Bildende Kunst

Die Ausstellung eröffnet mit Jeff Walls „Cold storage" sowie „Lehmbruck I" und „Lehmbruck II" von Andreas Gursky aus dem Jahr 2013 sowie Neo Rauchs Bronzeplastik „Nachhut". Walls monumentale Schwarz-Weiß-Fotografie zeigt die verwaiste Halle eines ehemaligen Kühlhauses in Vancouver: Betonpfeiler tragen die vereiste Decke, Feuchtigkeit ist auf dem Boden zu Eis gefroren, der Raum ist menschenleer, nur die an einem Pfeiler lehnende Metallstange deutet auf frühere Aktivitäten hin.

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Neo Rauchs knapp zwei Meter hohe, schwarz patinierte Bronzeplastik korrespondiert mit dem Schwarz von Walls Fotografie. Frontal betrachtet ist die Plastik ein Mann, der zwei Benzinkanister trägt. Bekleidet mit kurzer Jacke, unter der eine lange Behaarung hervorquillt, Hose und Militärstiefeln schreitet er voran. Erst von der Seite offenbart sich seine surreal anmutende Gestalt: Ein Wolf oder ein Hund mit zotteligem Fell, langem Schwanz und Männerkörper? Ein Pseudo-Kentaur? Das Ungetüm mit dem menschlichen Körper und dem tierischen Hinterteil trägt den rätselhaften Namen „Nachhut". Laut Duden ein „Truppenteil, der die Truppe beim Rückmarsch nach hinten (gegen den Gegner) sichert".

Wer das Lehmbruck-Museum in Duisburg kennt, erinnert sich an das gläserne Atrium. Dank digitaler Fotomontage inszeniert Gursky in zwei etwa 250 mal 350 Zentimeter großen Tableaus den Raum im Duisburger Museum als Ansammlung zeitgenössischer Kunst. Gerhard Richter, Alexander Calder, Duane Hanson sind ebenso vertreten wie Skulpturen von Wilhelm Lehmbruck. In „Lehmbruck I" dient das Atrium als Spielfläche für die Plastiken „Nachhut" von Rauch, Jeff Koons „Metallic Venus", „Riese", ein Mann mit Lendenschurz und Keule von Katharina Fritsch sowie einem Dia-Leuchtkasten von Jeff Wall. Bei „Lehmbruck II" dominiert der in Formaldehyd eingelegte Tigerhai von Damien Hirst.

Liebhabern von Andreas Gurskys Fotokunst dürften seine älteren Fotoarbeiten bekannt sein, darunter „F1 Boxenstopp I", „Nha Trang" oder „V&R". In diesen großformatigen, am Computer generierten Bildmontagen sind Menschen Teil einer Masse, unbedeutende Statisten im Bilderkosmos des Düsseldorfer Künstlers. Egal ob bei den Models auf dem Laufsteg, den Mechanikern beim Boxenstopp des Formel-Eins-Rennens oder den Korbflechterinnen in Vietnam, der Mensch bleibt ein anonymes Individuum.

Um so mehr überraschen seine Arbeiten von 2013 und 2014. Hier sind die Protagonisten identifizierbar: Tobey Maguire, Spiderman und Iron Man. Der Hermès-Tower in Tokio, entworfen von Renzo Piano, dominiert mit seiner Glasfassade das über drei Meter hohe Fotobild „SH I". Am Fuß des Hochhauses, steht in einem beleuchteten Schaufenster der US-Filmschauspieler Tobey Maguire und grüßt Spiderman, sein außerhalb des Towers stehendes Film-Alter Ego. Ein kitschiges Panorama mit Palmen, Sand und Meer vermittelt Urlaubsflair „SH IV". Der stählerne Superheld Iron Man umarmt am Strand eine Frau. Spiderman und Iron Man: Comic-Helden, die jeder kennt. Was allerdings dem Superstar der Fotokunst Ärger einbrachte, denn die Comic-Figuren sind in Amerika urheberrechtlich geschützt. Die beiden Fotoarbeiten sind zwar in der Schau präsent und im Katalog abgebildet, dürfen aber nicht fotografiert werden, da sonst das Copyright missachtet wird.

Wie bei Andreas Gursky sind auch die Fotoarbeiten von Jeff Wall nicht der Realität verpflichtet. „Was ich an meinen Bildern mag, ist, dass es nur so aussieht, als seien sie real. [...] Man spürt, dass das, was man sieht, nicht deckungsgleich ist mit der Wahrheit. Nicht vollkommen", erklärt der Kanadier im Mai 2003 in einem Interview mit Holger Liebs. Walls Fotografien, die auf den ersten Blick wie Dokumentar- oder Street-Fotografie aussehen, sind perfekt inszenierte Kompositionen. Nichts hat der Fotograf dem Zufall überlassen. Jedes Detail, jedes ikonographische Accessoire ist sorgfältig ausgewählt. Aus dem Fundus der Kunstgeschichte schöpft er reichlich. Er zitiert Caravaggio oder die Alten Meister, spielt er mit Symbolik und Licht. Lichtquellen fokussieren den Blick des Betrachters auf die Protagonisten, das Interieur, Häuserfassaden, Straßenszenen. Zwei Männer tragen in „Men move an engine block" einen alten Motorblock – eingehüllt in ein Tuch – in die Garage. Das Bildmotiv interpretiert Veit Görner als Grablegung Christi: Nach der Kreuzabnahme wird Christus in ein Tuch gebettet und von den Jüngern in sein Grab getragen. Ein tradiertes Motiv, das, sei es bei Caravaggio, Michelangelo oder den altniederländischen Meistern, in der christlichen Malerei eine zentrale Rolle spielt. In „Tenants" von 2007 hat Wall die Tristesse einer amerikanischen Kleinstadt eingefangen. Vor heruntergekommenen Reihenhäusern sitzen die Bewohner zwischen Autos, altem Hausrat und Kartons. In dem Portrait „Young man wet with rain" posiert ein junger Mann, vom Regen durchnässt, in Mütze, Jacke, Jeans und Sneakers vor einer Hauswand.

