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Film

China 1967, während der Kulturrevolution werden der Student Chen Zhen (Shaofeng Feng) und sein Freund Yang Ke (Shawn Dou) in die Innere Mongolei geschickt, um den Nomaden Chinesisch beizubringen. Vom ersten Tag an fasziniert Chen die archaische majestätische Landschaft und der unbezähmbare Freiheitswille der Menschen. Seine Leidenschaft aber sind die Wölfe. Der einst verträumte Junge aus der Großstadt jagt schon bald auf seinem Pferd in wildem Galopp über das unermessliche Grasland und geht mit den Schafhirten auf die Jagd. Bilig, der Stammesälteste (Basen Zhabu) weiht ihn die Geheimnisse seiner Kultur ein, doch Chen trifft dessen ungeachtet eine unheilvolle Entscheidung.

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Der Film basiert auf dem zum Teil autobiographischen Roman des chinesischen Schriftstellers Lü Jiamin „Der Zorn der Wölfe”. 1967 meldete sich der junge Intellektuelle freiwillig zum Arbeitseinsatz in der Mongolei und lebte dort die nächsten elf Jahre. Die sprachgewaltige 700-Seiten Erzählung des damaligen Pekinger Politikprofessors erschien 2004 unter dem Pseudonym Jiang Róng. Sie löste heftige Debatten aus und hatte einen überwältigenden Erfolg. Kein Buch in China außer der „Mao-Bibel“ erreichte je eine solche hohe Auflage. Das Thema Umweltzerstörung war kein Tabu mehr für die Volksrepublik. Das Drehbuch schrieb der 72jährige Regisseur („Der Name der Rose”, 1986) zusammen mit Lu Wie und John Collee.

Die Mongolen verehren den Wolf, für sie ist das stolze gefährliche Raubtier nicht nur Konkurrent sondern auch Vorbild, Ahne, Kriegsgott und Bewahrer ihrer Lebensgrundlage. Tengri, der Himmelsherrscher, wache über Menschen wie Tiere gleichermaßen, erklärt Bilig dem Neuling. Zusammen beobachten die beiden aus der Ferne ein Wolfsrudel bei der Gazellenjagd. Monatelang haben die Wölfe auf diesen Moment gewartet. Auch Dschingis Khan, so die Überlieferung, hat von den Angriffstaktiken der hochintelligenten Raubtiere gelernt und mit nur wenigen Kriegern ein Weltreich geschaffen. Die Wölfe treiben die Gazellen auf ihrer Verfolgungsjagd in einen vereisten See. Wie Tiefkühlfleisch lagern sie dort ihre Beute für den Frühling, wenn die Welpen aufgezogen werden. In genau diesen See trieb auch der mongolische Feldherr seine chinesischen Gegner. Der Stammesälteste lehrt Chen, dass die Wölfe es sind, die das Gleichgewicht der Natur garantieren. Ohne sie würden die Gazellen sonst zu viel Gras fressen und das Weideland der Schafe zerstören. Chen ist immer wieder von der Weisheit des alten Mannes beeindruckt. Am Tag darauf brechen die Nomaden zum See auf und nehmen sich einen Teil der Beute. Sie achten darauf, den Wölfen genug Vorräte zu lassen, denn hungrig wären sie eine Gefahr für die Schafe. Doch die im Ort ansässigen Chinesen erfahren von den toten Gazellen im See und holen sich das restliche Fleisch. Die Einwände der Hirten ignorieren sie.

Die eigentlichen Stars auf der Leinwand sind die Tiere, um sie dreht sich der Film. Aber sie beanspruchen nicht die ungeteilte Aufmerksamkeit wie die Protagonisten in „Der Bär” (1998) oder „Zwei Brüder (2004). „Der letzte Wolf” ist eine etwas betuliche Mischung aus Abenteuersaga, sentimentaler Lovestory, Politdrama und Systemkritik. Manchmal verzaubert es wie ein lyrisches Märchen, und wenig später schon ist es erschütternd wie ein blutiges Kriegsepos. Es geht um den Überlebenskampf nicht nur der Menschen oder Wölfe sondern einer ganzen Region. Die Innere Mongolei mit ihren smaragdgrünen Hügeln, unwegsamen Felsen und einem endlos scheinenden blauen Himmel ist von überwältigender Schönheit. Kulturen prallen aufeinander genauso unversöhnlich wie Gegenwart und Vergangenheit. Hier trifft Machthunger auf Tradition, Profitgier auf Spiritualität und Maos Kommunismus auf den Glauben an einen Himmelsgott. Jiang Rong trug das Material von 25 Jahren intensiver Recherche zusammen. Sechs Jahre arbeitete er wie besessen an dem Buch, das im Vorwort definiert wird als “Roman, anthropologischer Forschungsbericht, Naturstudie, Lehrstück und politischer Aufruhr”. Mit ästhetischer Bravour verbindet Oscar-Preisträger Jean-Jacques Annaud Fiktion und Realität zu einer Parabel über das ökologische Gleichgewicht, die Zukunft unserer Welt. Er wechselt zwischen epischer Opulenz und großer Intimität, Zärtlichkeit und Grausamkeit, Distanz und Nähe. Kameramann Jean Marie Dreujou („Black Gold”, 2011) lässt den Zuschauer die Ehrfurcht spüren, die Protagonist wie auch Regisseur für die Innere Mongolei empfinden. Jedes Detail hat seine unverwechselbare Struktur und Magie, das seidenweiche Fell des Wolfsjungen, die Innenwand des Zelts, das Gewebe von Chens schwerem Mantel, die Oberfläche des gefrorenen Sees.

