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Film


Voller Gegensätze und Widersprüche wie der Protagonist selbst. Es schildert eine Gesellschaft im Umbruch, den Einfluss von französischer Revolution und beginnender Industrialisierung. Mike Leigh, Mitbegründer des New British Cinema als Antwort auf die Thatcher-Ära, erfüllte sich damit einen Lebenstraum. Der sozialkritische Autorenfilmer wurde für „Lügen und Geheimnisse” (1996) mit der Goldenen Palme ausgezeichnet und für „Vera Drake” (2004) mit dem Goldenen Löwen. Aber wann immer er bei Dreharbeiten in einen grauen Wolkenhimmel starrte, dachte er daran, wie sehr er diesen Film über Turner machen wollte. Er versucht nicht den Werdegang des Künstlers linear zu erzählen, was manch traditionelles Biopic schon zu tödlicher Langweile verdammt hat, sondern greift einzelne, entscheidende Momente heraus.

 

1826, irgendwo in Belgien. Sonnendurchflutetes Grün, zwei schwatzende Bäuerinnen, in der Ferne eine Windmühle, William Turner (Timothy Spall) eine kuriose unförmige Gestalt, die sich gegen den Horizont abhebt. Wie ein Besessener zeichnet er in sein kleines Notizbuch. Schon während der ersten Szenen wird die magische Verbindung spürbar zwischen ihm und der Landschaft, dem Himmel, dessen Licht und Farben. Turner ‘erwandert’ sich seine Bilder und Sujets, erinnert dabei mehr an einen Handwerksgesellen als an ein renommiertes Mitglied der Royal Academy. Er ist ständig auf Reisen, riskiert alles, er will dem Phänomen der Wahrnehmung auf die Spur kommen. Und wenn er sich dafür auf dem Meer mitten im eisigen Schneesturm an einen Schiffsmast binden lässt, um das Unwetter so authentisch wie nur möglich malen zu können. Daheim im Londoner Domizil kümmern sich sein Vater (Paul Jesson) und die verhuschte Haushälterin Dorothy (Dorothy Atkinson) rührend um den kauzigen, eigenbrötlerischen Maler. Soziale Konventionen scheren den wenig. Der Besuch der einstigen Geliebten Sarah (Ruth Sheen) und der beiden illegitimen Töchter ist ihm ein Gräuel, aus seiner Abneigung macht er kein Hehl. Gelegentlich greift Turner sich die unansehnliche Dorothy, presst sie gegen das Bücherregal und nimmt sie von hinten. Ein seltsam lustloser Vorgang, der nur wenige Momente andauert. Was ihn von der Arbeit ablenkt, missfällt ihm. Er knurrt, grunzt, räuspert sich, die Bedeutung jeder dieser Äußerungen ist unmissverständlich: Zufriedenheit, Unmut, Ärger, Scham, Rührung, Wut, ja zu einem Sherry oder später auch der Liebe. Das Repertoire seiner ‚grunts’ ist unerschöpflich, die Nuancen frappierend.

 


Wenn er Lust dazu hat, kann der ungehobelte Künstler durchaus eloquent sein, ironisch, sanftmütig, bissig. Ihm gefällt es, seine Mitmenschen zu provozieren, insbesondere die, von sich selbst so eingenommenen Kollegen. Aber Turners wirkliche Leidenschaft bleibt die Arbeit, er will malen, eigentlich nichts Anderes als Malen und nicht kostbare Zeit mit Worten verschwenden. Der Einzige, der ihm nahe steht, dem er immer von ganzen Herzen zugetan war, ist der Vater. Ein Mann aus einfachen Verhältnissen, Barbier und Perückenmacher, der das Talent seines Sohnes früh erkannt und gefördert hat. Der Witwer kümmert sich von Morgens bis Abends um Leinwände, Farben und den Verkauf der Bilder. Die tiefe Zuneigung zwischen den beiden eigentlich so konträren Männern ist rührend, voller Wärme, Verständnis und gegenseitiger Achtung. Sie sind Komplizen, was die Geheimnisse der Kunst betrifft, auch während sie sich am Küchentisch über den Schweinskopf hermachen. In solchen Moment zeigt sich die Zerbrechlichkeit, Sensibilität, Einsamkeit des nach außen hin so grantigen Rüpels. Er attackiert die Leinwand wie ein Berserker, manchmal nimmt er den Pinsel in die Faust, er spuckt auf die Bilder, benützt mysteriöse Ingredienzien, um jene nebulösen Effekte zu kreieren. Zwei Jahre lang nahm Timothy Spall („Harry Potter”, „The King’s Speech”) Malunterricht um Turners Stil perfekt imitieren zu können. Er spielt die Rolle mit sichtlichem Genuss und aus tiefster Überzeugung. Ein Protagonist in der Tradition von Charles Dickens, aber komplexer, anarchischer. Ein Vulkan von Kreativität, es brodelt in ihm, er scheint immer kurz davor zu implodieren. In Cannes wurde Spall mit dem Darstellerpreis ausgezeichnet.

