Film

Im Frühjahr 2012 wurde unerwartet Raf Simons zum Chefdesigner von Dior und somit auch der Haute Couture ernannt. Viele bezweifelten seine Eignung zum Creative Director. Er galt als Minimalist, war bekannt durch seine Männerkollektionen und die Arbeit bei Jil Sander, alles Pret-à-porter, puristisch, dunkle Farben, schmale Silhouetten. Würde der Belgier dem Druck des Erbes von Dior standhalten? Für die kommende Kollektion hat er nicht die üblichen sechs Monate Zeit, sondern nur zwei. Da steht er nun zum ersten Mal in dem legendären Pariser Modehaus, 30 Avenue de Montaigne, vor seinen Mitarbeitern. Schüchtern, schlaksig, mit jener Andeutung eines verlegenen Lächelns, als wenn auch er an allem zweifelte, sogar sich selbst. Französisch spricht er kaum, er sagt nur ein paar Worte.

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Der Zuschauer spürt die Unsicherheit, das Unbehagen auf beiden Seiten. Manche der Schneiderinnen arbeiten hier schon vierzig Jahre. Der unrühmliche Weggang John Gallianos 2011 war für alle Beteiligten ein schwerer Schlag. Dem britischen Chefdesigner wurde nach antisemitischen Äußerungen gekündigt. Und so beäugt man sich anfangs noch ein wenig argwöhnisch und ängstlich, trotzdem fest entschlossen, ohne Vorbehalte sein Bestes zugeben. Das ist man dem Hause Dior schuldig.

Die Herzen im Sturm erobert dagegen Pieter Mulier, Raf Simons’ langjähriger Mitarbeiter und rechte Hand. Er ist der heimliche Star des Films. Sofort findet er den richtigen Ton, eine amüsante Mischung aus Charme, Respekt, Humor, ehrlicher Bewunderung. Florence Chehet wie auch Monique Bailly, die Leiterinnen der Abteilung Flou (Kleider) und Tailleur (Anzüge), gehen bereitwillig auf sein Spiel ein. Jener ironische Flirt zwischen dem Newcomer und den Altgedienten überbrückt die Spannung. Die beiden Älteren bedauern zutiefst, dass ihr neuer Schwarm schon vergeben ist, einen Boyfriend hat. Das Eis ist gebrochen, die Arbeit kann beginnen. Pieter ist der Mediator zwischen dem Atelier und Raf Simons. Durch ihn begreift auch der Zuschauer, was sich hinter dem scheinbar halbherzigen, etwas schiefen Lächeln des Chefdesigners verbirgt. Nie zuvor durfte ein Filmteam die Arbeit im Modehaus Dior derart hautnah begleiten. Raf Simons hatte bei der ersten Anfrage Fréderic Tchengs abgelehnt. Der sogenannte Blick hinter die Kulisse ist heute oft nur noch eine billige Schmierenkomödie, dafür sorgten in Deutschland RTL und Sat 1, Amerika hat vorgemacht, wie es funktioniert. Da wird jedes menschliche Schicksal zur wohlfeilen Ware so echt wie ein gefälschtes Markenprodukt aber weniger überzeugend. Begierig darauf im Rampenlicht zu stehen, wird der Betroffene zum Statisten seines eigenen Lebens degradiert, ob Dinnerparty, Insolvenz, Partnersuche, Ehezwist oder Hauskauf. Die Kamera ist immer dabei.

Verständlich, dass jemand mit der Hypersensibilität eines Raf Simons’ zögerte, bevor er seine Einwilligung gab. 65 Jahre zuvor, 1947 hatte Christian Dior hier einen triumphalen Einstand mit seiner New Look-Kollektion, einem Hommage an die Weiblichkeit. Vorbei die Zeiten modischer Tristesse und karger Budgets: Figurbetonte Oberteile, schmale Taillen, ausladende Röcke, stoffreiche elegante Kleider. Der Weltruhm kam über Nacht. Dior wird zum Synonym für Stil. Der Designer war sehr scheu, er beschränkte seinen Umgang auf wenige Freunde und mied die Öffentlichkeit. Ein Jahr vor seinem Tod erschienen seine Memoiren. Er schildert dort seine gespaltenen Empfindungen gegenüber dem erfolgreichen Image: „Dieser siamesische Zwilling ist mir immer einen Schritt voraus, seit ich Christian Dior geworden bin. Mit ihm habe ich noch ein Hühnchen zu rupfen”. Die von ihm geschaffene Welt lebt weiter in den Ateliers, nicht nur in den Porträts an den Wänden oder weil sein Geist angeblich nachts durch die Korridore huscht. Er prägte die Mode wie kaum ein anderer Couturier seiner Zeit. Raf Simons will mit seiner ersten Kollektion den frühen Dior in die Gegenwart übersetzen. Was nun geschieht ist frappierend. Vor den Augen des Zuschauers entsteht Schritt für Schritt ein Kunstwerk. Da wird ein langes voluminöses Kleid radikal gekürzt. Die Schulter-Polster verschwinden. Das 21. Jahrhundert wird sichtbar und trotzdem bleibt es eine Kreation ganz in der Tradition des Hauses Dior. Ein Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