Der Parteifunktionär vor Ort, Direktor Bao (Yin Zhusheng) übermittelt den Befehl aus Peking, im Frühjahr alle Wolfswelpen zu töten. Bao hat die Verantwortung für eine riesige Herde chinesischer Militärpferde übernommen, sie sind der Stolz der Nation, erklärt er den Nomaden. Biligs Brigade soll sich um die Tiere kümmern. Sein Sohn Batu (Baoyingexige) wird zum Leiter ernannt. Der Film beschönigt nichts, er zeigt die Brutalität von Mensch und Tier. Die Hirten packen die winzigen Welpen am Schwanz, wirbeln sie durch die Luft und vertrauen sie der Obhut Tengris an. Dem entsetzten Chen gelingt es eines der Wolfsjungen zu retten. Heimlich zieht er es inmitten der Schafsherden auf, ohne an die Konsequenzen zu denken. Kurze Zeit später schlägt das Wolfsrudel zurück. Der Stammesälteste hatte deren Rache vorausgesagt. Die Wölfe greifen nachts während eines schweren Schneesturms die chinesischen Reitpferde an. Verzweifelt versuchen die Mongolen, die in Panik geratenen Tiere in Sicherheit zu bringen. Batu kommt dabei ums Leben. Die Pferde sterben einen grausamen Tod. Ihre Körper erstarren im Todeskampf zu Skulpturen aus Eis. Der Parteifunktionär rast vor Wut, er sieht seine Karriere gefährdet. Chen lernt ein neues Gesetz des Graslandes: Biligs Sohn wird nicht beerdigt, sondern nur mit einem Leinentuch bedeckt beigesetzt. Die Mongolen, die von Fleisch leben, geben es so der Natur zurück. Wölfe gelten als Überbringer der Seele an den Himmelsgott Tengri.

Wegen seines Films „Sieben Jahre in Tibet” (1997) war der französische Regisseur einst bei den Chinesen in Ungnade gefallen, „Der Liebhaber” (1992) ist in der Volksrepublik noch immer verboten, aber für „Der Letzte Wolf” waren die Arbeitsbedingungen optimal, das Budget betrug rund 40 Millionen Dollar, eine erhebliche Summe für eine Produktion im Reich der Mitte. „Die chinesische Kinoindustrie ist bestrebt ein anderes Niveau zu erreichen”, erklärt Jean-Jacques Annaud. Ihn erinnert es an die Situation während der Sechziger Jahre in Italien, die Zeit der Spaghetti-Western und Sandalenfilme, wo unabhängig von den Billigproduktionen Regisseure wie Michelangelo Antonioni oder Federico Fellini künstlerisch überragende Filme schufen. Annauds Truppe umfasste 480 Techniker, 200 Pferde, etwa 1.000 Schafe und 50 weitere Mitarbeiter, darunter Tiertrainer, Betreuer und Security. Für die Unterbringung der Wölfe wurden fünf Camps errichtet. Hinzu kamen spezielle LKWs um sie von einem Drehort zum anderen zu bringen. Wölfe leiden wie alle wilden Tiere, so der Regisseur, unter Stress, wenn man sie mehr als 20 Kilometer transportiert. Jedes der über einen Hektar großen Camps befand sich in der Nähe zu einem Drehort, abgeschirmt durch einen vier Meter hohen Holzzaun und einen anderthalb Meter tiefen Graben. Drei Jahre dauerten die Vorarbeiten, bis die erste Klappe fiel.