 


William Turner und Mike Leigh haben vieles gemeinsam, nicht nur die Vorbehalte gegen den Kulturbetrieb und Journalisten: sie sind kompromisslos, entschlossen, nehmen sich die Freiheiten, die sie brauchen. Und so beruht nicht alles auf Fakten, was sich auf der Leinwand zuträgt. Doch grade das, was dem Zuschauer absurd oder unvorstellbar scheinen mag, ist verbürgt. Die ‚grunts’ und das Spucken auf jeden Fall. Der Regisseur zusammen mit Kameramann Dick Pope versetzt uns in jene Epoche der industriellen Revolutionen und gesellschaftlichen Umbruchs. Wir beginnen die Welt mit den Augen Turners neu zu entdecken. Der Künstler löste sich immer mehr von der Gegenständlichkeit der Darstellung. Wenn er auch anfangs die Landschaften nach der Natur malte, so stellte er sie als Bühne dar, wo Stürme oder Gewitter tobten. Die Bilder werden düsterer, die Unwetter bedrohlicher, das Licht in der Mitte des Bildes geschluckt. Die Landschaft scheint im Inferno der entfesselten Naturgewalten zu verschwinden. Turner projiziert seine Gefühlte in sie hinein. Die Gemälde werden zu Assoziationsflächen für den Betrachter. Am Ende bleiben nur Farbe, Helligkeit und Schatten,- lange vor dem Beginn der Abstrakten Malerei. In vielen Einstellungen orientiert sich der Kameramann an den Gemälden des radikalen Visionärs. Der Film und sein Protagonist leben von den Gegensätzen, dem Kontrast und Miteinander von Schrecken und Schönheit. „Er malt aus dem Bauch heraus,” sagt Mike Leigh über Turner. Und genauso hält er es selbst, hier wird nichts analysiert, nur beobachtet, nie gewertet. Unvorstellbar, dass auch dieser Film des britischen Autorenfilmers wieder auf Improvisation beruht. Resultat: Ein Meisterwerk.

 


