Film

„I Killed My Mother” hieß der erste Film des damals 19jährigen kanadischen Regisseurs, er spielte selbst die Hauptrolle, das Drehbuch hatte er mit 17 geschrieben. Für die einen war er ein Enfant Terrible, für die anderen ein Wunderkind. Heute ist Xavier Dolan 25, „Mommy” sein fünfter Film und eines der faszinierendsten Kinoereignisse dieses Jahres. Vielleicht will der Regisseur auch Abbitte tun für sein Jugendwerk, das teilweise biographisch ist und wahrlich kein Kompliment an die Mutter. Er möchte sie nach eigenen Worten „rächen”, aus der nörgelig pubertären Krise wird hier eine existenzielle.

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Der Film ist angesiedelt in der nahen Zukunft, einem fiktiven Kanada im Jahr 2015. Ein neues Gesetz autorisiert Eltern, psychisch gestörte Kinder ohne richterliche oder amtsärztliche Verfügung in ein staatliches Heim einweisen zu können. Doch Diane hat entschieden, der Fünfzehnjährige soll bei ihr zuhause leben. Keine Schule duldet ihn, also wird sie ihn selbst unterrichten. Steve ist begeistert, explodiert fast vor Enthusiasmus, ein eigenes Zimmer, er kann sein Glück kaum fassen. Der Vater ist vor wenigen Jahren gestorben. Diane, „Die” genannt, versucht mit Putz-Jobs über die Runden zu kommen, lieber würde sie Kinderbücher übersetzen. Sie, Mitte 40, kleidet sich wie ein Teenager, trinkt Unmengen von Whisky, raucht Unmenge von Zigaretten und macht einen auf sexy. Um Missverständnissen vorzubeugen, dies ist kein bedrückendes Sozialdrama, im Gegenteil. Nichts liegt Dolan ferner als trister Realismus. Er nähert sich durch Stilisierung der Wahrheit an, erreicht so seine besondere Form der Authentizität. Über „Loser” würde er nie berichten, darin sehe er keinen Sinn, sagt er. Diese beiden Protagonisten des Prekariats vibrieren vor Energie, sie funktionieren das Leben zur Bühne einer Talent-Show um: singen, tanzen, toben, brüllen sich an. Jeder Tag ist eine permanenter Kampf gegeneinander und den Rest der Welt. Aber sie haben ihre Träume. Manchmal lässt Dolan für einen Moment die Fantasie Wirklichkeit werden. Steve will ans „Juilliard“, jenes legendäre Performing Arts Conservatory und Diane, die möchte nichts lieber, als dass aus ihm ein ganz normaler Junge wird, der irgendwann ein zauberhaftes Mädchen heiratet.

Stattdessen gebärdet sich Steve wie ein cooler Nachwuchsgangster. Er verschreckt voller Vergnügen alte Damen mit seinen obszönen Gesten, verliert immer wieder die Kontrolle. Sein Bewegungsdrang ist unbändig, er schreit, flucht, flippt aus, schlägt zu. Inzestiöse Zärtlichkeit wechselt mit Hass. „Miststück, Schlampe,” brüllt er Diane an. Als sie ihn verdächtig, die Kette, die er ihr schenken will, gestohlen zu haben, geht er ihr an die Kehle. Und doch spürt der Zuschauer, wie misstrauisch, verletzlich Steve ist, der fürchtet nichts mehr als den Verlust der mütterlichen Liebe. Trotzdem will er nicht den braven Sohn mimen, sondern spielt sich zum Patriarchen auf. Die Mutter muss ihn jedes Mal mit Gewalt in die Realität zurückholen. Steve nimmt das Häuschen am Stadtrand wie eine Festung in Beschlag. Er ist immer auf der Suche nach Erinnerungsstücken an den Vater. Dessen Mixtapes mit Céline Dion, Counting Crows, Sarah McLachan und Dido werden zum Soundtrack von „Mommy”. Oasis erklingt: „I said maybe / You’re going to be the one that saves me. / You are my wonderwall.” Der ganze Film schreit nach Erlösung. Manche Kritiker ergriff ein Schauder ob so viel Kitsch und Britpop. Doch hier sind die Songs der Neunziger perfekt als Form der Interaktion oder Projektionsfläche, organisch eingebunden in diesen Vorstadtkosmos. Nur auf diese Art können die beiden Protagonisten (und Millionen Anderer) ihre oft recht freudlose Gegenwart verdrängen. Aber Mommy ist kein wonderwall, kein Zauberwesen. Sie ist völlig überfordert von diesem Sohn und seinen ihr unbegreiflichen Reaktionen und Ausbrüchen. Er selbst verzweifelt daran: „In meinem Kopf ist es so dunkel wie im Arsch eines Negers”. Trotzdem geschieht das eigentlich Unerklärliche, irgendwann beginnen auch wir den Jungen zu lieben. Dem Charme dieses oft so aggressiven manchmal engelsgleichen Monsters ist nur schwer zu widerstehen. Wenn Steve mit dem Einkaufswagen wie ein Wahnwitziger um die eigene Achse wirbelt, wünschen wir uns plötzlich von ganzem Herzen, dass er gerettet wird.