Als der Welpe eines Abends in der Ferne die Wölfe heulen hört, versucht der Kleine es ihnen gleich zu tun. Damit bringt er alle in Gefahr. Chens Geheimnis wird entdeckt. Mit einem Mao-Zitat „Studiere Deine Feinde, um sie danach besser vernichten zu können”, besänftigt er den Parteifunktionär. Chen gibt vor, dass er den Wolf mit einem Hund kreuzen will, um so später die Schafsherden besser schützen zu können. Der Direktor erlaubt dem Studenten, den Welpen zu behalten. Das erbost den alten Bilig, er sieht die Tradition und das Gleichgewicht der Natur in Gefahr: „Du hast etwas Göttliches zu einem Sklaven gemacht”, wirft er dem Jungen vor. Auch Gasma, die junge Witwe (Ankhnyam Ragchaa), die nach dem Tode Batus allein mit ihrem Sohn lebt, geht auf Distanz zu Chen, der sich längst in sie verliebt hat. Immer mehr Siedler aus China drängen in die unberührte Region und beuten die Ressourcen rücksichtslos aus. Ungeachtet dessen zieht Chen liebevoll weiter den kleinen Wolf auf. Seine Nachbarn beobachten es mit Argwohn. Der junge Chinese, der sich den Mongolen und ihren spirituellen Wurzeln verbunden fühlt, muss sich entscheiden. Soll er seinen Wolf weiter in der Gefangenschaft aufziehen oder in die Freiheit entlassen? Plötzlich überschlagen sich die Ereignisse. Gasmas Sohn schwebt in Lebensgefahr, Chen versucht ihn zu retten, es wird ein Wettlauf gegen die Zeit. Ihres natürlichen Lebensraumes beraubt, greifen die ausgehungerten Wölfe die Siedlungen der Menschen an. Sie haben den Raub ihrer Beute und das Töten der Welpen nicht verziehen.

Der in Schottland lebende Tiertrainer Andrew Simpson zog für den Film drei Jahre nach China. Er suchte im ganzen Land nach geeigneten Tieren, wählte 16 aus und verbrachte von nun an jeden Tag mit den Wölfen. „Man muss ihnen viel Zeit geben und sie erst aufziehen, bevor man anfängt sie abzurichten. Es geht immer um Vertrauen und darum, ein Verhältnis voller Zuneigung zu etablieren”, sagt Simpson. Einen Wolf kann man nicht mit Druck oder Angst manipulieren, er lässt sich auch nicht mit einem Ball oder einer Belohnung ködern. Er ist unbestechlich. Der Regisseur wollte vor allem, dass die Wölfe vor der Kamera natürlich reagieren wie im eigenen Revier, sie sollten ihre Eigenständigkeit nicht verlieren. Deshalb wurde das Wolfsrudel aufgezogen, ohne dass ein Mensch sie berührte. Es war die Unabhängigkeit der Wölfe, die der chinesische Autor Jiang Róng so bewunderte und mit den Nomaden verglich. Seine These von den Han-Chinesen, die Stabilität bevorzugen und zufrieden sind mit der Rolle des gehorsamen Untertanen, weil ihre Vorfahren sesshafte Bauern waren, stieß zuweilen auf harsche Kritik. Den Vergleich mit Schafen fanden manche Leser wenig schmeichelhaft, was nichts an dem Erfolg des Romans änderte. Der Schriftsteller selbst hat trotz seiner Herkunft wenig von einem widerspruchslosen Bürger. Als das Militär am 4. Juni 1989 die Studentenrevolution blutig niederschlug, kam Jiang Róng als Konterrevolutionär für anderthalb Jahre ins Gefängnis. Er hatte mit den Studenten demonstriert. Das Buch endet im Gegensatz zum Film 2002 mit einem Telefonanruf, den Chen in Peking erhält. Dort, wo er jene unvergesslichen elf Jahre verbracht hatte, sind achtzig Prozent des Graslandes zu Sandwüste geworden. In einem Jahr soll die Viehzucht umgestellt werden, Rinder und Schafe werden nicht mehr auf die Weiden gebracht, sondern im Stall gehalten. In Peking wütet ein Sturm, am helllichten Tag wird der Himmel dunkel, die chinesische Hauptstadt, in der einst der Kaiser residierte, verschwindet unter einem gelben Schleier von pulverfeinen, beißendem Staub. „Sind die Wölfe verschwunden, hat das Grasland seine Seele ausgehaucht,” heißt es im Roman.

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Originaltitel: Le Dernier Loup
Regie: Jean-Jacques Annaud
Darsteller: Shaofeng Feng, Shawn Dou, Basen Zhabu, Yin Zhusheng, Ankhnyam Ragchaa
Produktionsland: China, Frankreich, 2015
Länge: 119 Minuten
Verleih: Wild Bunch Germany
Kinostart: 29. Oktober 2015

Fotos & Trailer: Copyright Wild Bunch German

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