Der Leipziger Maler Neo Rauch ist der dritte Star dieser Ausstellung. Rauch, der Künstler der Neuen Leipziger Schule, ist mit kolorierten Zeichnungen und zwei Skulpturen vertreten. Neben seiner Plastik „Nachhut" steht in einem anderen Ausstellungsraum die über zwei Meter hohe Bronze „Die Jägerin", eine Skulptur von rätselhafter Symbolik. Die füllige Dame mit den strammen Waden trägt auf ihrem rechten Oberarm eine silberne Eule und um den Hals – sozusagen als Trophäe – fünf Männerköpfe. Eine Eule als abgerichteter Jagdvogel? Zugegeben, die Eule ist ein nachtaktives Tier, aber was jagt und erlegt die junge Frau in der Nacht? Männer?

Im Gegensatz zu Rauchs teils abstrakt teils figurativ komponierten Malereien, sind die Zeichnungen der Jahre 2011 bis 2013 eher spontan zu Papier gebracht worden. Über 30, auf DIN A4 Papier gezeichnete Bilder werden erstmals in einer Ausstellung gezeigt. Sie erzählen oft skurrile Geschichten von Paaren, Figurengruppen, Helden, Flugzeugen und Fabelwesen, traumartigen Visionen.
„[...] Es ist keine Ausstellung, die irgendein Thema hat – sondern es ist ein visuelles Experiment, das drei herausragende Vertreter der Figuration zusammenbringt", erklärt der Kurator Heinrich Dietz die Schau.

Veit Görner, Direktor der Kestnergesellschaft Hannover, hat sich mit der Ausstellung „andreas gursky | neo rauch | jeff wall" einen Traum erfüllt. Seit Jahrzehnten ist er mit den drei Künstlern befreundet, immer wollte er mit ihnen gemeinsam eine Ausstellung in Hannover machen. Vor seinem Ruhestand im nächsten Jahr ist ihm das gelungen.
Ein würdiges Abschiedsgeschenk für den scheidenden Direktor. Und, für die Besucher eine spektakuläre, überaus sehenswerte Schau.

Zu sehen bis zum 26. Oktober 2014 in der Kestner Gesellschaft Hannover, Goseriede 11, 30159 Hannover.
Öffnungszeiten: Täglich und an Feiertagen 11-18 Uhr, Donnerstag 11-20 Uhr, Montag geschlossen
Ein Katalog ist erschienen.
Parallel zu dieser Ausstellung werden im Obergeschoss der Kestnergesellschaft Malereien der Amerikanerin Dana Schutz ausgestellt.

www.kestnergesellschaft.de


Abbildungsnachweis:
Header: Motiv des Ausstellungsplakats
Galerie:
01. Jeff Wall; Figures on a sidewalk, 2008, Farbfotografie, 165x134 cm. Courtesy: der Künstler
02. Jeff Wall; Cold storage, 2007, Silbergelatine-Abzug, 258,8x319 cm. Courtesy: der Künstler
03. Blick in die Ausstellung. Foto: Christel Busch
04. Jeff Wall; Men move an engine block, 2008, Silbergelatine-Abzug, 138,5x176,5 cm. Courtesy: der Künstler
05. Jeff Wall; Young man wet with rain, 2011, Silbergelatine-Abzug, 149,6x275,2 cm. Courtesy: der Künstler
06. Neo Rauch; Nachhut, 2011, Bronze, schwarz patiniert, 193x95x175 cm. Courtesy Galerie EIGEN + ART Leipzig/Berlin, David Zwirner, New York/London. Foto: Uwe Walter, Berlin
07. Neo Rauch; Jägerin, 2011, Bronze. 227x103x70 cm. © VG Bild-Kunst, Bonn 2014. Courtesy Galerie EIGEN + ART Leipzig/Berlin, David Zwirner, New York/London. Foto: Uwe Walter, Berlin
08. Neo Rauch; Flugzeugträger, 2012, Tuschestift, Filzstift, Buntstift auf Papier, 29,6x21 cm. Privatsammlung. © VG Bild-Kunst, Bonn 2014. Courtesy Galerie EIGEN + ART Leipzig/Berlin, David Zwirner, New York/London., Foto: Uwe Walter, Berlin
09. Neo Rauch; Schach, 2012, Tuschestift, Filzstift auf Papier, 21x29,6 cm. Privatsammlung. © VG Bild-Kunst, Bonn 2014. Courtesy Galerie EIGEN + ART Leipzig/Berlin, David Zwirner, New York/London. Foto: Uwe Walter, Berlin
10. Blick in die Ausstellung von Dana Schultz. Foto: Christel Busch.