Film
Marion Cotillard, internationaler Kinostar („Inception”, „The Dark Knight Rises”) und Oscar-Preisträgerin („La vie en rose”) geht völlig in der Rolle der Sandra auf. Vergessen das Glamourgirl, das Gesicht des exklusiven Modelabels Dior, dies ist eine unsichere, ängstliche junge Frau, Mutter von zwei Kindern. Die Depressionen, die sie Monate hindurch quälten, sind überwunden. Viel zu lange war sie schon krankgeschrieben, nun will sie endlich zurück an ihren Arbeitsplatz, eine Fabrik zur Herstellung von Solarmodulen. Die Familie braucht das Geld. Doch der Geschäftsführer des Unternehmens hat seine 16 Angestellten vor eine infame Entscheidung gestellt: Falls sie auf ihre jährliche Prämie von 1.000 Euro verzichten, darf Sandra ihren Arbeitsplatz behalten, sonst nicht. Nur zwei Kollegen stimmen für sie.

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Die Wahl war nicht geheim. Der Vorarbeiter hat seine Leute unter Druck gesetzt. Eine Freundin überredet die niedergeschlagene, völlig mutlose Sandra, eine neue, dieses Mal geheime Wahl zu fordern. Der Chef willigt ein. Es ist Freitagabend, bis Montag früh hat sie Zeit die Kollegen davon zu überzeugen, ihretwegen auf den Bonus zu verzichten. Die Protagonistin schluckt Xanax, eine Tablette nach der Anderen, die Angst bleibt, wird immer unerträglicher. Sandra will sich nur in ihrem Bett verkriechen, niemanden sehen, nichts essen, aber Manu, ihr Ehemann (Fabrizio Rongione) drängt darauf: sie muss sich wehren, darf nicht aufgeben, sonst ist alles umsonst gewesen. Und das weiß Sandra auch, sie selbst war nur zu erleichtert nicht mehr von staatlicher Wohlfahrt und Sozialwohnung abhängig zu sein, doch ohne ihr Gehalt werden die Hypothekenzahlungen unmöglich. Der Druck, die Verantwortung, treibt sie an den Rand der Verzweiflung. Mit großer Geduld beruhigt Manu seine Frau, er lässt nicht locker. Sie soll mit allen Kollegen sprechen, nicht am Telefon, nein persönlich. Solidarität beginnt bei den Brüdern Dardennes in der Familie. Auch die Kinder ziehen mit, suchen am Computer die notwendigen Adressen, Telefonnummern raus. Angst überträgt sich wie ein Virus, wird die Mutter wieder krank? Ihre Bezugsperson ist der Vater geworden, er muss immer der Überlegende, Ausgeglichene sein, sonst bricht alles zusammen. Sandra, in diesem Moment dem Zuschauer nicht unbedingt sympathisch, quengelt, attackiert den Ehemann, zweifelt an seiner Zuneigung, misstraut ihm, am meisten aber wohl sich selbst.

Die Dardennes sind Meister des Minimalismus und so auch Marion Cotillard hier. Zurückhaltender könnte sie nicht spielen, denn das ist der Charakter von Sandra. Sie gehört zu den Hunderttausenden von Frauen, schüchtern, etwas verhuscht, von der Doppelbelastung Haushalt, Beruf überfordert, ohne jedes Selbstbewusstsein. Die Gleichberechtigung hat ihnen noch mehr Pflichten aufgebürdet und wenig Privilegien gegönnt. Sie scheinen unsichtbar, auch wenn sie neben uns sitzen in der U-Bahn, im Bus, in die Pedale ihres Fahrrades treten oder auf einem Moped an uns vorbeirasen. Zum eigenen Auto reicht es nicht. Die Arbeit, mag sie noch so profan sein, ist von ungeheurer Bedeutung, gibt sie ihnen doch das Gefühl etwas zu leisten. Haushalt, Familie, das zählt nicht, derlei Aufgaben gelten als selbstverständlich. Die Arbeitslosigkeit zerstört ihr schon ramponiertes Selbstwertgefühl, wirft sie völlig aus der Bahn. Sie glauben nun alles verloren zu haben. Ihr Lachen verstummt, bei manchen für immer. All diesen Frau gibt Marion Cotillard ein Gesicht, eine Stimme. Die französische Schauspielerin verkörpert sie mit der gleichen Intensität wie einst die legendäre Chansonsängerin Édith Piaf oder die Schwertwal-Trainerin Stéphanie in “Der Geschmack von Rost und Knochen”. Dass Sandra überlebt nach ihrem Selbstmordversuch, verdankt sie einer glücklichen Fügung des Schicksals. Oder den Menschen, die sie beschützen, ihr helfen, die eigenen Dämonen zu besiegen.

