hervorkramen. Der Spannung tut es keinen Abbruch. Behutsam entfaltet der Mystery Thriller seine altmodische, leicht verstaubte Magie und wird mit jeder neuen Wendung ein bisschen komplizierter und raffinierter. Holmes glaubt zu entsinnen, dass es um einen gewissen Mr. Thomas Kelmot (Patrick Kennedy) ging, der sich um seine depressive Frau Ann (Hattie Morahan) sorgte. Der Ehemann erzählte von unsäglichem Leid, zwei Fehlgeburten, der gefährlichen Melancholie seiner Gattin. Das Erlernen eines Instruments sollte ihr neuen Lebensmut geben. Warum nur musste es eine Glasharmonika sein, der okkulte Kräfte zugeschrieben werden. Doch nun war Ann schon seit längerem nicht mehr zum Musikunterricht erschienen. Was trieb sie in diesen Stunden? Auch hinter der Gestalt des Japaners verbirgt sich ein tragisches Geheimnis, das es zu rekonstruieren gilt. Derweil qualifiziert sich Roger jeden Tag aufs Neue als vielversprechender Assistent des Meisterdetektivs. Seine Mutter will den Spinnereien ein Ende machen, sie hat in Portsmouth eine Stelle in Aussicht. Der Sohn soll etwas Vernünftiges lernen. Roger ist entsetzt. Holmes verspricht dem Jungen mit ihm schwimmen zu gehen, aber er vergisst es. Der Gedächtnisverlust nimmt zu, der Detektiv muss sich nun bereits Rogers Namen auf die Manschette des Hemdsärmels schreiben, eine seiner vielen kleinen trickreichen Erinnerungsstützen. Der Junge hat als Einziger die Fähigkeit, den alten Mann zu verstehen und wenn nötig auch zu verzeihen. Er will mehr von dem Fall Kelmot wissen.

Mitch Cullin schrieb den Roman, nachdem sein Vater an Demenz erkrankte. Sherlock Holmes als reale Figur darzustellen, knüpft an die Tradition von Conan Doyle an, eine in sich geschlossene, fiktive Welt zu erschaffen, die dabei so real erscheint, dass der berühmte Detektiv für eine historische Figur gehalten wird. Ian McKellen ist grandios als alternder Meisterdetektiv, der sich mit dem eigenen Mythos und seinem literarischen Abbild herumschlagen muss. Schon vor 30 Jahren nervte ihn der Rummel um seine Person. Er lebte deshalb nicht etwa in der Baker Street 221B, sondern gegenüber. Dies war die einzige Möglichkeit den amerikanischen Touristinnen zu entgehen, die in Scharen zu der legendären Adresse ihres Idols pilgerten. Nichts ist ihm peinlicher als der Anblick jenes Meisterdetektivs auf der Leinwand, verkörpert von einem seiner Ansicht nach lächerlichen Schauspieler. Das Gesicht McKellens mit seinen Furchen und Falten erzählt von Niederlagen, Einsamkeit, Erfolgen, Stolz, Erschöpfung, Schuldgefühlen und einem unerschütterlichen Willen. Er sehnt sich nach etwas, hat aber nicht die geringste Ahnung, was es sein könnte. Trotz seiner körperlichen Fragilität und dem schwindenden Erinnerungsvermögen strahlt Holmes eine ungeheure Würde aus. Der 76jährige spielt den jüngeren wie auch den sehr viel älteren Protagonisten gleichermaßen bravourös. Es geht weniger um das Geheimnis des Japaners oder das Rätsel des Glasharmoniums sondern um Sherlock Holmes selbst. Wer ist der Meisterdetektiv, wenn er seine überragende Kombinationsgabe verliert? „Wer sind sind wir”, fragt Regisseur Bill Condon, “wenn uns im letzten Stadium unseres Lebens die Qualitäten abhandenkommen, die uns Zeit unseres Lebens ausgezeichnet haben?”

Während der Detektiv verzweifelt gegen den Gedächtnisverlust anschreibt, um sein letztes großes Geheimnis zu enthüllen, ereignet sich eine Tragödie, die alles andere überschattet. Nun muss Holmes beweisen, dass sein Verstand immer noch scharf genug ist. Es geht um Leben und Tod. Bisher zählten für den mürrischen Misanthropen allein Logik und Fakten. Gefühlen oder Phantasie maß er wenig Bedeutung zu, Freundlichkeit konnte seiner Ansicht nach nur „eine Notlüge” sein. Doch am Ende ist es, „als würde sich ein bestimmter Teil seiner Persönlichkeit für immer verabschieden, dabei aber eine Seite öffnen, die komplett unentwickelt war: seine Fähigkeit zur Zuneigung, zur Vorstellungskraft und Güte”, erklärt Bill Condon. Der Protagonist erkennt zum ersten Mal auch den Zauber der Kreativität, den Wert einer Geschichte, und der Zuschauer begreift, dass Fiktion die Grenze der Logik sein kann. Ein berührender, aber wundervoll unsentimentaler Thriller, denn alles andere hätte der Meisterdetektiv auch nicht geduldet.

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Originaltitel: Mr. Holmes
Regie: Bill Condon
Darsteller: Ian McKellen, Laura Linney, Milo Parker
Produktionsland: Großbritannien, USA, 2015
Länge: 104 Minuten
Filmverleih: Alamode
Kinostart: 24. Dezember 2015

Fotos & Trailer: Copyright Alamode Film