Xavier Dolan und sein Kameramann André Turpin sperren die Akteure in ein fast quadratisches Leinwandformat 5:4. Es gibt kaum eine krassere Metapher für Ausweglosigkeit und Isolation. Diane ist stark, mutig, frech, furchtlos, nur sie weiß nicht, wie sie den Jungen retten kann. Der Mutter Courage fehlt es an Alternativen. So pendelt sie zwischen Verständnis und Härte, Hoffnung und Verzweiflung, Verantwortungsbewusstsein und törichtem Leichtsinn. Sie schweigt, schreit, flucht, es nützt alles nichts. Nachvollziehbar, dass sie sich manchmal nach Sicherheit sehnt, der Zukunft an der Seite eines Mannes, der sie beschützt. Eine Schadensersatzklage, Folge von Steves brutaler Zerstörungswut, wirft sie fast aus der Bahn. Misstrauisch beäugt Steve den Verehrer der Mutter, einen freundlichen Juristen aus der Nachbarschaft, der angeboten hat, sie bei dem Prozess zu vertreten. Ein gemeinsamer Besuch in einer Karaoke- Bar endet als Desaster. Während Diane verkrampft mit dem Advokaten flirtet (ihr fehlt das Geld für einen Anwalt), macht sich Steve mit selbstzerstörerischer Entschlossenheit zum Gespött des Publikums, als er Andrea Bocellis Song „Vivo per lei” zu singen beginnt. Eine Liebeserklärung an seine Mutter und eine Warnung an jeden Mann, der sich zwischen sie beide drängen will. Es kommt zu seiner gewalttätigen Auseinandersetzung. Diane begreift, dass sie eine Entscheidung treffen muss.

Der einzig wirkliche Lichtblick in diesem Dasein: Kyla (Suzanne Clément), die neue Nachbarin von drüben, eine Lehrerin. Sie ist in allem das absolute Gegenteil der aufgedrehten, resoluten Diane, scheu, unauffällig. Sie stottert, bekommt kaum ein Wort heraus. Ein Trauma hat sie vor kurzem schwer verstört, die Einzelheiten verschweigt sie, in ihrem Beruf kann sie nicht mehr arbeiten. Hier bei Diane und Steve wird sie akzeptiert, wie sie ist und findet so sie ihre Sprache wieder Es entsteht ein harmonisches Triumvirat der Außenseiter. Kyla übernimmt den Unterricht von Steve, damit die Freundin arbeiten gehen kann. „Mommy” setzt sich zusammen aus unzähligen Momentaufnehmen, immer neuen Perspektiven, mal ins Slow Motion, dann in gleißendem Sonnenlicht. Einer der Höhepunkte des Films ein Ausflug zu dritt, die beiden Frauen auf dem Rad, der Junge auf dem Longboard. So kann Glück aussehen. Steve breitet die Arme aus, schiebt mit beiden Händen das hochkantige Format der Leinwand zur Widescreen auseinander. Nicht für lange, dann wird auch diese Hoffnung zerstört. Das Finale ist unerwartet wie herzzerreißend. Zum ersten Mal kommt Melodramatik zum Einsatz. Die Kritiker sind sich einig, Xavier Dolan ist ein Meisterwerk gelungen, behutsam, radikal, zärtlich, brutal, immer wieder verblüffend. Dieser Film ist mit nichts vergleichbar, was wir sonst im Kino erleben. Bei „I Killed My Mother” war der Einfluss spürbar von Francois Truffaut wie Wong Kar-wai, „Mommy” ist in seiner Art einzigartig. Anne Dorval grandios als Die, diese lachende, fluchende, tapfere Einzelkämpferin der Unterschicht, die am Ende eine fürchterliche Entscheidung treffen muss. Sie verkörperte schon in Dolans Debütfilm die Mutter, zwei Frauenrollen, die nicht gegensätzlicher sein könnten, allein das ein genialer Einfall. Und Antoine-Olivier Pilon ist umwerfend. Der Film wurde selbst in Cannes auf Französisch mit Untertiteln gezeigt. Der Slang ist so extrem, dass er nur dort verstanden wird, wo auch er auch gesprochen wird. Und auch dieses Mal tritt Xavier Delon nicht nur als Regisseur, Autor, Produzent an, sondern auch als Cutter und Kostümdesigner.

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Originaltitel: Mommy
Regie/Buch: Xavier Dolan
Darsteller: Antoine-Olivier Pilon, Anne Dorval, Suzanne Clément
Produktionsland: Kanada, 2014, Länge: 138 Minuten
Verleih: Weltkino Filmverleih
Kinostart: 13. November 2014

Fotos & Trailer: Copyright Weltkino Filmverleih