Turner hat viele Bewunderer, zu denen auch sein Mäzen, der Earl of Egremont (Patrick Godfrey) zählt. Der Maler ist ein häufiger Gast auf dessen Anwesen, in Petworth House. Dort debattiert er mit anderen Künstlern oder fertigt Skizzen gesellschaftlicher Abende an. Mit geübtem Scharfblick illustriert Mike Leigh die Klassenunterschiede der viktorianischen Ära, das Elend der Armen wie auch den Luxus des Adels. Er nimmt sich Zeit für die verschiedenen Milieus, mehr als einst Lucchino Visconti in „Der Leopard” (1963). Der Regisseur fühlt sich keiner stringenten Handlung verpflichtet, so dass er jede Episode gestalten kann, als wäre sie das Zentrum des Films. Fasziniert von den Nuancen des Lichts reist Turner mit einem Dampfschiff nach Margate, einer kleinen Küstenstadt im Südosten des Landes. Ein altes Sprichwort besagt, dass dort in England als erstes die Sonne auf geht. Unter dem Namen „Mr. Mallard” steigt Turner bei Mr. Booth (Karl Johnson) und seiner Frau Sophia (Marion Bailey) ab. Vom Zimmer im oberen Stockwerk hat Turner einen überwältigenden Blick aufs Meer. Kurz vor der jährlichen Ausstellung der Royal Academy genießt der sonst so ungesellige Exzentriker die scherzhaft-freundlichen Geplänkel mit den Kollegen. Sein Gemälde „Helvoetsluys – the City of Utrecht, 64, Going to Sea” das in gedämpftem Grau und Blau gehalten ist, hängt neben dem Werk „Opening of Waterloo Bridge” seines Rivalen John Constable (James Fleet), in dem Rottöne dominieren. Mit dem ihm eigenen Humor malt Turner vor den Augen der Anderen einen großen roten Farbklecks in die Mitte seines Seestücks. Die Umstehenden sind entsetzt, dass er ein wahres Meisterwerk vorsätzlich ruiniert hat. Mit untrügerischem Gefühl für Timing wartet Turner, um dann wie durch einen Zaubertrick den Klecks in eine Boje zu verwandeln. So lenkt er geschickt die Aufmerksamkeit der Fachwelt auf sein Bild. „Er war hier und hat sein Gewehr abgefeuert,” kommentiert Constable den Affront seines Konkurrenten.

 


Der Tod des Vaters stürzt den Künstler in eine Krise. Doch er, der nie wirklich tiefe Gefühle für eine Frau empfunden hat, verliebt sich nun in die mittlerweile verwitwete warmherzige Mrs. Booth. Niemand in London weiß von der Beziehung, auch nicht Dorothy, jene alte von Ekzemen entstellte Haushälterin, die ihren Dienstherrn vergöttert. Während der Kunstkritiker Ruskin (Joshua McGuire) beeindruckt ist von Turners Modernität, stoßen die immer weniger gegenständlichen Bilder auf das Unverständnis der Zeitgenossen. Sie verspotten die Gemälde als Lebensmittelkleckereien oder attestieren dem visionären Genie aufkommenden Wahnsinn. Queen Victoria nennt eines seiner Bilder „abscheulich”, „schmutziges gelbes Geschmiere”. Betroffen muss Turner in einem Theater miterleben, wie die Kunsthändler und Käufer seiner Bilder auf der Bühne lächerlich gemacht werden. Als ihm der Millionär Joseph Gillot (Peter Wight) anbietet, sein Gesamtwerk für 1000.000 Pfund zu kaufen, lehnt der Künstler ab. Er möchte sein Werk der britischen Nation vermachen, damit alle seine Bilder zusammen ausgestellt werden können. Öffentlich zugänglich und kostenfrei. Der exzentrische Rebell zieht sich mehr und mehr aus dem Gesellschaftsleben zurück, verbringt diese Jahre glücklich mit Mrs. Booth in einem kleinen Häuschen in Chelsea an der Themse. Turners letzte Worte bevor er stirbt, sind: „Die Sonne ist Gott”. Heute erzielen die Werke des britischen Meisters auf Auktionen immer wieder Rekordpreise, das Höchstgebot für „Guidecca, La Donna della Salute and San Giorgio” 2006 bei Christie`s in New York: 35,8 Millionen Dollar. Bei Sotheby’s in London ersteigerte das Getty Museum, Los Angeles „Moderne Rome – Campo Vaccino” für 44,9 Millionen US-Dollar. Mike Leigh jedoch musste viele Jahre warten, bis die Finanzierung seines Films gesichert war.

 

 

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Originaltitel: Mr. Turner
Regie/Buch: Mike Leigh
Darsteller: Timothy Spall, Paul Jesson, Dorothy Atkinson
Produktionsland: Großbritannien, 2014
Länge: 150 Minuten
Kinostart: 6. November 2014
Verleih: Prokino Filmverleih


Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright Prokino Filmverleih / Simon Mein/Thin Man Films

 
Ergänzend: KulturPort-Beitrag zu William Turner, der Maler der Elemente

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