„Zwei Tage, eine Nacht” ist zuweilen spannend wie ein Thriller und erinnert an Sidney Lumets „Die Zwölf Geschworenen” (1957). Auch hier gilt es ein Urteil zu fällen. Am nächsten Morgen beginnt Sandra mit der ihr verhassten Mission. Sie will kein Mitleid, nur dass die Anderen sich in ihre Situation versetzen. Sie braucht diesen Job. Die Reaktionen sind völlig unterschiedlich, sie reichen von verständnisvoll, ungehalten, verschämt, ablehnend bis brüsk. Manche gehen gar nicht erst an die Tür, andere weinen an ihrer Schulter. Sie bitten um Verzeihung, weil sie sich nicht für sie eingesetzt haben, so wie Sandra es früher für sie getan hat. Diese Menschen haben wirklich wenig Geld, sie brauchen die 1.000 Euro, für die Ausbildung der Kinder, Hausumbau, eine Waschmaschine, den Neuanfang nach der Trennung vom Partner. Sie quälen sich schon mit einem Zweitjob rum, da hat man nichts zu verschenken. Niemand versteht sie besser als die Protagonistin. „Das wirklich Schreckliche ist, dass jeder seine Gründe hat,” soll Jean Renoir einmal gesagt haben. Es sind Begegnungen zwischen Tür und Angel. Wie in einem Roadmovie scheint Sandra immer in Bewegung, im Bus, im Wagen mit dem Ehemann, oder allein zu Fuß. Alles ist ihr fremd, sie fühlt sich als unliebsamer Eindringling, sie stiehlt den Kollegen etwas von der kostbaren Freizeit, die sie mit ihrer Familie verbringen wollen oder ihr Auto reparieren, am Eigenheim werkeln, das Fußballteam des kleinen Sohnes trainieren oder spät Nachts noch im Waschsalon stehen. 17 verschiedene Lebensentwürfe schildern die Dardenne-Brüder. Sie enthalten sich jeglicher moralischen Wertung, führen jede Art von Vorurteilen ad absurdum. Aus den verschiedenen Perspektiven und Episoden entsteht langsam ein Gesamtbild. Sandra leidet Höllenqualen, während sie die Adressen abklappert, aber sie ist mittlerweile entschlossen zu kämpfen, hat begriffen, sie darf nicht aufgeben. Immer wieder bekommt sie zu hören: „Ich würde gerne helfen, aber versetz Dich in meine Lage”. Genau das erwartet Sandra von ihren Kollegen. Ihr Besuch löst oft unerwartet heftige Konflikte aus, Streit, Prügelei, ein Ehekrach, doch es sind zugleich Momente der Befreiung, der Einsicht, der Wahrheit. Die Akteure stehen an einem Scheideweg, sie beginnen langsam den Zynismus eines Systems zu erkennen, dass die Verantwortung für eine Kündigung auf die Belegschaft abwälzt.