Raf Simons stöbert in den Archiven. Er entdeckt eine 60 Jahre alte Webtechnik namens Imprimé Chaine, bei der der Faden bedruckt wird, bevor er gewebt wird. Nun will er die abstrakten Bilder des amerikanischen Malers Sterling Ruby für seine Stoffe übernehmen. Die Stoffdesigner haben allerdings noch nie Drucke dieser Größenordnung hergestellt, unter dem extremen Zeitdruck stellt der Auftrag selbst für die erfahrensten Fachleute eine erhebliche Herausforderung dar. Die Schneiderinnen, sie werden mit „meine Damen” angeredet, obwohl auch Männer unter ihnen sind, arbeiten alle fieberhaft an den ersten Entwürfen. Jeder darf das Stück wählen, was ihn persönlich am meisten anspricht. Es braucht Hingabe, Phantasie, eine ungeheure Disziplin und Erfahrung, um jene Ideen Realität werden zu lassen, zu spüren, was dem Meister vorschwebt, aber auch die eigene Kreativität mit einzubringen. Tcheng („Diana Vreeland: The eye has to travel”) gelingt es, die Kamera Teil des Teams werden zu lassen, als wäre sie ein umgänglicher Kollege, dem man vertraut, nebenbei gern ein wenig plauscht. Die Nervosität wird mit Süßigkeiten bekämpft. Kollisionen sind unvermeidlich, Raf Simons will nicht begreifen, warum Florence Chehet grade jetzt zu einer Kundin nach New York fliegt, weil ein Kleid geändert werden muss. In diesem Preissegment ist das eine Selbstverständlichkeit. Die Spannung wächst und mit ihr die Angst, den Zeitplan nicht einhalten zu können, aber zugleich auch die Bewunderung für den neuen Chefdesigner.

Les petites mains heißen die Näherinnen im Branchenjargon. Sie haben jenen unwiderstehlichen französischen Charme, sind von verblüffender Offenheit und sehr selbstbewusst. Sie wissen, sie gehören zu einer Elite, den Besten. Ihre witzige intelligente Art lässt den Kosmos aus Stoffen, Mustern, Farben zu einer magischen Landschaft werden, die sonst der unkundige Betrachter keines Blickes gewürdigt hätte. Es herrscht eine strenge Hierarchie hier, doch was sie von der heutigen Klassengesellschaft unterscheidet, ist der Respekt für einander. Die Achtung vor der Professionalität des Gegenübers, Talent, Fleiß, Hingabe. In diesem Moment ist jeder unersetzlich. Es ist ein gemeinsamer Kampf und zugleich auch so etwas wie eine Liebesgeschichte. Es braucht Leidenschaft für diesen Beruf. Viele Worte werden nicht gemacht. Die Emotionen spiegeln sich in den Gesichtern. Am Ende, wenn der Beifall braust, fest steht, diese Kollektion ist ein großer Erfolg, bricht Raf Simons in Tränen aus, er, der stets distanziert Kühle weint bitterlich, will sich eigentlich nur verstecken vor dem Blitzlichtgewitter. „Vielleicht raubt uns die Kamera tatsächlich die Seele,” schreibt Fréderic Tcheng in der Director’s Note. Die Scheu des Designers, der sich so wenig zum Star eignet, obwohl er doch einer ist, wird das eigentliche Thema des Films. Simons gesteht am Anfang, dass er mit der Lektüre von Diors Memoiren begonnen hat, aber nicht weiterlesen konnte, weil ihm die Parallelen zu seiner Person zu unheimlich erschienen. Den Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart nimmt Fréderic Tcheng immer wieder auf, umgibt die Archivbilder mit einer geisterhaften Atmosphäre und den Kompositionen von Ha-Yang Kim. Aus dem Off kommentiert Christian Diors Stimme (Omar Berrada) die Entwürfe und später auch Raf Simons Erfahrungen. Die zeitlichen Ebenen lassen sich nicht mehr trennen.

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Originaltitel: Dior and I
Regie/Drehbuch: Frédéric Tcheng
Mit Ralf Simons, Pieter Mulier, Jennifer Lawrence, Marion Cotillard, Sharon Stone
Produktionsland: Frankreich, 2014
Länge: 86 Minuten
Verleih: NFP marketing & distribution
Kinostart: 25. Juni 2015

Fotos & Trailer: Copyright NFP marketing & distribution