Solidarität ist rar geworden in der postkapitalistischen Gesellschaft. Fabrik, Manufaktur sind kein Synonym mehr für proletarische Gesinnung. Die immer gleichen Fragen stellen zu müssen, zermürbt Sandra. Sie glaubt kein Recht zu haben auf den Verzicht des hart verdienten Geldes. Nur was soll sie tun, ihre Existenz steht auf dem Spiel, die Familie, aber auch ihre Würde. Die Kamera (Alain Marcoen) folgt ihr überall hin, ist wie ein zweiter Schatten. Die Distanz zwischen Protagonistin und Zuschauer verschwindet: Wir spüren Sandra, ihr Atem wird schneller, sie schluckt verzweifelt, schafft es manchmal kaum zu antworten, ihre Angst wird unsere. Während der Depression hat sie sich den leicht schlurfenden Gang einer Schwerkranken angewöhnt. Auf ihr Äußeres gibt sie wenig, die leicht fettigen Haare ungelenk mit einem Gummiband zum Pferdeschwanz gebunden, unter den billigen Tops sind die Träger des BHs sichtbar. Die Schultern gebeugt, immer etwas gehetzt, die Grazie eines Models hat sie wahrlich nicht. Marion Cotillards Körpersprache ist unglaublich, jede Geste ein Blick tief ins Sandras Seele: Jenes Telefonat, wo ihr plötzlich die Worte fehlen, sie nicht weitersprechen kann, den Hörer gegen die Brust gedrückt, damit man ihr Schluchzen nicht hört. Diese Szene wird zum Symbol der Ohnmacht des Einzelnen in einer gnadenlosen Ökonomie. Sie wirkt so fragil, einsam, die Scham lässt sie fast ersticken. Wie würden wir uns fühlen an ihrer Stelle? Wie würden wir entscheiden an der Stelle ihrer Kollegen? Im Film siegt mal der sogenannte Egoismus dann wieder das Mitleid. Doch Sandra hält durch, erscheint am Montag zum vereinbarten Termin.

Jean-Pierre und Luc Dardenne drehen ihre Filme in Seraing oder der nahen Umgebung, dort wo sie aufgewachsen sind. Auch ihre Schauspieler kommen meist aus der Gegend. Marion Cotaillard ist eine Ausnahme. Seraing erlangte seine Bedeutung durch Stahlwerke und Maschinenfabriken, Wohn- und Industriegebiet liegen noch heute unmittelbar nebeneinander. Die Idee zu „Zwei Tage, eine Nacht” beschäftigt die Brüder schon seit zehn Jahren. Ihr Humanismus erinnert an die italienischen Neorealisten: Roberto Rosselini, Vittorio de Sica, Giuseppe De Santis. Die Protagonisten stehen immer vor schmerzhaften Entscheidungen. Es sind Menschen, die sich aus ihrer inneren Einsamkeit lösen, durch die Begegnung mit Anderen sich grundlegend verändern. Der Realismus der belgischen Autorenfilmer scheint nur dokumentarisch, doch es geht um die Existenz als solche, die philosophische Dimension so wie in „Prinzip Verantwortung” bei Hans Jonas. Trotz Ausbeutung und Unterdrückung, den Dardennes gelingt es, ihrer Heldin die Würde zurückzugeben, den Lebensmut, die Kraft, die es braucht weiterzukämpfen. Kein Happyend, viel wichtiger ein Moment tiefer Solidarität. Keine Illusionen, keine Sentimentalität, aber das Wissen um Güte bleibt unterschwellig immer spürbar. Wenn im Autoradio laut Van Morrisons „Gloria” spielt, sehen wir Sandra, wie sie früher einmal war, glücklich, wunderschön, verliebt, ein Lachen, das jeden verzaubert. Und wir wissen, so wird sie wieder sein.

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Originaltitel: Deux jours, une nuit
Regie/Drehbuch: Jean-Pierre und Luc Dardenne
Darsteller: Marion Cotillard, Fabrizio Rongione, Pily Groyne, Simon Caudry, Catherine Salée
Produktionsland: Frankreich, Belgien, Italien, 2014
Länge: 95 Minuten
Verleih: Alamode Filmdistribution, Wild Buch Germany
Kinostart: 30. Oktober 2014

Fotos & Trailer: Copyright Wild Buch Germany